Viertes Kapitel.
Erster Ursprung des Begriffs der Materie aus der Natur der Anschauung und des menschlichen Geistes

[309] Der mißlungene Versuch, die allgemeine Anziehung aus physikalischen Ursachen zu erklären, kann wenigstens den Nutzen haben, die Naturwissenschaft aufmerksam zu machen, daß sie sich hier eines Begriffs bediene, der, nicht auf ihrem Grund und Boden entsprossen, seine Beglaubigung anderwärts, in einer hohem Wissenschaft aufsuchen müsse. Denn es kann ihr nicht zugegeben werden, etwas geradezu anzunehmen, wovon sie keinen weitem Grund aufweisen kann. Sie muß gestehen, daß sie auf Prinzipien sich stützt, die aus einer andern Wissenschaft entlehnt sind: damit aber gesteht sie nichts mehr, als was jede andere untergeordnete Wissenschaft gleichfalls gestehen muß, und macht sich zugleich von einer Forderung los, die sie nie ganz abweisen, ebensowenig aber erfüllen konnte.

Die Anmaßung aber, die in der Behauptung zu liegen scheint, daß anziehende und zurückstoßende Kräfte zum Wesen der Materie, als solcher, gehören, hätte die Naturlehrer längst aufmerksam machen können, daß es hier darauf ankomme, den Begriff der Materie selbst bis auf seinen ersten Ursprung zu verfolgen. Denn Kräfte sind doch einmal nichts, das in der Anschauung darstellbar ist. Gleichwohl verläßt man sich auf jene[309] Begriffe von allgemeiner Anziehung und Zurückstoßung so sehr, setzt sie überall so offenbar und bestimmt voraus, daß man von selbst auf den Gedanken gerät, sie müssen, wenn sie nicht selbst Gegenstände möglicher Anschauung, doch Bedingungen der Möglichkeit aller objektiven Erkenntnis sein.

Wir gehen also darauf aus, die Geburtsstätte jener Prinzipien und den Ort aufzusuchen, wo sie eigentlich und ursprünglich zu Hause sind. Und da wir wissen, daß sie notwendig allem vorangehen, was wir über Dinge der Erfahrung behaupten und aussagen können, so müssen wir zum voraus vermuten, daß ihr Ursprung unter den Bedingungen der menschlichen Erkenntnis überhaupt zu suchen ist, und insofern wird unsere Untersuchung eine transzendentale Erörterung des Begriffs von einer Materie überhaupt sein.

Hier sind nun zweierlei Wege möglich. Entweder man analysiert den Begriff der Materie selbst und zeigt etwa, daß sie überhaupt gedacht werden muß als etwas, das den Raum, jedoch unter bestimmten Schranken, erfüllt, daß wir also als Bedingung ihrer Möglichkeit voraussetzen müssen eine Kraft, die den Raum erfüllt, und eine andere jener entgegengesetzte, die dem Raum Grenze und Schranke gibt. Allein bei diesem, sowie bei allem analytischen Verfahren, geschleift es nur gar zu leicht, daß die Notwendigkeit, die der Begriff ursprünglich mit sich führt, unter der Hand verschwindet, und daß man durch die Leichtigkeit, ihn in seine Bestandteile aufzulösen, verführt wird, ihn selbst als einen willkürlichen, selbstgemachten Begriff zu betrachten, so daß ihm am Ende keine andere, als bloß logische Bedeutung übrig bleibt.

Sicherer also ist es, man läßt den Begriff vor seinen Augen gleichsam entstehen, und findet so in seinem Ursprung selbst den Grund seiner Notwendigkeit. Dies ist das synthetische Verfahren.

Da wir deshalb genötigt sind, zu philosophischen Grundsätzen aufzusteigen, so ist es nützlich, ein für allemal die Prinzipien aufzustellen, auf welche wir im Fortgang unserer Untersuchungen immer zurückkommen werden. Denn ich erinnere, daß es nicht allein um den Begriff der (toten) Materie zu tun[310] ist, sondern daß viel weiter entfernte Begriffe uns erwarten, auf welche alle sich der Einfluß jener Prinzipien erstrecken muß. Die tote Materie ist nur die erste Staffel der Wirklichkeit, über welche wir allmählich bis zur Idee einer Natur emporsteigen. Diese ist das letzte Ziel unserer Untersuchungen, das wir schon jetzt im Auge haben müssen.

Die Frage ist: Woher die Begriffe von attraktiver und repulsiver Kraft der Materie? – Aus Schlüssen, antwortet man vielleicht, und glaubt die Sache damit auf einmal geendet zu haben. Die Begriffe von jenen Kräften verdanke ich allerdings den Schlüssen, die ich gemacht habe. Allein Begriffe sind nur Schattenrisse der Wirklichkeit. Sie entwirft ein dienstbares Vermögen, der Verstand, der erst dann eintritt, wenn die Wirklichkeit schon da ist, der nur auffaßt, begreift, festhält, was nur ein schöpferisches Vermögen hervorzubringen imstande war. Weil der Verstand alles, was er tut, mit Bewußtsein tut (daher der Schein seiner Freiheit), so wird unter seinen Händen alles – und die Wirklichkeit selbst – ideal; der Mensch, dessen ganze Geisteskraft auf das Vermögen, sich Begriffe zu machen und Begriffe zu analysieren, zurückgekommen ist, kennt keine Realität, die bloße Frage danach dünkt ihm Unsinn115 Der bloße Begriff ist ein Wort ohne Bedeutung, ein Schall für das Ohr, ohne Sinn für den Geist. Alle Realität, die ihm zukommen kann, leiht ihm doch nur die Anschauung, die ihm voranging. Und[311] deswegen kann und soll im menschlichen Geist Begriff und Anschauung, Gedanke und Bild nie getrennt sein.

Wenn unser ganzes Wissen auf Begriffen beruhte, so wäre keine Möglichkeit da, uns von irgend einer Realität zu überzeugen. Daß wir anziehende und zurückstoßende Kräfte uns Vorstellen – oder auch wohl nur uns vorstellen können – macht sie höchstens zu einem Gedankenwerk. Aber wir behaupten, die Materie sei außer uns wirklich, und der Materie selbst, insofern sie außer uns wirklich (nicht bloß in unsern Begriffen vorhanden) ist, kommen anziehende und zurückstoßende Kräfte zu.

Nichts aber ist für uns wirklich, als was uns, ohne alle Vermittlung durch Begriffe, ohne alles Bewußtsein unserer Freiheit, unmittelbar gegeben ist. Nichts aber gelangt unmittelbar zu uns anders als durch die Anschauung, und deswegen ist Anschauung das Höchste in unserem Erkenntnis. In der Anschauung selbst also müßte der Grund liegen, warum der Materie jene Kräfte notwendig zukommen. Es müßte sich aus der Beschaffenheit unserer äußeren Anschauung dartun lassen, daß, was Objekt dieser Anschauung ist, als Materie, d.h. als Produkt anziehender und zurückstoßender Kräfte angeschaut werden muß. Sie wären also Bedingungen der Möglichkeit äußerer Anschauung, und daher stammte eigentlich die Notwendigkeit, mit der wir sie denken.

Damit kommen wir nun auf die Frage zurück: Was ist Anschauung? Die Antwort darauf gibt die reine theoretische Philosophie; hier, da es um ihre Anwendung zu tun ist, können nur ihre Resultate kurz wiederholt werden.

Der Anschauung, sagt man, muß vorangehen ein äußerer Eindruck. – Woher dieser 116Eindruck? – Davon späterhin. Wichtiger[312] für unsern Zweck ist es, zu fragen: wie ein Eindruck auf uns möglich sei. Auch auf die tote Masse, von der jener Ausdruck hergenommen ist, kann nicht gewirkt werden, es sei denn, daß sie zurückwirke. Aber auf mich soll nicht gewirkt werden, wie auf die tote Materie, sondern diese Wirkung soll zum Bewußtsein kommen. Ist dies, so muß der Eindruck nicht nur auf eine ursprüngliche Tätigkeit in mir geschehen, sondern diese Tätigkeit muß auch nach dem Eindruck noch frei bleiben, um ihn zum Bewußtsein erheben zu können.

Es gibt Philosophen, die das Wesen (die Tiefen) der Menschheit erschöpft zu haben glauben, wenn sie alles in uns auf Denken und Vorstellen zurückführen. Allein man begreift nicht, wie für ein Wesen, das ursprünglich nur denkt und vorstellt, irgend etwas außer ihm Realität haben könne. Für ein solches Wesen müßte die ganze wirkliche Welt (die doch nur in seinen Vorstellungen da ist) ein bloßer Gedanke sein. Daß etwas ist, und unabhängig von mir ist, kann ich nur dadurch wissen, daß ich mich schlechterdings genötigt fühle, dieses Etwas mir vorzustellen, wie kann ich aber diese Nötigung fühlen, ohne das gleichzeitige Gefühl, daß ich in Ansehung alles Vorstellens ursprünglich frei bin, und daß Vorstellen nicht mein Wesen selbst, sondern nur eine Modifikation meines Seins ausmacht.

Nur einer freien Tätigkeit in mir gegenüber nimmt, was frei auf mich wirkt, die Eigenschaften der Wirklichkeit an; nur an der ursprünglichen Kraft meines Ich bricht sich die Kraft einer Außenwelt. Aber umgekehrt auch (sowie der Lichtstrahl nur an Körpern zur Farbe wird)117 wird die ursprüngliche Tätigkeit in mir erst am Objekte zum Denken, zum selbstbewußten Vorstellen.

Mit dem ersten Bewußtsein einer Außenwelt ist auch das Bewußtsein meiner selbst da, und umgekehrt, mit dem ersten Moment[313] meines Selbstbewußtseins tut sich die wirkliche Welt vor mir auf. Der Glaube an die Wirklichkeit außer mir entsteht und wächst mit dem Glauben an mich selbst; einer ist so notwendig als der andere; beide – nicht spekulativ getrennt, sondern in ihrer vollsten, innigsten Zusammenwirkung – sind das Element meines Lebens und meiner ganzen Tätigkeit.

Es gibt Menschen, welche glauben, daß man sich der Wirklichkeit nur durch die absoluteste Passivität versichern könne. Allein dies ist der Charakter der Menschheit (wodurch sie sich von der Tierheit scheidet), daß sie das Wirkliche nur in dem Maße erkennt und genießt, als sie imstande ist sich darüber zu erheben. Auch spricht die Erfahrung laut dagegen, die an vielfachen Beispielen zeigt, daß in den höchsten Momenten der Anschauung, des Erkennens und des Genusses Tätigkeit und Leiden in vollster Wechselwirkung sind, denn daß ich leide, weiß ich nur dadurch, daß ich tätig bin, und daß ich tätig bin nur dadurch, daß ich leide. Je tätiger der Geist, desto höher der Sinn, und umgekehrt, je dumpfer der Sinn, desto niedergedrückter der Geist. Wer anders ist, schaut auch anders an, und wer anders anschaut, ist auch anders. Der freie Mensch allein weiß, daß eine Welt außer ihm ist; dem andern ist sie nichts, als ein Traum, aus dem er niemals erwacht.

Allem Denken und Vorstellen in uns geht also notwendig voran eine ursprüngliche Tätigkeit, die, weil sie allem Denken vorangeht, insofern schlechthin – unbestimmt und unbeschränkt ist. Erst nachdem ein Entgegengesetztes da ist, wird sie beschränkte, und eben deswegen bestimmte (denkbare) Tätigkeit. Wäre diese Tätigkeit unseres Geistes ursprünglich beschränkt (so wie es die Philosophen sich einbilden, die alles auf Denken und Vorstellen zurückführen), so könnte der Geist niemals sich beschränkt fühlen. Er fühlt seine Beschränktheit nur, insofern er zugleich seine ursprüngliche Unbeschränktheit fühlt118

Auf diese ursprüngliche Tätigkeit nun wirkt – (so scheint es uns wenigstens von dem Standpunkte aus, auf welchem wir hier[314] stehen) – eine ihr entgegengesetzte bis jetzt gleichfalls völlig unbestimmte Tätigkeit, und so haben wir zwei einander widersprechende Tätigkeiten als notwendige Bedingungen der Möglichkeit einer Anschauung.

