12. Kapitel

Wie sich die oberherrliche Gewalt aufrechterhält

[125] Da das Staatsoberhaupt keine andere Macht hat als die gesetzgebende Gewalt, so wirkt es nur durch Gesetze, und da die Gesetze nur authentische Beschlüsse des allgemeinen Willens sind, so kann das Staatsoberhaupt nur wirken, wenn das Volk versammelt ist. Das Volk versammelt! wird man sagen, welch ein Hirngespinst! Heutzutage ist es allerdings ein Hirngespinst, aber vor zweitausend Jahren, war es keine Utopie. Hat sich die Natur der Menschen denn geändert?

In der geistigen Welt sind die Grenzen des Möglichen weniger eng, als wir glauben; erst unsere Schwächen, unsere Laster und unsere Vorurteile verengern sie. Gemeine Seelen glauben nicht an große Männer; erbärmliche Sklaven lachen spöttisch bei dem Worte Freiheit.

Aus dem Geschehenen wollen wir auf das schließen, was geschehen kann. Ich will nicht von den alten Republiken Griechenlands reden, aber die römische Republik war doch, nach meiner Meinung, ein großer Staat und Rom eine große Stadt. Der letzte Zensus ergab in Rom vierhunderttausend waffenfähige Bürger und die letzte Volkszählung im ganzen Reiche vier Millionen Bürger, wobei alle, die nicht das Bürgerrecht erhalten hatten, und ferner Ausländer, Frauen, Kinder und Sklaven nicht mitgerechnet waren.

Welche Schwierigkeit würde man sich nicht vorstellen,[125] die ungeheure Volksmasse dieser Hauptstadt und ihrer Umgegend häufig zu versammeln! Gleichwohl verstrichen wenige Wochen, daß das römische Volk nicht versammelt worden wäre, ja mitunter sogar mehrmals in der Woche. Nicht allein übte es die oberherrlichen Rechte aus, sondern zum Teil auch die der Regierung. Es verhandelte gewisse Geschäfte, fällte das Urteil in gewissen Prozessen, und das ganze Volk befand sich fast ebensooft in obrigkeitlicher wie in bürgerlicher Eigenschaft auf dem öffentlichen Platze.

Wenn man auf die ältesten Zeiten der Völker zurückginge, würde man finden, daß die meisten alten Regierungen, selbst monarchische, wie die der Mazedonier und Franken, ähnliche Volksberatungen abhielten. Wie dem auch sein möge, so widerlegt schon diese einzige unbestreitbare Tatsache alle gemeinten Schwierigkeiten, der Schluß von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit scheint mir untrüglich zu sein.

Quelle:
ean-Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes. Leipzig [o.J.], S. 125-126.
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Der Gesellschaftsvertrag
Universal-Bibliothek Nr. 1769: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts
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Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts
Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts (insel taschenbuch)
Vom Gesellschaftsvertrag: oder Prinzipien des Staatsrechts (suhrkamp studienbibliothek)