Über den Begriff der Kräfte überhaupt und im Newtonianismus insbesondere.
(Zusatz zum zweiten Kapitel.)

[293] Da wir uns über den Begriff der Kräfte hier allgemein erklären wollen, so bemerken wir, auch für die künftige Untersuchung, sogleich, daß, wenn, nach Kant, Materie aus den beiden, einander widerstrebenden Kräften der Attraktion und Repulsion konstruktibel wäre, wir doch, so wenig als wir irgend ein rein Endliches oder Unendliches zugeben (indem dies bloß formelle Faktoren sind und die Identität das schlechthin Eine und erste Reale ist), ebensowenig auch eine reine Expansiv- oder Attraktivkraft zugeben könnten, und daß in dem angenommenen Falle das was wir als die erste bezeichneten als die erste unserer beiden Einheiten, welche Expansion der Identität in der Differenz ist, die andere als die andere, welche Zurücknahme der Differenz in die Identität ist, gedacht werden müßte, jede also der beiden entgegengesetzten Kräfte die andere begriffe.

Allein ebendamit wäre schon der Begriff der Kräfte als solcher aufgehoben, da es zu demselben gehört, daß sie einfach, demnach als rein ideelle Faktoren, gedacht werden, das aber, was wir Expansivkraft nennen würden, vielmehr schon ein Ganzes oder eine Identität aus Expansiv- und Attraktivkraft wäre (beide formell gedacht), ebenso wie das, was wir Attraktivkraft nannten.[293]

Der Begriff dieser beiden Kräfte, wie er bei Kant bestimmt ist, ist also ein bloß formeller, durch die Reflexion erzeugter Begriff.

Betrachten wir denselben in der höheren Anwendung, welche ihm der Newtonianismus gegeben hat, indem er die Umlaufsbewegungen der Weltkörper aus einer in bezug auf das Zentrum gedachten Anziehungs- und Fliehkraft erklärte, so haben sie in dieser Erklärung in der Tat keine höhere Bedeutung, als die einer Hypothese, und wenn Kepler mit den Worten Zentrifugal- und Zentripetalkraft wirklich nichts anderes als das reine Phänomen bezeichnete, so ist dagegen unleugbar, daß im Newtonianismus beide wirklich den Sinn physikalischer Ursachen und Erklärungsgründe erhalten haben.

Es muß bemerkt werden, daß der Begriff von Kraft nicht nur überhaupt, sondern auch insbesondere in dem ebengenannten System ein einseitiges Kausalitätsverhältnis bezeichnet, welches für die Philosophie an sich verwerflich ist. Nicht als ob Newton nicht lehrte, daß auch der angezogene Körper auf den anziehenden Anziehung äußert, und in diesem Verhältnis Wirkung und Gegenwirkung wieder gleich ist, sondern weil er den ersten in der Qualität seines Angezogenwerdens doch bloß passiv sein läßt, und unter dem dynamischen Schein die bloß mechanische Erklärungsart verbirgt. Die Ursache der Zentripetenz des angezogenen Körpers als solche liegt nach Newton in dem anziehenden, da sie vielmehr ein inwohnendes Prinzip des angezogenen selbst ist, der so notwendig auch im Zentro ist, als er in sich selbst absolut ist. Die Zentrifugalkraft als Erklärungsgrund ist nicht minder Hypothese; das Verhältnis der beiden Ursachen in der Hervorbringung des Umlaufs aber ist wiederum als ein ganz formelles gedacht und alle Absolutheit darin aufgehoben.

Wir geben kurz die Hauptideen an, nach welchen alle sogenannten physischen Erklärungen der höheren Verhältnisse der Dinge gewürdigt werden müssen.

In der Sphäre der reinen Endlichkeit als solcher ist ins Endlose jedes bestimmt durch ein anderes Einzelnes ohne Leben in sich selbst; dies ist die Region des bloßen Mechanismus, welche[294] für die Philosophie überall nicht existiert, und in der sie nichts begreift, was sie überhaupt begreift.

In derjenigen Sphäre, worin allein die Philosophie alle Dinge kennt, reißt der mechanische Faden völlig ab, hier ist die Abhängigkeit zugleich Absolutheit, die Absolutheit Abhängigkeit. In derselben ist nichts bloß bestimmt oder bloß bestimmend, denn alles ist absolut Eines, und alle Tätigkeit quillt unmittelbar aus der absoluten Identität hervor. Die Substanz, die Einheit, wird nicht geteilt dadurch, daß sie in eine Vielheit sich zerstreut; denn sie ist nicht durch Negation der Vielheit, sondern kraft ihres Wesens oder ihrer Idee Eine, und hört es auch in der Vielheit nicht auf zu sein. Jedem Ding wohnt also die ungeteilte und unteilbare Substanz bei, welche gemäß den Beschränkungen seiner Form unmittelbar aus sich und ohne äußere Einwirkung alles, was in diesem Ding gesetzt ist, produziert, als ob nichts außer ihm wäre, denn so gewiß jedes Ding für sich in der Absolutheit ist, so gewiß ist es auch mit jedem andern, ohne andere Vermittlung als die der Substanz, eins. Es wird also (in der Schwere z.B.) einem andern Ding nicht durch eine äußere Ursache (eine Ziehkraft), sondern durch die allgemeine prästabilierte Harmonie verbunden, kraft welcher alles eins und eins alles ist. Es ist demnach in dem Universum nichts gedrückt, rein abhängig oder unterjocht, sondern alles ist in sich absolut: und dadurch auch im Absoluten, und weil dieses eins und alles ist, zugleich in allem andern. Die Erde, wenn sie ein Bestreben gegen die Sonne oder einen andern Körper zu haben scheint, gravitiert nicht gegen den Körper der Sonne oder eines andern Gestirns, sondern allein gegen die Substanz; und dieses nicht vermöge eines Kausalitätsverhältnisses, sondern kraft der allgemeinen Identität.

Um auf die sogenannte zentrifugale Neigung die Anwendung zu machen, so ist diese dasselbe inwohnende Prinzip oder Wesen des Weltkörpers, wie die zentripetale; durch jene nämlich ist er in sich absolut, in seiner Besonderheit ein Universum, durch diese ist er im Absoluten: dieses beides ist selbst eins, wie wir gesehen haben, jene beiden fälschlich so bezeichneten Kräfte sind also wahrhaft nur die beiden Einheiten der Ideen, so wie Rhythmus[295] und die Harmonie der aus ihnen entspringenden Bewegungen der Reflex des absoluten Lebens aller Dinge. Für die Erkenntnis dieser hohen Verhältnisse ist also der Verstand völlig tot, nur der Vernunft sind sie offenbar; sie, wie Newton die Zentrifugalkraft, aus göttlicher Wirkung dennoch nur mechanisch fassen, heißt recht eigentlich, um uns mit Spinoza des Ausdrucks eines Alten zu bedienen, mit dem Verstande rasen.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 293-296.
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