[170] Daß der Mensch auf die Natur selbsttätig wirkt, sie nach Zweck und Absicht bestimmt, vor seinen Augen handeln läßt und gleichsam im Werke belauscht, ist die reinste Ausübung seiner rechtmäßigen Herrschaft über die tote Materie, die ihm mit Vernunft und Freiheit zugleich übertragen wurde. Daß aber die Ausübung dieser Herrschaft möglich ist, verdankt er doch wieder der Natur, die er vergebens zu beherrschen strebte, könnte er sie nicht in Streit mit sich selbst und ihre eignen Kräfte gegen sie in Bewegung setzen.

Besteht das Geheimnis der Natur darin, daß sie entgegengesetzte Kräfte im Gleichgewicht oder in fortdauerndem, nie entschiedenem Streit erhält, so müssen dieselben Kräfte, sobald eine derselben ein fortdauerndes Übergewicht erhält, zerstören, was sie im vorigen Zustande erhielten. Dies zu bewerkstelligen nun ist der Hauptkunstgriff, der in unserer Gewalt steht und dessen wir uns bedienen, um die Materie in ihre Elemente aufzulösen. Dabei haben wir den Vorteil, daß wir die entzweiten Kräfte in Freiheit erblicken, während sie da, wo sie harmonisch zusammenwirken, im ersten Moment ihres Wirkens auch schon wechselseitig durcheinander beschränkt und bestimmt erscheinen.

Wir werden also unsere Betrachtungen der Natur am zweckmäßigsten mit dem Hauptprozeß der Natur, durch welchen Körper zerstört und aufgelöst werden, eröffnen.[170]

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 170-171.
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