Woher jene entgegengesetzte Tätigkeit? – Diese Frage ist ein Problem, das wir ins Unendliche fort aufzulösen streben müssen, aber nie real auflösen werden. Unser gesamtes Wissen und mit ihm die Natur in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit entsteht aus unendlichen Approximationen zu jenem x, und nur in unserm ewigen Bestreben, es zu bestimmen, findet die Welt ihre Fortdauer. – Damit ist uns unsere ganze weitere Bahn vorgezeichnet. Unser ganzes Geschäft wird nichts sein, als ein fortgehender Versuch, jenes x zu bestimmen, oder vielmehr, unsern eigenen Geist in seinen unendlichen Produktionen zu verfolgen. Denn darin liegt das Geheimnis unserer geistigen Tätigkeit, daß wir genötigt sind, uns ins Unendliche fort einem Punkt anzunähern, der ins Unendliche fort jeder Bestimmung entflieht. Es ist der Punkt, gegen welchen hin unser ganzes geistiges Bestreben gerichtet ist, und der sich eben deswegen immer weiter entfernt, je näher wir ihm zu kommen versuchen. Hätten wir ihn je erreicht, so sänke das ganze System unseres Geistes – diese Welt, die nur im Streit entgegengesetzter Bestrebungen ihre Fortdauer findet – ins Nichts zurück, und das letzte Bewußtsein unserer Existenz verlöre sich in seiner eigenen Unendlichkeit.

Als der erste Versuch, jenes x zu bestimmen, wird sich uns bald der Begriff von Kraft zeigen. Die Objekte selbst können wir nur als Produkte von Kräften betrachten, und damit verschwindet von selbst das Hirngespinst von Dingen an sich, die die Ursachen unserer Vorstellung sein sollten. – Überhaupt, was vermag auf den Geist zu wirken, als er selbst, oder was seiner Natur verwandt ist. Darum ist es notwendig, die Materie als ein Produkt von Kräften vorzustellen; denn Kraft allein ist das Nichtsinnliche an den Objekten, und nur was ihm selbst analog ist, kann der Geist sich gegenüberstellen.

Ist nun die erste Einwirkung geschehen, was erfolgt? – Durch jene Einwirkung kann die ursprüngliche Tätigkeit nicht vernichtet, sie kann nur beschränkt, oder wenn man einen[315] zweiten Ausdruck aus der Erfahrungswelt entlehnen will, reflektiert werden. Aber der Geist soll sich als beschränkt fühlen, und dies kann er nicht, ohne daß er fortfahre überhaupt frei zu handeln und auf den Punkt jenes Widerstands zurückzuwirken.

Im Gemüte sind also vereinigt Tätigkeit und Leiden, eine ursprünglich-freie, und insofern unbeschränkte Tätigkeit nach außen, und eine andere, dem Gemüt abgedrungene (reflektierte) Tätigkeit auf sich selbst. Die letztere kann man betrachten als die Schranke der erstern. Jede Schranke aber ist nur als Negation eines Positiven denkbar. Also ist jene Tätigkeit positiver, diese negativer Art. Jene äußert sich völlig unbestimmt und geht insofern ins Unendliche, diese gibt jener Ziel, Grenze und Bestimmtheit und geht insofern notwendig auf ein Endliches.

Soll das Gemüt sich als beschränkt fühlen, so muß es diese zwei entgegengesetzten Tätigkeiten, die unbeschränkte und die beschränkende, frei zusammenfassen. Nur indem es diese auf jene und umgekehrt bezieht, fühlt es seine jetzige Beschränktheit zugleich mit seiner ursprünglichen Unbeschränktheit.

Wenn also das Gemüt, Tätigkeit und Leiden in sich, positive und negative Tätigkeit in Einem Momente zusammenfaßt, was wird das Produkt dieser Handlung sein119?

Das Produkt entgegengesetzter Tätigkeiten ist immer etwas Endliches. Das Produkt wird also ein endliches Produkt sein.

Ferner, das gemeinschaftliches Produkt unbeschränkter und beschränkender Tätigkeit sein soll, so wird es vorerst in[316] sich begreifen eine Tätigkeit, die an sich (ihrer Natur nach) nicht beschränkt ist, sondern, wenn sie beschränkt werden soll, erst durch ein Entgegenstrebendes beschränkt werden muß. Das Produkt aber soll ein Endliches – soll ein gemeinschaftliches Produkt entgegengesetzter Tätigkeiten sein, also wird es auch die entgegengesetzte Tätigkeit enthalten, welche ursprünglich und ihrer Natur nach beschränkend ist. So, durch Zusammenwirkung einer ursprünglich-positiven und einer ursprünglich-negativen Tätigkeit, wird das gemeinschaftliche Produkt entstehen, das wir suchten.

