§ 3. Vorläufige Einteilung der Transzendental-Philosophie

[20] Vorläufig ist diese Einteilung, weil die Prinzipien der Einteilung erst in der Wissenschaft selbst abgeleitet werden können. Wir gehen auf den Begriff der Wissenschaft zurück. