IX.
Seltsame Geschichten mit den Juden Beifuß und Auerbach. Verzückung in Jean Pauls Titan.

[218] Während ich mich in so mannichfaltigen Beschäftigungen umherwarf, fing eine Veränderung meiner ganzen Sinnesart sehr allmälig an, mich zunächst kaum unbewußt zu durchdringen. Es war die Einwirkung Schleiermacher's. Schon hatte ich ihn als Uebersetzer Platon's, als Philosophen, als Prediger zu bewundern angefangen. Nun sollte ich ihn auch als akademischen Docenten kennen lernen. Die Exegese der Paulinischen Briefe war mir etwas ganz Neues. Die Sprachkenntniß und der kritische Scharfsinn Schleiermacher's interessirten mich, allein im Ganzen ließ mich das Collegium kalt. Das über theologische Moral hingegen riß mich je länger je mehr hin. Ich hatte geglaubt, mich gut auf dasselbe vorzubereiten, wenn ich noch in den Ferien Schleiermacher's Grundlinien zur Kritik aller bisherigen Sittenlehre durchmachte. Schon der Titel dieses Buches versprach eine ganz andere Ethik, als sie bis auf Schleiermacher existirt hatte. Ich gestehe, daß das Buch dieser Erwartung leider nicht entsprach. Ich maß die Schuld jedoch mir zu, weil ich zu wenig Kenntniß von den Philosophemen besaß, über welche Schleiermacher urtheilte. Für die des Alterthums war ich noch ungefähr orientirt; allein für die englischen Moralisten, auf welche Schleiermacher weitläufiger eingeht, für Kant und Fichte, war ich ohne festen Anhalt. Am besten verstand ich noch die letzte Abhandlung, worin Schleiermacher den Unterschied eines systematischen und tumultuarischen Verfahrens auseinandersetzt.

Ich überzeugte mich bald, daß das Collegium ganz unabhängig von dieser Kritik durch sich selbst verstanden werden konnte. Schleiermacher's[219] Verfahren war ein Gemisch von constructiver und heuristischer Methode. Das Heuristische überwog der Form nach in allen Detailuntersuchungen, aber dem Ganzen lag ein voraus bestimmender Plan zu Grunde. Es wurde eine Definition gegeben, dann eine Eintheilung gemacht, hierauf ein Kanon abgestellt, der als Maaß für alle besonderen Bestimmungen gelten sollte, die unter einen allgemeinen Begriff subsumirt werden durften. Dann wurde gefragt, wie das Ganze auf das Einzelne, und umgekehrt, wie das Einzelne auf das Ganze wirke. Bei der Analyse der Wirksamkeit wurde einmal die extensive, dann die intensive Seite durchgenommen. Schließlich wurde die Continuität eines specifischen Processes innerhalb eines andern erforscht und die Grenze gesucht, wo er erlösche. Dieser Schematismus war nicht schwer zu fassen. Für einen Studenten ist es aber äußerst vortheilhaft, mit solchen Kategorien bekannt und in ihrer Anwendung geübt zu werden. Die Anregung, welche Schleiermacher dadurch unserem Denken gab, war außerordentlich. Bei der Hegel'schen Dialektik, wie ich sie von Herrn von Henning vortragen hörte, fand ich meine Selbstthätigkeit ausgeschlossen. Wenn die Qualität in die Quantität, wenn das Wesen in die Erscheinung, wenn das Allgemeine in das Besondere überging, so blieb ich zur Rolle eines passiven Nachdenkers verurtheilt. Hier wurde ich selber mit herangezogen. Die Frage, was für ein Kanon sich wohl für irgend ein Gebiet werde finden lassen; die Frage, wo ein gewisser Proceß anfange, wo er culminire und wo er endige; die Frage, ob und wo eine Thätigkeit in eine andere übergehe, die Entdeckung der Schwierigkeiten, die sich bei solchen Analysen entgegenwerfen, die Versuche, sie zu beseitigen – das Alles versetzte uns Zuhörer in den lebhaftesten Antheil und forderte uns heraus, auch selber auf die Lösung bedacht zu sein. Jedenfalls lag diese Methode meinem damaligen Bildungspunkt unendlich näher, als die feierliche Objectivität der Hegel'schen Dialektik, die mir oft unbegreiflich war, wenn sich auch die Wahrheit ihrer Kategorien bei mir unvermerkt einschmeichelte und befestigte. Zu einer wirklich kritischen Vergleichung des einen und des andern Verfahrens war ich natürlich noch ganz unfähig und dachte um so weniger daran, als sich zu ihm noch das intuitive Verfahren von Steffens gesellte, den man wohl als die personificirte intellectuelle Anschauung[220] des Schelling'schen Systems betrachten kann. Ein Student weiß gar nicht, was mit ihm Tag für Tag, Stunde für Stunde in seinem Bewußtsein vorgeht. Er lebt im Genuß der interessanten Gegenwart. Er freut sich der großen Unterschiede, die sich in der Lehre der Wissenschaft für ihn aufthun, allein erst nach und nach, erst wenn sich die neue Gestalt des Bewußtseins, in die er mit sorgloser Hingebung eintritt, zu verdichten, erst wenn sie ihm Verlegenheiten zu bereiten anfängt, kommt er dazu, ihre Bedeutung zu ahnen. Schleiermacher sprach nicht poetisch, nicht pathetisch, wie Steffens, aber wie er so da saß, den Kopf gewöhnlich durch die eine Hand stützend, vor sich nur Papiere mit den Hauptsätzen, alles Uebrige aber erst im Augenblick aus freiem Denken schaffend, immerfort arbeitend, immerfort klar und anmuthig redend, war er ein Lehrer von unvergleichlicher Kraft und Würde, dem der treffende Ausdruck nie versagte. Nicht selten wurde er geradezu trocken; da wir aber jeden Sonntag uns überzeugen konnten, welcher gewaltigen Beredtsamkeit er fähig war, so rechneten wir es ihm zum Verdienst, den didaktischen Styl des Katheders nicht, wie es von Steffens geschah, mit den Effecten der Beredtsamkeit zu vermischen.

Das Collegium, welches ich unter dem Titel theologische Moral hörte, ist von Jonas unter dem Titel: Christliche Sitte, herausgegeben. Da auch Schleiermacher's philosophische Ethik durch Schweizer veröffentlicht ist, so kann man jetzt wohl erkennen, wie er die Principien von dieser auf jene übertragen hat, denn es ist nicht zweifelhaft, daß, was er hier das organische Handeln nennt, dort zum wirksamen, und, was hier als symbolisirendes auftritt, dort zum darstellenden wurde. Es geht aus den Mittheilungen von Jonas hervor, daß er mit der Stellung des reinigenden Handelns vielfach geschwankt hat. Als ich die Moral hörte, theilte er jedoch schon das wirksame Handeln in das reinigende und verbreitende, oder, wie er auch sagte, erweiternde. Die philosophische Sittenlehre habe ich nach ihrem Erscheinen ausführlich in den Berliner Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik 1836 beurtheilt und von der theologischen will ich nur so weit sprechen, als sie sich auf den Gang meiner Bildung bezieht. Ich wurde durch sie nicht nur, was die Form, sondern auch was den Inhalt betrifft, in eine ganz neue Welt versetzt. Da Schleiermacher überall die Einwirkung der[221] christlichen Sitte auf die volksthümliche untersucht, so wurde seine Ethik zu einer Kritik der in Europa herrschenden bürgerlichen und politischen Verfassung der Völker. Wie wurden wir überrascht, wenn plötzlich aus dem reinigenden oder verbreitenden Handeln eine brennende Frage der Gegenwart hervorsprang, z.B. über die Erlaubtheit der Todesstrafe, über das Recht der Intervention in einem andern Staat u. dgl.! Gar Manches kam mir sonderbar, ja gezwungen vor, wie wenn die Ehe oder das System der Tugenden, der Besonnenheit und Beharrlichkeit, der Langmuth und Demuth zum darstellenden Handeln gemacht wurde. Eben deshalb aber fing es an, mein Nachdenken zu beschäftigen. Wie Kant in seiner Tugendlehre jedem Capitel casuistische Fragen anhängt, so kamen auch bei Schleiermacher viele Probleme vor, die er unentschieden ließ und dem Forum des eigenen Gewissens überwies, z.B. ob ein Christ Aequilibrist werden dürfe.

Die nächste Wirkung der Schleiermacher'schen Kategorien war, daß ich sie in meinem eigenen Handeln zu entdecken suchte. Je mehr ich aber suchte, desto weniger fand ich. Die weitere Wirkung gegen Ende des Semesters war daher der Zweifel, ob ich überhaupt bis dahin ein Christ gewesen sei? Ich war zwar getauft, ich war im Christenthum unterrichtet, confirmirt, ich war zum Abendmahl gegangen und hatte viele Predigten gehört, aber ich hatte nie daran gedacht, mein Handeln zu einem specifisch christlichen zu machen. In meiner Erziehung war immer nur von Tugend überhaupt, nicht aber von christlicher Tugend, von Sitte überhaupt, was sich schicke oder nicht schicke, nicht aber von christlicher Sitte die Rede gewesen. Als ich auf Tertia saß, gelangte ich zuerst zu einem gewissen Bewußtsein über meine Untugenden und über die Versuchungen, aus denen sie entsprangen. Ich fiel daher auf den Gedanken, einen ganz individuellen Dekalog für mich auszusinnen. Es war nicht schwer, den nöthigen Vorrath zu zehn Lastern zu finden, die mir Gefahr drohten. Ich schrieb sie mit römischer Zifferbezeichnung auf ein Quartblatt von Velinpapier. Dies legte ich in einen schönen, mit eingepreßten Figuren und Golddecoration verzierten Lederkasten, der von einem verbrauchten Reißzeuge herrührte und inwendig mit rothem Tuch ausgeschlagen war. Er schien mir würdig, eine Bundeslade für meine Gesetzestafel zu bilden und ich verwahrte ihn in einem Schubfach[222] meines Pultes, ihn vor profanen Augen zu schützen. Jeden Sonntag früh nahm ich ihn heraus, las die Gesetze durch und prüfte mich über mein Verhalten zu ihnen. Manchmal war ich recht pharisäisch mit mir zufrieden, häufiger aber mußte ich erröthen, bald gegen diese, bald gegen jene Regel verstoßen zu haben. Dann bat ich Gott um Verzeihung und faßte den aufrichtigen Vorsatz der Besserung. Dies heimliche Judenthum cultivirte ich ungefähr zwei Jahre hindurch. Während dieser Zeit hatte ich mich jedoch sehr verändert. Neue Versuchungen waren entstanden, neue Fehler hatten sich eingeschlichen; manche Unsitte schien überwunden. Ich hätte also meinen Dekalog verändern, vielleicht erweitern müssen. Die Romantik, in die ich nun schon hineingerathen war, endigte die Reflexion mit der Verwerfung des ganzen Instituts als eines philiströsen Pedantismus. Ich verbrannte meine Gesetztafel. Ich verfiel nun darauf, im Gegensatz gegen die moralische Kleinmeisterei, mit welcher ich mich controlirt hatte, mich einem recht unbestimmten Ideal von Größe der Seele, Hoheit der Gesinnung, Adel des Herzens und wie ich es sonst benennen mochte, hinzugeben. So erhob ich mich gemach zu dem Dünkel, mich sogar für besser als viele der Alltagsmenschen zu halten. Diese romantische Vornehmheit spiegelte sich in den Elegieen, deren ich oben Erwähnung gethan habe.

In dieser Verfassung kam ich nach Berlin. Hier beschäftigten mich anfänglich tausend neue Eindrücke so lebhaft, daß ich an mich selbst wenig dachte, was eigentlich immer ein glückseliger Standpunkt ist. Ich hielt mich im Allgemeinen für einen guten Menschen, war ganz in die vielen interessanten Gegenstände, die auf mich eindrangen, verloren und ließ mich mit heiterem Sinn gehen. Gerade diese Sorglosigkeit war es, die mich disponirte, in unüberlegter Weise zu handeln und Dummheiten zu begehen, die zuweilen recht schlimm hätten auslaufen können. Da ich aber schon glücklich war, mit der Angst über den Ausgang davon zu kommen, so vergaß ich sie bald wieder und verfehlte nicht, nächstens in andere zu verfallen. Es war nicht Bosheit, aber es war Uebermuth, Ausgelassenheit, Mangel an Umsicht, vorschnelles Zutrauen zu meiner Kraft, verkehrte Aufopferung für Andere. Ich hatte z.B. einst für meinen Vater sechshundert Thaler in Berlin einzuziehen. Ich that dies, schickte ihm aber das Papiergeld in einem[223] Briefe ohne Werthangabe. Andern Tages fiel mir ein, daß ich gar keinen Beweis in Händen hatte, den Auftrag ausgeführt zu haben. Ich schrieb in höchster Unruhe an meine Schwester, mir Nachricht zu geben, ob mein Brief angekommen sei. Er war angekommen. Da mein Vater das Geld empfangen hatte, so war er zufriedengestellt gewesen und hatte nicht einmal daran gedacht, mir Vorwürfe über mein leichtfertiges Verfahren zu machen. – Eines Abends war ich in lustiger Gesellschaft eine Wette eingegangen, als Dame verkleidet in den Straßen zu spazieren. Unter großem Jubel staffirte man mich aus. Ich ging in der tollen Laune des Augenblicks, allein bis heute kann ich die Marter nicht vergessen, welche diese Dummheit mir verursachte, als ich, nachdem ich mich ernüchtert hatte, in dem Menschengewühl der Neuen Königsstraße hinschritt und jeden Augenblick schon wegen meiner alle Frauenzimmer überragenden Größe von einem Polizeicommissär als verdächtig angehalten zu werden fürchtete.

Man kann sich vorstellen, wie auf einen jungen Menschen, der mit zwanzig Jahren noch so viel Unbesonnenheit verband, der sittliche Ernst eines Schleiermacher einwirken mußte. So rasch jedoch ging es nicht mit mir, denn obschon ich guten Willen entgegenbrachte, so wurde ich doch durch die Arbeit über Heinrich VII., dann durch Steffens Naturphilosophie, dann durch die Arbeit über die Renaissance von einer Vertiefung in Schleiermacher's Ideen noch abgehalten. Erst in den Ferien, als ich dazu kam, die Moral in ihrem Zusammenhange zu wiederholen, spürte ich ihre Kraft. Der theoretische Affect, der mich durch das Collegium begleitet hatte, schlug in den Versuch praktischer Bewahrung um. Ich fand hier allerdings eine große Schwierigkeit. Schleiermacher ging auch in der Ethik vom Gefühl aus. Lust und Unlust oder deren Indifferenz wurden die Factoren, die Alles in Bewegung setzten. Die Unlust z.B. am Nichtchristlichen wurde als Princip des reformatorischen, oder, wie Schleiermacher sagte, reinigenden Handelns aufgestellt. Worin bestand denn aber das Christliche selber? Hier wurde, namentlich in allen casuistischen Fragen, das Zurückgehen auf die Vorstellung Christi empfohlen. Ich hatte nichts dagegen; allein die Vorstellung Christi im Allgemeinen reichte doch für den besonderen Fall noch nicht aus. Es mußte in seinem Leben die Weisung, die[224] Parabel, das Begegniß aufgesucht werden, welches Aufschluß gewähren konnte. Directe Auskunft war aber oft unmöglich. Es mußte also die indirecte, die Vermittelung, die Ableitung eintreten.

Ich hielt nun für das Gerathenste, mir alle vorzüglichen Schriften Schleiermacher's anzuschaffen und die Ferien auf ihr Studium zu verwenden. Zuerst las ich die Monologe. Sie sind eigentlich ein Lehrgedicht in fünffüßigen Jamben. Ihre Wirkung auf mich war unbeschreiblich. Sie entrückten mich auf eine schwindelnde Höhe. Ihren Betonung der eigenen Kraft, ihr Cultus der Individualität, ihr Preis der Phantasie als einer Göttergabe, von welcher so wenig Menschen den rechten Gebrauch zu machen wüßten, ihre Gleichgültigkeit gegen die Altersstufen im Verhältniß zur ewigen Jugend des Geistes, ihre Unersättlichkeit in der Aneigung des Universums, ihre sittliche Vornehmheit, dies Alles war meinem damaligen Zustand höchst willkommen. Ich erhob mich zu einer idealen Ungebundenheit, die sich in Schleiermacher's Worte zusammen faßte, worin er mit Verachtung der herkömmlichen Moral ausruft:

Was sie Gewissen nennen, kenn' ich nicht mehr!

Die Reden über die Religion, deren Lectüre der der Monologe folgte, thaten diesem Standpunkt ethischer Genialität keinen Abbruch. Das Princip der Individualität war auch in ihnen der Ausgang, die Anschauung des Universums das Ziel. Das war eine ganz an dere Religionsphilosophie, als die des Herrn von Kayserling, die mir sehr herabstimmend stets nur die Bedingtheit, Endlichkeit der menschlichen Natur vorgehalten hatte. Schleiermacher schien mir die Entstehung der Religion wie der Religionen in ihrem innersten Geheimniß belauscht zu haben. Und welch' eine edle philosophische und doch auch poetische Sprache! Es kam mir vor, als hätte ich noch nie gewußt, was Religion sei und als erführe ich es zum ersten Mal durch einen ihrer Propheten. Ich hatte die Religion nie verachtet, konnte mich also nicht zu den Gebildeten unter ihren Verächtern zählen, an welche Schleiermacher seine Reden gerichtet hatte. Alles aber, was er gegen die Aufklärung sagte, welche in Allem, auch in der Religion, nur die beschränkten Zwecke einer egoistischen Nützlichkeit verfolge, war mir aus der Seele gesprochen. Die Verwechselung des Eudämonismus mit der göttlichen[225] Seligkeit lag schon hinter mir. Ich dürstete danach, wie Schleiermacher es ausdrückt, ewig zu sein in jedem Moment.

Den Reden folgte die kurze Darstellung des theologischen Studiums. Sie wurde mir, trotz ihrer meisterhaften Fassung, schwer und ich nahm auch schon an manchen Begriffen Anstoß, z.B. an der Aufstellung eines theologischen Ideals als eines Kirchenfürsten, worin ein Maximum theoretischer Bildung sich mit einem Maximum praktischer Virtuosität vereinigen sollte. Es schmeckte mir dies etwas nach Papismus.

Zuletzt gelangte ich an die Dogmatik, welche Schleiermacher in zwei stattlichen Bänden 1821 und 1822 unter dem Titel: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, herausgegeben hatte. Hier stand ich vor einem großen systematischen Lehrgebäude, wie ich noch keines durchgemacht hatte. Ich kannte historisch die Eintheilung der kirchlichen Dogmatik in Theologie, Anthropologie, Soterologie und Eschatologie, aber ich hatte noch nie eine Dogmatik Schritt vor Schritt durchdacht, nicht einmal das kleine lateinische Handbuch der dogmatischen Institutionen von Morus, das ich schon lange besaß. Es war mir immer zu langweilig vorgekommen. Ich kann auch nicht sagen, daß mir das Schleiermacher'sche Werk sehr einladend erschienen wäre. Ich begnügte mich zunächst, mir von seiner Eintheilung durch Lesung der groß gedruckten Paragraphen eine vorläufige Uebersicht zu verschaffen, denn es stand jetzt bei mir fest, Theologie zu studiren und im Sommersemester die Dogmatik bei Schleiermacher zu hören. Am 25. April trat ich aus der philosophischen Fakultät in die theologische über. Das Studium der Philologie wollte ich noch nicht ganz aufgeben und nahm daher im Sommersemester bei Böckh die philologische Encyklopädie an, ein ganz ausgezeichnetes Collegium. Hätte ich diese Encyklopädie statt der philosophischen im ersten Semester hören können, so wäre ich vielleicht der Philologie treu geblieben. Um Ernst mit der Theologie zu machen, nahm ich auch Exegese des Hebräerbriefs und den ersten Theil der Kirchengeschichte bei Neander an. In dem letztern Collegium war mein Nachbar zur Rechten der Licentiat Rheinwald, der Neander bei der Correctur und bei der Fertigung der Inhaltsangaben seiner im Druck befindlichen Kirchengeschichte behülflich war und nur aus diesem Grunde[226] zu genauerer Vergleichung dem Vortrag beiwohnte. Ich wurde mit ihm bekannt und er hat mich noch ein paar Jahre vor seinem unglücklichen Tode hier in Königsberg besucht. Er war ein Verwandter Schelling's und wußte von diesem sowohl als von Hegel recht interessante Einzelheiten zu erzählen. Durch Rheinwald wurde ich veranlaßt, einem theologischen Leseverein beizutreten, und lernte nun die damals gangbaren theologischen Zeitschriften, die Streitigkeiten der Berühmtheiten auf diesem Felde und ihre Manieren kennen. Bei vielen meiner Commilitonen war es auch üblich, Thee bei Neander zu trinken, aber ich konnte mich nie entschließen, den Aufforderungen dazu Folge zu leisten. Es überkam mich in der Kirchengeschichte, wenn Neander von den neuen Bekehrungen heidnischer Fürsten, von den Verfolgungen der Christen und von der Glorie der Märtyrer handelte, immer ein Katakombengeruch. Neander, selber ein zum Christenthum bekehrter Jude, kam mir mit seiner ungeheuren Gelehrsamkeit in der Exegese und in den gnostischen Systemen, mit seiner wahrhaft evangelischen Sanftmuth und Aufrichtigkeit, mit seiner Vernachlässigung der äußern Erscheinung, immer wie ein Mann vor, der sich aus der Epoche des Urchristenthums nach Berlin in das neunzehnte Jahrhundert verirrt hatte.

Wie ganz anders erschien mir Schleiermacher, der, trotz seiner großen Gelehrsamkeit, doch zugleich als Prediger wirkte, der alle politischen und kirchlichen Kämpfe der Gegenwart mit lebendiger, tief in sie eingreifender Theilnahme begleitete und der, außer der Theologie, die Philosophie nach allen Seiten hin förderte. Als Akademiker stand ihm das Recht zu, auch philosophische Vorlesungen zu halten. Er trug, ohne, wie die meisten Professoren, einen bestimmten Cyklus zu haben, je nach seinem Bedürfniß oder auch nach dem ihm kund gegebenen Verlangen der Studirenden Geschichte der Philosophie, Dialektik, Psychologie, Ethik, Pädagogik, Politik und Aesthetik vor. Diese letztere war ich so glücklich, im Sommer 1825 Morgens von 7 bis 8 Uhr zu hören. Ich kann wohl sagen, daß sie der höchste Genuß gewesen ist, den mir je ein Collegium bei Schleiermacher gewährt hat. Die frühe Morgenstunde brachte mir eine noch unzerstreute Sammlung des Geistes bei ihm wie bei uns mit. Lommatzsch hat nach seinem Tode diese Vorträge drucken lassen. Sie haben sich in dieser Gestalt wenig[227] bemerkbar gemacht, weil unterdessen die Aesthetik von andern Gesichtspunkten aus schon weiter vorgeschritten war. Damals aber waren sie eine im Inhalt wie in der Form durchaus originelle Leistung, wie man überhaupt Schleiermacher zugestehen muß, daß er auf allen Gebieten, in die er sich einließ, neu und anregend thätig war. Nie wanderte er im Schlendrian der breit getretenen Heerstraße. Er war in einem steten Suchen nach der Wahrheit, in einem unaufhörlichen Streben nach Fortgestaltung begriffen. Auch seine Mängel und Schwächen haben stets viel Lehrreiches, namentlich in der Theologie, in welcher er viel selbstständiger als in der Philosophie war, wo Platonische, Fichtesche und Schellingsche Elemente ihn stärker bedingten. Es läßt sich ihm in unserm Jahrhundert kein Theologe an Productivität vergleichen. Die Ausdehnung seiner Arbeiten war jedoch zu groß, um jeder einzelnen diejenige Vollendung zu geben, durch welche sie nachhaltiger hätte eingreifen können. Die Herausgeber seines schriftlichen Nachlasses haben sich unstreitig viel Verdienste erworben, allein sie sind oft in Verlegenheit gewesen, den Stoff, welchen ihnen so verschiedene Gestaltungen derselben Wissenschaft aus verschiedenen Jahrgängen darboten, einheitlich zu durchdringen und zu einer vollkommnern Gliederung durchzuführen. Aus dem Bestreben, nichts, was ihnen werthvoll schien, aufzuopfern, ist für ein und denselben Gegenstand die Aufnahme der abweichenden Entwürfe und Ausführungen entstanden, durch welche Schleiermacher in seiner Fortbildung hindurchschritt. Die Breite dieser Wiederholungen, die zugleich eben so viel Differenzen enthalten, hat theils eine gewisse Unförmlichkeit des Ganzen, theils eine skeptische Wirkung im Einzelnen hervorgebracht. Der Tod riß Schleiermacher hin, bevor er selber, wie bei der Dogmatik, die Gliederung abschließen und die Darstellung harmonisch ausprägen konnte. Er hat hierin das Schicksal seines Collegen Hegel getheilt. Ich werde von der Aesthetik nichts weiter sagen, da nunmehr jüngere Kräfte, wie Dilthey, daran gegangen sind, Schleiermacher in seiner Totalität zu schildern. Ich hatte in diesem Collegium einen Nachbar, Sengebusch, von dem ich weiter gar nichts weiß. Da das Leben der Studenten damals in Berlin durch die Verfolgung der Genossenschaften ganz atomistisch war und die Weitläufigkeit des Wohnens in der Stadt engere Zusammenhänge sehr[228] erschwerte, so hatte ich in Berlin fast keinen andern Verkehr mit Studenten, als den, welchen die Nachbarlichkeit im Collegium hervorrief. Ich kam auf diese Weise auch mit recht tüchtigen jungen Leuten, namentlich Würtembergern, zusammen, ohne daß diese Berührungen weitere Folgen gehabt hätten. So weiß ich denn von jenem Sengebusch nichts weiter zu sagen, als daß er eine durchaus idealische Natur war. Er war ein schöner, kräftiger Jüngling mit schwarzem, lang herabwallendem Lockenhaar, hoher Stirn, schwärmerischen Augen, weicher Stimme, eigenartig im Ausdruck. Wir freuten uns, in der Bewunderung Schleiermacher's innigst zusammenzutreffen. Wenn wir vor und nach dem Collegium die Gedanken Schleiermacher's wiederholten und den Zauber der Sprache und Dialektik nachkosteten, so zweifelten wir nicht, unter dem Schatten der Kastanien hinter der Universität eben so hoch zu stehen, eben so glücklich, eben so begeistert zu sein, als einst Platon's Schüler in dem Garten seiner Akademie. Es war die reinste philosophische Trunkenheit, die man sich vorstellen kann. Wir verhielten uns zum Collegium wie zwei Liebhaber der Malerei, die vor einem Gemälde stehen, dessen Schönheit ihre ganze Seele erfüllt und die nicht müde werden, sich immer auf neue Schönheiten, welche der liebende Blick entdeckt, aufmerksam zu machen. Nachdem ich später als Docent und Schriftsteller mich hervorgethan, habe ich von manchen meiner damaligen Commilitonen, namentlich von einigen Würtembergern, die inzwischen Diakonate überkommen hatten, freundschaftliche Zuschriften empfangen. Von diesem wunderbaren Sengebusch aber habe ich nie wieder etwas vernommen.

Ich hörte in jenem Sommer fünf Tage hinter einander von 7 bis 1 Uhr sechs Stunden Collegia. Nachmittag und Abends hatte ich frei. Die Dogmatik trug Schleiermacher in zwei auf einander folgenden Stunden, mit einer Zwischenpause, von 8 bis 10 Uhr vor. Bei aller Rüstigkeit meiner Jugend, bei aller Verehrung für Schleiermacher, bei allem Interesse für den Gegenstand war es doch, zumal in der Sommerwärme, nicht leicht, hier durchzukommen. Es waren besonders zwei Punkte, die mich abspannten. Der eine war, daß ich das ganze Lehrgebäude gedruckt in Händen hatte. Wären nur die Lehrsätze gedruckt gewesen, so hätte der Beweis eine größere Theilnahme[229] herausgefordert. Je sorgfältiger ich mich präparirte, um so weniger Neues konnte mir der Vortrag bringen. Lehrbücher sollten immer nur kurz abgefaßt sein in der vortrefflichen Art, wie Schleiermacher's kurze Darstellung des theologischen Studiums in der ersten Ausgabe gehalten ist. Der zweite Punkt war, daß Schleiermacher in seinen Erläuterungen auf die Polemik, die gegen ihn eröffnet war, weitläufiger sich einließ. Es waren hier die Generalsuperintendenten von Gotha und Weimar, Bretschneider und Rohr, die er bekämpfte. Namentlich gegen den Letzteren war er aufgebracht. Anfänglich waren mir die scharfen, auch wohl witzigen Gegenäußerungen Schleiermacher's etwas Neues, aber bald stumpfte sich dieser Reiz ab und der Name Röhr wurde mir hier eben so verhaßt, als es den Sommer zuvor der Schweighäuser's in Bernhardy's Collegium über den Herodot geworden war.

Wie in der Ethik und Aesthetik gab ich mich Schleiermacher auch in der Dogmatik mit unbedingtem Vertrauen hin. Ich hatte vorerst genug zu thun, mich ihres ganzen großartigen Baues zu bemächtigen. Auch hier war es ja eine ganz neue Welt, die sich mir aufthat. Das Princip des Abhängigkeitsgefühls des Menschen von Gott, das mir bei Herrn von Kayserling oft so langweilig geworden war, erschien mir hier, wo auch Begriffe, wie Schöpfung und Erhaltung der Welt, aus ihm abgeleitet wurden, doch in ganz anderem Licht. Ich nahm vorerst die Seite der Einheit des Menschen mit Gott aus ihm heraus. Wir sollen durch das Bewußtsein Gottes continuirlich in unserem Gefühl bestimmt werden. Das sei Frömmigkeit, die weder ein Wissen noch ein Thun sei, aber sowohl in jenes als in dieses übergehen könne. Dies Verhalten des Menschen schien mir mystisch zu sein. Da aber die Ursächlichkeit dieses Bestimmtwerdens in Gott fällt, der allmächtig und allwissend, ewig und allgegenwärtig ist, so folgerte ich, daß die Mystik zugleich Pantheismus sein müsse. Unter diesem Namen verstand ich die stetige Gegenwart Gottes im Menschen. Nach den Reden Schleiermacher's über die Religion, wie nach Allem, was ich bis dahin von der Hegel'schen Philosophie verstanden zu haben glaubte, konnte nur ein pantheistischer Mysticismus den Menschen beseligen.

In diesem Sinne schrieb ich einen Aufsatz über Mystik, den ich 1848 im fünften Bande meiner Studien habe abdrucken lassen. Dort[230] ist die Jahreszahl falsch angegeben. Nicht 1826, sondern 1825 ist er verfaßt, wie auch aus dem Journal, was ich über meine Arbeiten geführt habe, hervorgeht. Dieser Aufsatz ist ein rechtes Prachtstück der Romantik, in deren über meinem Geist zusammenschlagenden Wogen ich versunken war. Auch eine Stelle aus Jacob Böhme, die ich irgendwo aufgelesen haben mußte, wird schon citirt.

Dieser stolze Pantheismus, der sich offen, ja herausfordernd als Pantheismus bekennt, diese Mystik im Sinne einer absoluten, wiewohl geheimnisvollen Einheit Gottes mit dem Menschen war noch möglich, so lange ich mich im ersten Theil der Dogmatik befand, in welchem Schleiermacher von dem Gegensatz abstrahirt, der in unserem frommen Gefühl als der der Sünde und Gnade vorkommt. Je weiter ich in den zweiten Theil vordrang, desto mehr fühlte ich mich von ganz neuen Vorstellungen bedrängt. Das Resultat der Ethik war für mich gewesen, daß ich nur erst ein sehr oberflächlicher, noch kein specifischer Christ sei. Nunmehr aber schrie es mich aus jeder Seite des weiten, dicken Theiles der Dogmatik an: Du bist ein Sünder! Durch die Sünde bist Du von Gott getrennt.

Doch um den Seelenzustand, in den ich nach und nach verfiel, verständlicher zu machen, muß ich hier noch einige Veränderungen erwähnen, die in meinen persönlichen Verhältnissen eingetreten waren.

Ich war im Laufe des Winters mit drei jungen Männern aus Westphalen bekannter geworden, die in Berlin dem Studium des Baufaches oblagen und viel mit meinem Oheim verkehrten. Sie hießen Wette, Willmans und Bömke. Der erstere war Katholik. Der zweite, aus Halle in Westphalen, leitete die Arbeiten für die Fundamentirung des Museums, welche die Legung eines Pfahlrostes erheischte. Von den Fenstern seiner Wohnung am neuen Packhof hatte man einen reizenden Ausblick auf den Lustgarten, links vom Dom, geradezu vom Schloß, rechts vom Zeughaus eingerahmt. Bömke wohnte nicht weit an der neuen Promenade. Er war ein tiefer Mensch, der sehr gut Englisch verstand und auf philosophische Gespräche sich einzulassen geneigt war. Er war der einzige Sohn eines Predigers in Dortmund. Er liebte die Unterhaltung bei einem Glase Bier oder Wein, und wir pflegten von Zeit zu Zeit gemeinschaftlich ein Lokal zu besuchen. Von diesen[231] Gesprächen blieb alle Theologie fern. Sie betrafen die Weltereignisse, die Baukunst, das Theater, oder ergingen sich auch in Erzählungen der Schicksale uns bekannter Personen, bis wir gewöhnlich mit dem endigten, was die Studenten »schlechte Witze« zu nennen pflegen. Bömke hatte einen Hang zur Schwermuth, der sich bei ihm in seiner Liebe zu Thomson's Jahreszeiten und zu Young's Nachtgedanken abspiegelte, aus denen er häufig Citate anführte, aber eben deswegen vielleicht besaß er vielen Sinn für das Komische und konnte uns durch neckische Einfälle, die er selber herzlich belachte, ungemein erheitern. Er behauptete z.B., wie eine Krähe hüpfen zu können, was er dann, die Pfeife in der linken Hand, mit Gestikulation ausführte, die uns bis zu einem krampfhaften Lachen erschütterte. Wir genossen in solchen Stunden, was die Deutschen vorzugsweise Gemüthlichkeit zu nennen pflegen. Bömke war auch sehr musikalisch, war ein Virtuose auf der Flöte und war daher auch in der musikschwärmerischen Familie meines Oheims sehr beliebt. Diese hatte sich seit Michaelis 1824 dadurch sehr erweitert, daß ein Schwiegersohn nach Berlin gezogen war. Er hieß Filhès und stammte von Reformirten ab, die ursprünglich von Carcassone im südlichen Frankreich nach Deutschland eingewandert waren. Er war ein recht wohlhabender Mann, dessen ganzes Leben im Kaufen und Verkaufen von Besitzungen verlief. Erst hatte er ein großes Grundstück in der Stadt, das er ererbt hatte, verkauft, um ein Rittergut in Schlesien zu kaufen. Dies verkaufte er, um ein Gut im sogenannten Oderbruch zu kaufen. Das verkaufte er wieder im Sommer 1824, kam nach Berlin und lebte ein paar Jahre in der Stadt, bis er eine große Besitzung im Thiergarten kaufte, die er wieder an den in Berlin wohlbekannten Herrn Heinzelmann verkaufte, der dort das Elysium begründete. Filhès kaufte ein anderes großes Grundstück in der Nähe, das einen weitläufigen Complex von Gebäuden enthielt, die als Sommerwohnungen vermiethet wurden. Ein bedeutender Garten dehnte sich hinter ihm bis zum Schaafgraben aus. Es war dies ein höchst angenehmer Ort, in welchem ich, bei meinem späteren häufigen Aufenthalt in Berlin, viele heitere Stunden verbracht habe. Aber auch diese Besitzung verkaufte er endlich wieder, um eine andere in der Karlsbadstraße zu kaufen, wo der Tod seinem Kaufen und Verkaufen[232] ein Ziel setzte. Da er nur mit dem Abschneiden von Coupons, mit dem Einziehen von Miethszins, mit der Aufsicht über die Cultur seiner Gemüsefelder, mit der Reparatur und Verschönerung der Wohnungen zu thun hatte, so blieb ihm viel freie Zeit. Man kam ihm selten ungelegen. Eine liebenswürdige Frau und drei talentvolle Töchter, von denen die jüngste, Bertha, sich als pädagogische Schriftstellerin einen Namen gemacht hat, gaben der Geselligkeit dieses Kreises eine wohlthuende Mannichfaltigkeit.

Ostern 1825 kam Simon von Göttingen nach Berlin. Wir schlossen uns sogleich wieder eng aneinander. Er studirte damals Philosophie sans phrase und hatte in Göttingen den Winter hindurch bei Krause Philosophie der Geschichte gehört. Von diesem Manne empfing ich durch ihn die erste Vorstellung. Er schilderte mir die edle hochsinnige Persönlichkeit desselben, aber auch die bedrängte, knappe Lage, in welcher er sich befand. Die Aristokratie der Göttinger Hofräthe wollte einen Mann, der für einen entarteten Schellingianer galt und der sich mit den Freimaurern überworfen hatte, nicht aufkommen lassen. Krause hatte nur wenig Zuhörer, die er bei sich in seinem Wohnzimmer versammelte. Er war sehr musikalisch und Simon erzählte mir, daß er selbst Claviere baute. Ich war nun sehr lüstern nach der Philosophie der Geschichte, aber die Berichte über sie, welche ich Simon abfragte, waren sehr verworren und ungenügend. Ein Heft hatte er nicht nachgeschrieben. Es ging nur soviel daraus hervor, daß Krause auf allen Planeten, ja Gestirnen, die Existenz einer Menschheit voraussetzte, die sich nach der Analogie der Altersstufen ausleben sollte. Die Unterhaltung über diesen Gegenstand brachten mir zwei Abhandlungen über eben denselben in's Gedächtniß, die ich im Sommer zuvor in den Schriften der Berliner Akademie bemerkt hatte. Sie waren von M. Weguelin. Die erste Abhandlung stand im Jahrgang 1770, die zweite in dem von 1772. Ich nahm sie nun vor und fing an, sie zu übersetzen. Nachdem ich mit den Principien fertig war, begnügte ich mich für das Uebrige mit der Uebersetzung der Capitelüberschriften, welche die Hauptgedanken des Inhalts ziemlich vollständig ausdrücken. Diese Arbeit habe ich in meiner Abhandlung über das Verdienst der Deutschen um die Philosophie der Geschichte 1835 als Beilage abdrucken[233] lassen. Sie verdient wohl, in der Geschichte der Wissenschaft ein Andenken zu bewahren. Ich muß jedoch bemerken, daß in späteren Bänden der Schriften der Akademie noch vier Abhandlungen Weguelin's über denselben Gegenstand gefolgt sind. Weguelin, ein Würtemberger von Geburt, hat den Versuch gemacht, die Gesetze der Physik auf den Proceß der Geschichte zu übertragen. Er unterscheidet todte und lebendige Kräfte, die er auch als Centripetal- und Centrifugalkraft behandelt. Für die Form der Begebenheiten unterscheidet er die Assimilation als die qualitative Seite von der Verkettung der Thatsachen als der quantitativen. Die Geschichte strebt einerseits nach der Verähnlichung der Erscheinungen, andererseits nach der Erweiterung der Herrschaft eines Princips. Was mich besonders anzog, war, daß Weguelin für die Gesetze, die er zunächst in sehr abstracter Weise aufstellt, hinterher recht anschauliche Beispiele bringt, welche den Beweis liefern, daß er wirklich die Geschichte vor Augen hat. Zu den todten Kräften der Geschichte rechnet er z.B. die Gewohnheit, deren Mechanismus die Sitte der Völker fixirt; zu den lebendigen Kräften die Eigenthümlichkeit des Talents, des Charakters, die Erfindung des Neuen u.s.w. Das Wohl der Staaten verlangt die Ausgleichung der centripetalen und der centrifugalen Kräfte. Ueberwiegen jene, so entsteht die Despotie; überwiegen diese, die Anarchie. Diese schätzbare Arbeit liegt in den Memoiren der Verliner Akademie, die damals noch Französisch schrieb, begraben. In unserer Zeit, welche den Gegensatz der todten und der lebendigen Kraft zum Schlüssel der gesammten Wissenschaft zu erheben bestrebt ist, würde Weguelin vielleicht mehr Glück gehabt haben.

Simon brachte von Göttingen, durch Volk bestimmt, auch noch den Betrieb des Spanischen mit. Er wollte eine Uebersetzung der Chronik von den Kriegen der Abencerragen und Zegris herausgeben. Er übersetzte die Prosa. Ich sollte, da Verse mir leicht wurden, die Uebersetzung der darin vorkommenden Romanzen übernehmen. Drei oder vier hatte ich auch übersetzt, als Simon plötzlich an heftigen Congestionen erkrankte, die ihm ein gar nicht zu stillendes Nasenbluten verursachten. Dieser Zufall stellte sich zuerst sehr unangenehm bei einem Concert ein, welches er in seiner schönen, geräumigen Wohnung in der Heiligengeiststraße veranstaltet hatte. Er spielte nämlich Violine und[234] Violoncell sehr gut und hatte sich mit einigen andern Musikern zu einem Quartett verbunden, zu dem er mich auch als Zuhörer einlud. Etwa nach einer Stunde fing das Nasenbluten an. Die üblichen Hausmittel wurden versucht, verfingen aber nichts, und das Concert mußte aufgegeben werden. Simon consultirte einen Arzt und reiste ein paar Tage später, Mitte Juni, nach Marienbad ab. Es kam dies plötzlich und unerwartet, denn ein paar Wochen zuvor, um Pfingsten, hatte ich noch mit ihm eine Fußreise nach Freienwalde gemacht. Wir waren dort im Gasthof mit zwei Theologen zusammengetroffen, die ich aus dem Collegium von Marheineke her kannte.

Der eine, Berkau, war schon etwas in Jahren vorgerückt. Er hatte längere Zeit in Griechenland als Philhellene gekämpft und wußte Mancherlei daher zu erzählen. Der andere, Schröder, war ein weiches Gemüth, das ganz in die Orthodoxie aufging. Er war ein guter Mensch, der später in Westpreußen als tüchtiger Prediger wirkte und mir, als ich schon Professor in Königsberg war, aus Anhänglichkeit zärtliche Briefe schrieb, in denen er mich beschwor, mich doch durch die Speculation nicht vom wahren Glauben, der allein die Seligkeit sichere, abtrünnig machen zu lassen. Sein Lieblingsdichter war der Wandsbecker Claudius, von dem er oft recht passende Verse citirte. Hatten wir den Tag über in der schönen Berg- und Waldgegend uns müde gelaufen, so ließen wir Abends Tisch und Stühle vor das Wirthshaus setzen, saßen und plauderten zusammen, bis die Sterne am Himmel erglänzten und Schröder mit den Versen von Claudius schloß:


Schwarz steht der Wald und schweiget,

Und aus der Wiese steiget

Ein weißer Nebel wunderbar.


Bei dem Rückmarsch nach Berlin wurden wir auf der obdachlosen Chaussee von einem furchtbaren Gewitter mit einem wolkenbruchartigen Regen überfallen, der sich dann in einen allgemeinen Landregen auflöste, so daß wir, bis auf die Haut durchnäßt, in Berlin ankamen. Mir schadete das weiter nichts, aber Simon bekam wohl den Anstoß zu dem Leiden, welches ihn in der folgenden Woche zur Abreise nach Marienbad zwang.

Kaum war er fort, so begann für mich ein neues, höchst eigenthümliches[235] Verhältniß. In der philologischen Encyklopädie bei Böckh hatte ich einen Nachbar gehabt, der sich Beifuß nannte. Er war ein Jude aus Hamburg und wohl schon dreißig Jahre alt. Die ser Mann fehlte nach Pfingsten. Da erschien eines Tages ein anderer Jude, Auerbach, aus der Provinz Posen, der mir noch bejahrter schien, bei mir, mich zu bitten, Herrn Beifuß, welcher krank liege, zu besuchen. Ich ging zu ihm. Er wohnte ebenfalls in der neuen Friedrichsstraße in einem jener großen Miethhäuser, worin Hunderte von Menschen zusammengedrängt sind. In einem kleinen Zimmer nach dem Hof hinaus fand ich den Kranken fiebernd im Bett liegen. Sein Kopf war mit einem weißen Tuch turbanartig umwunden. Seine schwarzen Augen funkelten wie Kohlen. Er sagte mir, daß er bemerkt habe, ich schriebe ein gutes Heft und ersuchte mich um die Gefälligkeit, ihm dasselbe, damit er nicht zu sehr aus dem Zusammenhang käme, vorzulesen. Ich ging darauf ein. Manchmal versagte ihm heftiger Kopfschmerz die Anstrengung und dann sprach ich mit ihm, ihn zu zerstreuen, über Allerlei, von dem ich glauben konnte, daß es ihn unterhielt. Als ich ihm mittheilte, daß ich bei Schleiermacher Aesthetik höre, wurde er sehr neugierig auf dieselbe und ich mußte ihm von ihr, so gut ich konnte, berichten. Bald wurde dieser Bericht eben so regelmäßig fortgesetzt, als die Vorlesung von Böckh. Seine Krankheit zog sich in die Länge. Er hatte auch bei Hegel Naturphilosophie angenommen. Da Hegel den Paragraphen seiner Encyklopädie folgte, so konnte er hier eher den Besuch verschmerzen. Auf seine Bitte machte ich das Experiment, bei Hegel für ihn nachzuschreiben. Einige Stunden setzte ich es zwar durch, allein meine Nachschrift fiel bei dem mir so gänzlich ungewohnten Vortrag Hegel's sehr ungenügend aus, abgesehen davon, daß es mir auch zu schwer fiel, nachdem ich Vormittags sechs Stunden hinter einander gehört hatte, am Nachmittag in der Sommerwärme so viel Zeit zu opfern. Dies Experiment wurde also aufgegeben. Als ich mit Herrn Beifuß bekannter wurde, theilte er mir seine Absicht mit, zu promoviren, um sich in Berlin der Journalistik zu widmen. Er hatte schon längere Zeit sich an mehreren Zeitschriften betheiligt und ließ mich diese Aufsätze, meist ästhetischen Inhalts, nach und nach lesen. Sie nahmen mich schon für ihn ein. Er war mir an Welterfahrung und an Reife[236] des Urtheils entschieden überlegen, wenn ich auch in den Wissenschaften und in Kenntniß der alten Sprachen ihm offenbar voraus war. Es entspann sich dadurch eine wunderliche Situation, sofern ich ihm gegenüber unwillkürlich die Rolle eines Belehrenden überkam, während ich doch im Allgemeinen mich ihm, als dem Aelteren, unterzuordnen geneigt war. Er imponirte mir nicht nur durch ein gewisses herrscherisches Wesen, das immer stärker hervortrat, je mehr seine Genesung fortschritt, sondern vorzüglich durch seine große Kenntniß der Englischen Sprache und Literatur, sowie dadurch, daß er Jean Paul einen abgöttischen Cultus darbrachte, der ihn endlich so weit geführt hatte, mit ihm einige Briefe zu wechseln, die ich mit Ehrfurcht in die Hand nahm. Die gemeinsamen Studien, denn so kann ich es wohl am besten nennen, dehnten sich immer weiter aus.

Ich las mit ihm Stiedenroth's vortreffliche Psychologie, auf welche er durch eine Empfehlung derselben durch Göthe aufmerksam geworden war. Der Genuß dieses mit außerordentlicher Sorgfalt stylisirten Buches, so wie die sich daran knüpfende Besprechung seiner eigenthümlichen Begriffsbestimmungen machten uns ein außerordentliches Vergnügen. Nachdem wir mit Stiedenroth fertig waren, konnte Beifuß schon wieder aufstehen, wenn er auch noch das Zimmer hüten mußte. Nun wollte er sich im Lateinischen üben und fiel, ich weiß nicht mehr warum, auf die Lebensbeschreibung der Römischen Kaiser von Suetonius. Ich hatte die drei ersten auf dem Gymnasium gelesen und fand daher keine Schwierigkeit, sie mit ihm durchzugehen. Er fing an bei Correcturen, die ich machen mußte, bei entstehendem Streit über den richtigen Ausdruck der Uebersetzung, zänkisch zu werden, und diese Unart nahm zu, je gesunder er wurde.

