II. Deduktion der Mittelglieder der absoluten Synthesis
Vorerinnerung

[69] Zu dieser Deduktion sind uns durch das Bisherige folgende Data gegeben.

1. Das Selbstbewußtsein ist der absolute Akt, durch welchen für das Ich alles gesetzt ist.

Unter diesem Akt wird nicht etwa der mit Freiheit hervorgebrachte, den der Philosoph postuliert, und welcher eine höhere Potenz des ursprünglichen ist, sondern der ursprüngliche, der, weil er Bedingung alles Begrenzt- und Bewußtseins ist, selbst nicht zum Bewußtsein kommt, verstanden. Es entsteht vor allem die Frage, von welcher Art jener Akt sei, ob er ein willkürlicher oder unwillkürlicher sei. Jener Akt kann weder willkürlich noch unwillkürlich genannt werden; denn diese Begriffe gelten nur in der Sphäre der Erklärbarkeit überhaupt; eine Handlung, die willkürlich oder unwillkürlich ist, setzt schon Begrenztheit (Bewußtsein) voraus. Diejenige Handlung, welche Ursache alles Begrenztseins und aus keiner andern mehr erklärbar ist, muß absolut frei sein. Absolute Freiheit aber ist identisch mit absoluter Notwendigkeit. Könnten wir uns z.B. ein Handeln in Gott denken, so müßte es absolut frei sein, aber diese absolute Freiheit wäre zugleich absolute Notwendigkeit, weil in Gott kein Gesetz und kein Handeln denkbar ist, was nicht aus der Innern Notwendigkeit seiner Natur hervorgeht. Ein solcher Akt ist der ursprüngliche des Selbstbewußtseins, absolut frei, weil er durch nichts außer dem Ich bestimmt ist, absolut notwendig, weil er aus der innern Notwendigkeit der Natur des Ichs hervorgeht.

Nun entsteht aber die Frage, wodurch der Philosoph sich jenes ursprünglichen Akts versichere, oder um ihn wisse. Offenbar nicht unmittelbar, sondern nur durch Schlüsse. Ich finde nämlich durch Philosophie, daß ich mir selbst in jedem Augenblick[69] nur durch einen solchen Akt entstehe, ich schließe also, daß ich ursprünglich gleichfalls nur durch einen solchen entstanden sein kann. Ich finde, daß das Bewußtsein einer objektiven Welt in jeden Moment meines Bewußtseins verflochten ist, ich schließe also, daß etwas Objektives ursprünglich schon in die Synthesis des Selbstbewußtseins mit eingehen und aus dem evolvierten Selbstbewußtsein wieder hervorgehen muß.

Wenn nun aber der Philosoph auch jenes Akts als Akts sich versichert, wie versichert er sich seines bestimmten Gehalts? Ohne Zweifel durch die freie Nachahmung dieses Akts, mit: welcher alle Philosophie beginnt. Woher weiß denn aber der Philosoph, daß jener sekundäre, willkürliche Akt identisch sei mit jenem ursprünglichen und absolut freien? Denn wenn durch das Selbstbewußtsein alle Begrenzung, also auch alle Zeit erst entsteht, so kann jener ursprüngliche Akt nicht in die Zeit selbst fallen; daher kann man dem Vernunftwesen an sich so wenig sagen, es habe angefangen zu sein, als man sagen kann, es habe seit aller Zeit existiert, das Ich als Ich ist absolut ewig, d.h. außer aller Zeit; nun fällt aber jener sekundäre Akt notwendig in einen bestimmten Zeitmoment, woher weiß der Philosoph, daß dieser mitten in die Zeitreihe fallende Akt übereinstimmt mit jenem außer aller Zeit fallenden, durch welchen alle Zeit erst konstituiert wird? – Das Ich, einmal in die Zeit versetzt, ist ein steter Übergang von Vorstellung zu Vorstellung; nun steht es allerdings in seiner Gewalt, diese Reihe durch Reflexion zu unterbrechen, mit der absoluten Unterbrechung jener Sukzession beginnt alles Philosophieren, von jetzt an wird dieselbe Sukzession willkürlich, die vorher unwillkürlich war; aber woher weiß der Philosoph, daß dieser in die Reihe seiner Vorstellungen durch Unterbrechung gekommene Akt derselbe sei mit jenem ursprünglichen, mit welchem die ganze Reihe beginnt?

Wer nur überhaupt einsieht, daß das Ich nur durch eignes Handeln entsteht, wird auch einsehen, daß mir durch die willkürliche Handlung mitten in der Zeitreihe, durch welche nur das Ich entsteht, nichts anderes entstehen kann, als was mir ursprünglich und jenseits aller Zeit dadurch entsteht. Nun dauert[70] überdies jener ursprüngliche Akt des Selbstbewußtseins immer fort, denn die ganze Reihe meiner Vorstellungen ist nichts anderes als Evolution jener Einen Synthesis. Dazu gehört, daß ich mir in jedem Augenblick ebenso entstehen kann, wie ich mir ursprünglich entstehe. Was ich bin, bin ich nur durch mein Handeln (denn ich bin absolut frei), aber durch dieses bestimmte Handeln entsteht mir immer nur das Ich, also muß ich schließen, daß es auch ursprünglich durch dasselbe Handeln entsteht. –

Eine allgemeine Reflexion, welche an das Gesagte sich anschließt, findet hier ihre Stelle. Wenn die erste Konstruktion der Philosophie Nachahmung einer ursprünglichen ist, so werden alle ihre Konstruktionen nur solche Nachahmungen sein. Solange das Ich in der ursprünglichen Evolution der absoluten Synthesis begriffen ist, ist nur Eine Reihe von Handlungen, die der ursprünglichen und notwendigen; sobald ich diese Evolution unterbreche, und mich freiwillig in den Anfangspunkt der Evolution zurückversetze, entsteht mir eine neue Reihe, in welcher frei ist, was in der ersten notwendig war. Jene ist das Original, diese die Kopie oder Nachahmung. Ist in der zweiten Reihe nicht mehr und nicht weniger als in der ersten, so ist die Nachahmung vollkommen, es entsteht eine wahre und vollständige Philosophie. Im entgegengesetzten Falle entsteht eine falsche und unvollständige.

Philosophie überhaupt ist also nichts anderes als freie Nachahmung, freie Wiederholung der ursprünglichen Reihe von Handlungen, in welcher der Eine Akt des Selbstbewußtseins sich evolviert. Die erste Reihe ist in bezug auf die zweite reell, diese in bezug auf jene ideell. Es scheint unvermeidlich, daß in die zweite Reihe Willkür sich einmische, denn die Reihe wird frei begonnen und fortgeführt, aber die Willkür darf nur formell sein, und nicht den Inhalt der Handlung bestimmen.

Die Philosophie, weil sie das ursprüngliche Entstehen des Bewußtseins zum Objekt hat, ist die einzige Wissenschaft, in welcher jene doppelte Reihe ist. In jeder andern Wissenschaft ist nur Eine Reihe. Das philosophische Talent besteht nun eben nicht allein darin, die Reihe der ursprünglichen Handlungen frei wiederholen zu können, sondern hauptsächlich darin, sich in dieser[71] freien Wiederholung wieder der ursprünglichen Notwendigkeit jener Handlungen bewußt zu werden.

2. Das Selbstbewußtsein (das Ich) ist ein Streit absolut entgegengesetzter Tätigkeiten. Die eine ursprünglich ins Unendliche gehende, werden wir die reelle, objektive, begrenzbare nennen, die andere, die Tendenz sich in jener Unendlichkeit anzuschauen, heißt die ideelle, subjektive, unbegrenzbare.

3. Beide Tätigkeiten werden ursprünglich als gleich unendlich gesetzt. Die begrenzbare als endlich zu setzen, ist uns schon durch die ideelle (die reflektierende der ersten) ein Grund gegeben. Wie also die ideelle Tätigkeit begrenzt werden könne, muß erst abgeleitet werden. Der Akt des Selbstbewußtseins, von dem wir ausgehen, erklärt uns zunächst nur, wie die objektive, nicht wie die subjektive Tätigkeit begrenzt werde, und da die ideelle Tätigkeit als Grund alles Begrenztseins der objektiven gesetzt ist, so wird sie eben deswegen nicht als ursprünglich unbegrenzt (daher begrenzbar wie diese), sondern als schlechthin unbegrenzbar gesetzt. Wenn jene als ursprünglich unbegrenzte, aber eben deswegen begrenzbare, der Materie nach frei, aber der Form nach eingeschränkt ist, so wird diese als ursprünglich unbegrenzbare, eben deswegen, wenn sie begrenzt wird, der Materie nach nicht frei, und nur der Form nach frei sein. Auf dieser Unbegrenzbarkeit der ideellen Tätigkeit beruht alle Konstruktion der theoretischen Philosophie, in der praktischen möchte sich wohl das Verhältnis umkehren.

4. Da sonach (2. 3.) im Selbstbewußtsein ein unendlicher Widerstreit ist, so ist in dem Einen absoluten Akt, von dem wir ausgehen, eine Unendlichkeit von Handlungen, welche ganz zu durchschauen Gegenstand einer unendlichen Aufgabe ist, – (wenn sie je vollständig gelöst wäre, so müßte uns der ganze Zusammenhang der objektiven Welt, und alle Bestimmungen der Natur bis ins unendlich Kleine herab enthüllt sein) – vereinigt und zusammendrängt. Die Philosophie kann also nur diejenigen Handlungen, die in der Geschichte des Selbstbewußtseins gleichsam Epoche machen, aufzählen, und in ihrem Zusammenhang[72] miteinander aufstellen (So ist z.B. die Empfindung eine Handlung des Ichs, die, wenn alle Zwischenglieder derselben dargelegt werden könnten, uns auf eine Deduktion aller Qualitäten in der Natur führen müßte, was unmöglich ist.)

Die Philosophie ist also eine Geschichte des Selbstbewußtseins, die verschiedene Epochen hat, und durch welche jene Eine absolute Synthesis sukzessiv zusammengesetzt wird.

5. Das progressive Prinzip in dieser Geschichte ist die ideelle als unbegrenzbar vorausgesetzte Tätigkeit. Die Aufgabe der theoretischen Philosophie: die Idealität der Schranke zu erklären, ist = der, zu erklären, wie auch die bis jetzt als unbegrenzbar angenommene ideelle Tätigkeit begrenzt werden könne.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 2, Leipzig 1907, S. 69-73.
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