Man bemerke noch folgendes: Die negative Tätigkeit, die ursprünglich und ihrer Natur nach für uns nur beschränkende Tätigkeit ist, kann gar nicht handeln, ohne daß ein Positives vorhanden sei, das sie beschränkt. Aber ebenso ist die positive Tätigkeit nur positiv im Gegensatz gegen eine ursprüngliche Negation. Denn wäre sie absolut (schrankenlos), so könnte sie selbst nur noch negativ (als absolute Negation aller Negation) vorgestellt werden. Beide also, unbeschränkte und beschränkende Tätigkeit, setzen jede ihr Entgegengesetztes voraus. In jenem Produkt also müssen beide Tätigkeiten mit gleicher Notwendigkeit vereinigt sein.

Jene Handlung des Geistes nun, in welcher er aus Tätigkeit und Leiden – aus unbeschränkter und beschränkender Tätigkeit in sich selbst ein gemeinschaftliches Produkt schafft, heißt – Anschauung.

Also – dies ist der Schluß, den wir aus dem Bisherigen zu ziehen berechtigt sind – das Wesen der Anschauung, das, was die Anschauung zur Anschauung macht, ist, daß in ihr absolut-entgegengesetzte, wechselseitig sich beschränkende Tätigkeiten vereinigt sind. Oder anders ausgedrückt: Das Produkt der Anschauung ist notwendig ein endliches, das aus entgegengesetzten, wechselseitig sich beschränkenden Tätigkeiten 120hervorgeht.[317]

Daraus ist klar, warum Anschauung nicht – wie viele vorgebliche Philosophen sich einbilden – die unterste – sondern die erste Stufe des Erkennens, das Höchste im menschlichen Geiste, dasjenige ist, was eigentlich seine Geistigkeit ausmacht. Denn ein Geist ist, was aus dem ursprünglichen Streite seines Selbstbewußtseins eine objektive Welt zu schaffen und dem Produkt in diesem Streit selbst Fortdauer zu geben vermag. – Im toten Objekt ruht alles, in ihm herrscht kein Streit, sondern ewiges Gleichgewicht. Wo physische Kräfte sich entzweien, bildet sich allmählich belebte Materie; in diesem Kampf entzweiter Kräfte dauert das Lebendige fort, und darum allein betrachten wir es als ein sichtbares Analogen des Geistes. Im geistigen Wesen aber ist ein ursprünglicher Streit entgegengesetzter Tätigkeiten, aus diesem Streit erst geht – (eine Schöpfung aus Nichts) – hervor eine wirkliche Welt. Mit dem unendlichen Geist erst ist auch eine Welt (der Spiegel seiner Unendlichkeit) da, und die ganze Wirklichkeit ist doch nichts anders, als jener ursprüngliche Streit in unendlichen Produktionen und Reproduktionen. Kein objektives Dasein ist möglich, ohne daß es ein Geist erkenne, und umgekehrt: kein Geist ist möglich, ohne daß eine Welt für ihn daseie.

Vorausgesetzt also wird jetzt, daß Anschauung selbst unmöglich ist, ohne ursprünglich-streitende Tätigkeiten, und umgekehrt, daß der Geist nur in der Anschauung den ursprünglichen Streit seines Selbstbewußtseins zu enden vermöge121.[318]

Von selbst ist nun klar, daß auch das Produkt der Anschauung jene entgegengesetzte Tätigkeiten in sich vereinigen muß. Nur weil es ein schöpferisches Vermögen in uns aus diesem Streit hervorgehen ließ, kann es nun der Verstand auffassen als ein Produkt, das, unabhängig von ihm, durch den Zusammenstoß entgegengesetzter Kräfte wirklich geworden ist. Dieses Produkt ist also nicht da durch Zusammensetzung seiner Teile, sondern umgekehrt, seine Teile sind da, erst nachdem das Ganze – jetzt erst ein mögliches Objekt des teilenden Verstandes – durch ein schöpferisches Vermögen (das nur ein Ganzes hervorbringen kann) wirklich geworden ist. – Und so gehen wir der bestimmten Ableitung der dynamischen Grundsätze entgegen.