Von seiner Heftigkeit war ich schon zuweilen in seinem Verhalten zu Herrn Auerbach Zeuge geworden. Dieser mußte für ihn allerlei Gänge und Geschäfte besorgen, die sich, wie ich allmälig inne wurde, auf seine Subsistenzmittel bezogen. Mir war das Zugegensein bei solchen Scenen sehr peinlich, die beiden Juden genirten sich aber nicht im Geringsten. Auerbach war auf einer Talmudschule im Posen'schen gebildet, hatte sich, als er zu andern Vorstellungen gelangte, von ihr losgerissen, war nach Berlin gekommen, empfing hier kleine Unterstützungen[237] von reichen jüdischen Familien und wollte durchaus ein Philosoph nach dem Muster Spinoza's werden, der sich ja auch erst durch den Wust des Rabbinismus hatte durcharbeiten müssen. Hätte er nur auch, wie Spinoza, die Kunst verstanden, Gläser zu schleifen, um sich selbst einen, wenn auch kärglichen Unterhalt zu schaffen! So aber war seine Lage höchst bedauerlich. Ein unbefriedigtes, hoch hinaus wollendes Streben fand sich nach allen Seiten durch Mangel an elementaren Vorkenntnissen, durch Mangel an zweckmäßigem Unterricht, auch Mangel an den nöthigen Hülfsmitteln gehemmt. Ich habe später hier in Königsberg noch mehrfach mit ähnlichen Unglücklichen zu thun gehabt, welche der Meinung waren, man könne eben Philosophie studiren und sich durch sie berühmt machen, ohne sonst in den positiven Wissenschaften sich umgethan zu haben. Auerbach faßte ein grenzenloses Zutrauen zu mir, das ich als Gesinnung schätzte, ohne ihm eigentlich helfen zu können. Beifuß lohnte ihn für seine Mühewaltungen durch eine gewisse Nachhülfe und Leitung, die er ihm für seine Cultur zuwendete. Ich kann dies am Besten durch ein Beispiel verdeutlichen. Auerbach borgte von mir Wilhelm Meisters Lehrjahre, von denen er so viel gehört hatte und von denen er sich wahrscheinlich, dem Titel nach, besondere Förderung versprach. Hier mußte ihm nun Beifuß erklären, was unter Exequien, Sarkophag, Sphinx u. dgl. zu verstehen sei. Auerbach schrieb solche ihm räthselhafte Wörter auf Zettel, welche er Beifuß vorlegte. Man kann sich hiernach vorstellen, wie wenig Nutzen ihm das Hospitiren in Vorlesungen der Professoren, zu denen er theils aus Wissenstrieb, theils aus Langeweile, großen Hang hatte, bringen konnte, ja wie es seine Verwirrung steigern mußte. Er wollte immer schon auf der Höhe der Bildung stehen. Als er mir den Wilhelm Meister zurückbrachte, sollte dies doch nicht geschehen, ohne mir ein gewisses Resultat seines Eindrucks auf ihn zu geben. Er faßte dies in diese Worte zusammen, die er wohl zehnmal wiederholte: »Herr Rosenkranz, ich sage Ihnen, Jott, in welchem Aether muß doch dieser Göthe leben, daß er hat schreiben können ein solchen Wilhelm.« Mitunter beklagte er sich bei mir mit Thränen in den Augen über die Härte der Behandlung, die er von Beifuß zu erdulden hatte, allein dieser stand in der That so hoch über ihm, daß er, wie er sich auch verletzt fühlte,[238] doch immer wieder, im Gefühl seiner geistigen Abhängigkeit, als sein gehorsamer Meschores fungirte. Ueber die religiösen Kämpfe, die mich gleichzeitig im Innersten bewegten, sprach ich nie ein Wort mit ihm, aber sonst war ich über den Gang meiner Bildung, über meinen Geschmack und Neigungen ganz offen. Hier schlug nun Beifuß gegen mich einen immer vornehmeren, oft sarkastischen Ton an, in welchem nicht selten auch ein vollkommen begründeter Tadel enthalten war, so daß ich nichts zu entgegnen wußte. Sobald er eine Unwissenheit oder falsche Auffassung entdeckte, über die er hinaus war, konnte ich mich auf herbe Zurechtweisung gefaßt machen. Mit scharfem Verstande, mit witzigen Worten wurden Halbheiten meines Betragens, Schiefheiten meines Urtheils getadelt. So fand ich eines Tages auf seinem Tisch einige Hefte von Baaders Schriften. Es waren die Fermenta cognitions und der Blitz als Vater des Lichts. Als sich nun herausstellte, daß ich von Baader bis dahin nur den Namen kannte, erfolgte seinerseits ein höhnender Ausbruch über meine Unwissenheit. Ich bat ihn, mir die Brochüre über den Blitz zu leihen, was er auch that, jedoch im Voraus bezweifelte, ob ich sie auch werde verstehen können. Hierin hatte er auch ganz Recht, aber doch öffnete mir diese Lectüre den Blick in eine mir ganz neue Denkungsart und machte mich immer begieriger, Jacob Böhme's Schriften, auf wel che Baader sich berief, kennen zu lernen.

Unter so intensiven, mannichfaltigen Anregungen vergingen fast drei Monate. Beifuß war inzwischen ganz gesund geworden. Ich reiste im September nach Magdeburg. Als ich Mitte October nach Berlin zurückkam und Beifuß aufsuchte, fand ich ihn nicht mehr in der kleinen Stube mit dürftigen Möbeln. Er wohnte Unter den Linden, freilich auch nach dem Hof hinaus, aber in einem großen, elegant möblirten Zimmer. Seine Kleidung war verfeinert und seine Stellung die eines Mannes, der in Berlin wachsenden Einfluß gewinnen werde. Er empfing mich freundlich, jedoch mit einer gewissen Herablassung zum Studenten, den er vor sich erblickte. Er war Mitarbeiter an der »Schnellpost«, einem Journal geworden, welches den theatralischen Angelegenheiten gewidmet war und dem sogar Hegel einige Kritiken beigesteuert hat, die in dem zweiten Theil seiner vermischten Schriften[239] wieder abgedruckt sind. – Beifuß bedurfte meiner nicht mehr, um sich zur Promotion vorzubereiten. Er hatte diesen Gedanken als überflüssig aufgegeben. Er verkehrte jetzt mit Rellstab, mit Saphir, mit Schauspielern, mit Hegel selbst wie er mir sagte, wenn er darunter auch wohl nur ein paar Besuche verstand, die er ihm im Interesse der »Schnellpost« gemacht hatte. Genug, er imponirte mir durch die Stellung, die er über Nacht in der Berliner Gesellschaft gewonnen hatte. Wenn ich ihn jetzt besuchen wollte, fand ich ihn entweder nicht zu Hause oder er sagte mir nach einer kurzen Unterhaltung, daß er sehr beschäftigt sei. Ich zog mich daher zurück. Doch schenkte ich ihm noch zu seinem Geburtstag, den ich zufällig durch Auerbach erfahren hatte, ein schön gebundenes Exemplar einer Gesammtausgabe Shakespeare's in Einem Bande, das huldreich angenommen wurde. Die Beziehungen zwischen uns stockten von hier ab gänzlich bis auf einige kleine Anleihen, die er durch Auerbach bei mir machen ließ, anfänglich auch, obwohl nach längeren Fristen, als er versprochen, zurückgab, endlich aber eine größere schuldig blieb. Als ich ihn im nächsten Jahre von Halle aus brieflich darum zu mahnen wagte, weil ich das Geld zu einer Reise in die Sächsische Schweiz verwenden wollte, bekam ich eine Antwort, welche den Styl, worin ich ihm geschrieben, ironisch durchhechelte, aber das Geld bekam ich nie zurück. Dieser gewiß talentvolle, aber eitle und zur Behauptung einer nachhaltigen Wirksamkeit nicht genugsam ausgerüstete Mann ging einige Jahre später in einem unordentlichen, stets von Geldverlegenheiten bedrängten Treiben zu Grunde und starb in einem Hamburger Hospital.

Durch Beifuß war ich bestimmt worden, mich auch nach Jean Paul umzuthun, dessen er so oft mit Bewunderung erwähnte. Obwohl mein Vater Walter Scott allen übrigen Romanschriftstellern vorzog, so las er doch auch Jean Paul mit Vergnügen. Die Elemente der zeitgenössischen Atmosphäre mögen es ihm erleichtert haben, sich in Stimmungen, Charakteren, Bildern, Anspielungen dieses Autors zurecht zu finden. Ich war daher auch nicht gerade unbekannt mit ihm geblieben, allein ich bekenne, daß ich ihm bis dahin keinen sonderlichen Geschmack hatte abgewinnen können. Er war mir zu dunstig. Der Aufwand der Phantasie, mit welchem er auch die einfachsten Vorgänge,[240] die geringsten Empfindungen ausmalte, erschien mir oft unnatürlich. Die Erfindung der Situation, die er zu Grunde legte, dünkte mich eher sonderbar, als wahrhaft interessant. Ich hatte daher nur so viel von ihm gelesen, mir von seinem Styl, von seiner Manier überhaupt, im Unterschiede von andern Autoren, eine Vorstellung machen zu können. Beifuß trieb mich, sofort das größte Werk Jean Paul's, den Titan, in Angriff zu nehmen. Dies geschah. Die Wirkung war eine außerordentliche. Albano und Cesara, Spener und Schoppe, Liane und Linda, Roquairol und Rabette verkörperten sich für meine Einbildungskraft zu einer so plastischen Deutlichkeit, wie ich sie von Jean Paul gar nicht erwartet hatte. Die reizenden landschaftlichen Gemälde, der Wechsel der erhabenen und komischen Scenen, die philosophischen Betrachtungen boten mir eine unendlich reiche Nahrung. Ich sprach, wie ich im Lesen vorrückte, auch mit Beifuß über die Composition. Was mich aber bei diesem Roman im Innersten traf, verhehlte ich ihm, denn es hing mit der Qual zusammen, welche Schleiermacher's Glaubenslehre allmälig in mir zu bereiten anfing. Dies war die Entdeckung, daß ich, abgesehen von der äußeren Verschiedenheit der Lage, in meinem Wesen die größte Aehnlichkeit mit Roquairol besäße. Schleiermacher zeigte mir, daß in mir die Sünde existire, daß sie mich von Gott entfremde. Der absoluten Heiligkeit Gottes gegenüber hatte ich nie angestanden, mich als einen sündigen Menschen zu erkennen und zu bekennen, aber von einer solchen Unaufhörlichkeit der Sünde, von einer solchen totalen Infection meines Gemüths mit dem Bösen, als seine Dogmatik mir zumuthete, war ich weit entfernt gewesen. Im Gegentheil hatte ich bis dahin mich vieler Momente meines Lebens erfreut, in denen ich mich für durchaus selig hielt. Vor Wonne wußte ich den entzückten Ueberschwang meines Gefühls oft kaum zu bändigen. Und gerade in solchen Momenten hatte ich keinen beruhigenderen Ausweg gefunden, als die Verklärung meines Gefühls durch die Erhebung zu Gott, dem ewigen Urquell alles Wahren, Schönen und Guten. Nur die innigste Dankbarkeit gegen ihn schien mich vor dem Uebermaaß retten zu können, mit welchem die himmlischen Gewalten sich meiner bemächtigten. Selbst die Poesie des Titan, die eine so tiefe Wunde in mir aufreißen sollte, war doch so wundervoll, daß ihr Genuß mich[241] mit den süßesten Empfindungen durchdrang. – Gern ging ich in jenem Sommer nach der sogenannten Rousseauinsel im Thiergarten. Sie liegt abseits von den lärmenden Fahrwegen, von den breiten Spazierpfaden, wo sich die bunten, plaudernden Menschenhaufen bewegen, in lieblicher Einsamkeit innerhalb eines kreisförmigen Gewässers, an dessen Ufer schöne große Bäume sich hinziehen, wie man sie dem Berliner Sande kaum zutrauen sollte. Eine kleine Brücke führte zu ihr hinüber. Zwischen Trauerweiden und Birken, unter überhängenden leichten Gebüschen stand auf ihr eine Bank mit einer rohen Lehne von Baumzweigen. Hierher flüchtete ich mich, die köstlichsten Stellen des Titan noch einmal zu lesen. Die Sonne warf schon lange Schatten auf den Rasen; ihr dunkel glühendes Gold zitterte zwischen den Blättern; fern her rauschte das Rollen der Wagen, welche die Thiergartenstraße oder die Charlottenburger Chaussee belebten; Hunde bellten, Menschenstimmen näherten und entfernten sich wieder; silberne Wolken schoben sich, wie überirdische Ahnungen, über die Wipfel der Bäume und spiegelten sich in dem trüben, melancholischen Wasser, auf dessen Oberfläche hier und da die gelbe Blüthe einer Lilie träumerisch sich hinlagerte. War dies Alles nicht himmlisch! Mein Herz wollte vor Wehmuth und Sehnsucht zerspringen.

Je mehr ich aber in das Verständniß des Titan eindrang, um so mehr glaubte ich in der Gestalt Roquairol's den Schlüssel zu der Form zu finden, welche das Böse als ein wahrhaft teuflisches in mir angenommen habe. Ich verdächtigte alle Regungen meiner Seele, in ihnen den bitteren Beigeschmack der Sünde zu finden. Ich hatte zwar kein Verbrechen begangen, welches der bürgerlichen Gesellschaft ein Recht zu meiner Bestrafung gegeben hätte; auch konnte man mir keine grobe Lasterhaftigkeit vorwerfen; ich konnte sogar behaupten, daß ich in der That immer das Gute gewollt hätte; allein ich glaubte nunmehr immer schärfer die Täuschungen zu entlarven, mit denen ich mich über die Selbstsucht betrogen habe, die zuletzt das entscheidende Princip meines Handelns gewesen sei. Ich beschuldigte mich, die Aufgabe meines religiösen Wandels nicht ernst genug genommen, unreine Gelüste hinter vornehmen Motiven versteckt, Fehltritte durch die Zufälligkeit der Umstände zu leicht entschuldigt zu haben. Verdüsterte ich mir so den[242] Rückblick auf meine Vergangenheit, so machte ich mein Verhalten in der Gegenwart zu einem unsicheren, beängstigten. Hat man erst angefangen, die Lauterkeit seiner Gesinnung zu bezweifeln, hat man erst einige Uebung in der casuistischen Kunst erworben, für sein Handeln die Fundamente des Egoismus in den geheimen Falten seines Herzens auszuspüren, so ist für die Selbstanklage keine Grenze mehr. Roquairol war ja auch in seiner Reflexion ein Tugendheld, er war ja auch der Freund eines Albano, der Geliebte einer Rabette geworden, und doch zeigt Jean Paul, daß er im Innersten unwahr, verlogen, ein bloßer Komödiant der Sittlichkeit war und daß die Bildung seines ästhetischen Geschmacks ihm in ethischer Hinsicht nicht nur nichts nütze, sondern durch Verfeinerung der Sinnlichkeit eher schadete. Meine Verhältnisse waren ganz andere, als die des Hauptmannes in einer höfischen Umgebung, allein zur Interpretation der meinigen nach der Analogie blieb Stoff genug übrig. – Natürlich siegte zunächst die jugendliche Kraft und Lust noch über die Hypochondrie. Man hatte mich gern in der Gesellschaft gehabt, weil ich heiter und durch Erzählen, Disputiren, lustige Einfälle und Eulenspiegeleien unterhaltend war. Zu allen größeren Unternehmungen wurde ich aufgefordert. In Charlottenburg, Pankow, Schönhausen, Treptow, in der Hasenhaide, im Wollank'schen Weinberg und wo sonst noch wurden Partieen arrangirt, bei denen wir junge Männer mit den jungen Damen alle herkömmlichen Spiele im Freien vornahmen, groteske Improvisationen aber, zu denen ich geneigt war, sich großen Beifall und Dank verdienten. In solchen Stunden vergaß ich mich völlig. Erwachte ich dann am andern Morgen, so wurde die Kritik an mein Betragen vom vorigen Tage gelegt und ich beendete sie dann gewöhnlich mit dem Geständniß, daß ich, nach der Sprache Schleiermacher's in den Monologen, von meinem Urbilde zu einem Zerrbilde stark heruntergesunken sei. Die Gesundheit im Leben eines Volkes wird hauptsächlich durch alle Menschen unterhalten, die so glücklich sind, in die Arbeit ihres Tagewerkes aufzugehen und nicht Zeit haben, sich in Grübeleien über ihre Seelenzustände zu verlieren. Mit der mikroskopischen Selbstbetrachtung kommt die Verdrießlichkeit und Ungewißheit. Ich suchte mich noch mehr, als ich aus Liebe zur Wissenschaft schon gethan, von dem großen gesellschaftlichen Verkehr[243] abzuziehen, weil er meiner Sinnlichkeit und Eitelkeit zu viel gefährliche Nahrung zu bieten schien.

Quelle:
Rosenkranz, Karl: Von Magdeburg bis Königsberg. Leipzig 1878, S. 218-244.
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