115

In unserem Zeitalter wurde zuerst – in ihrer höchsten Allgemeinheit und Bestimmtheit – die Frage aufgeworfen: Woher stammt eigentlich das Reale in unsern Vorstellungen? Wie kommt es, daß wir von einem Dasein außer uns, obgleich es nur durch unsere Vorstellung uns kund wird, doch so unüberwindlich und unerschütterlich fest überzeugt sind, als von unserem eigenen Dasein? – Man hätte denken sollen, daß, wer diese Frage unnütz glaubte, sich enthalten würde, darüber mitzusprechen. Keineswegs! Man hat diese Frage als eine bloß spekulative vorzustellen gesucht. Sie ist aber eine Frage, die den Menschen angeht, und auf die nur ein bloß spekulatives Wissen nicht führt. »Wer nichts Reales in sich und außer sich fühlt und erkennt, – wer überhaupt nur von Begriffen lebt und mit Begriffen spielt – wem seine eigene Existenz selbst nichts als ein matter Gedanke ist, wie kann der doch über Realität (der Blinde über die Farben) sprechen?«

116

Allein enthalten kann ich mich doch nicht, schon hier zu fragen, was dieser Ausdruck bedeuten soll. Menschenalter hindurch sind oft Ausdrücke im Gebrauch, an deren Realität kein Mensch zweifelt – gewöhnlich weit größere Hindernisse des Fortschreitens, als selbst falsche Begriffe, die nicht so fest wie Worte dem Gedächtnis anhängen.

117

Dieses Bild ist uralt – (derselbe Philosoph, der es brauchte, sagte das treffliche Wort: logou archê ou logos, alla ti kreitton) – Es gibt noch andere nahe liegende Dinge, die man zur Erläuterung des Obigen brauchen kann. So wird der freie Wille, nur an fremdem Willen gebrochen, zum Recht usw.

118

Liegt hier die Quelle der platonischen Mythen?

119

Es kann Leser geben, die sich entgegengesetzte Tätigkeiten in uns etwa noch denken können, die aber nie gefühlt haben, daß auf jenem ursprünglichen Streit in uns selbst das ganze Triebwerk unserer geistigen Tätigkeit beruht. Diese werden nun nicht begreifen können, wie aus zwei bloß gedachten Tätigkeiten etwas anderes, als wiederum etwas bloß Gedachtes entstehe. Darin haben sie auch vollkommen Recht. – Hier aber ist die Rede von entgegengesetzten Tätigkeiten in uns, insofern sie gefühlt und empfunden werden. Und aus diesem gefühlten und ursprüng lich-empfundenen Streit in uns selbst, wollen wir, daß das Wirkliche hervorgehe.

120

Diese ganze Ableitung folgt den Grundsätzen einer Philosophie, die, bewundernswürdig wegen des Umfangs und der Tiefe ihrer Untersuchungen, nachdem sie durch eine Menge großenteils schlechter Schriften, die sich ewig in denselben Worten und Zirkeln herumdrehten, ihrem Buchstaben nach sattsam bekannt gemacht war, endlich einen selbsttätigeren Interpreten fand, der dadurch, daß er es zuerst unternahm, ihren Geist darzustellen, der zweite Schöpfer dieser Philosophie wurde. Aber bis jetzt noch haben nur parteiische, oder geistesschwache, oder endlich gar spaßhafte Schriftsteller – ihr respektives Urteil über diese Unternehmung dem Publikum vorgelegt. –

121

Dies bestätigt die gemeinste Aufmerksamkeit auf das, was beim Anschauen vorgeht. – Was man beim Anblick von Gebirgen, die in die Wolken sich verlieren, beim donnernden Sturz einer Katarakte, überhaupt bei allem, was groß und herrlich ist in der Natur, empfindet – jenes Anziehen und Zurückstoßen zwischen dem Gegenstand und dem betrachtenden Geist, jenen Streit entgegengesetzter Richtungen, den erst die Anschauung endet – alles das geht, nur transzendental und bewußtlos, bei der Anschauung über haupt vor. – Diejenigen, die so etwas nicht begreifen, haben gewöhnlich nichts vor sich, als ihre kleinen Gegenstände – ihre Bücher, ihre Papiere und ihren Staub. Wer wollte aber auch Menschen, deren Einbildungskraft durch Gedächtniskram, tote Spekulation, oder Analyse abstrakter Begriffe ertötet ist – wer, wissenschaftlich – oder gesellschaftlich – verdorbene Menschen – der menschlichen Natur (so reich, so tief, so kraftvoll in sich selbst) zum Maßstab aufdringen? Jenes Vermögen der Anschauung zu üben, muß der erste Zweck jeder Erziehung sein. Denn sie ist das, was den Menschen zum Menschen macht. Keinem Menschen, die Blinden ausgenommen, kann man absprechen, daß er sieht. Aber daß er mit Bewußtsein anschaue, dazu gehört ein freier Sinn und ein geistiges Organ, das so vielen versagt ist.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 309-319.
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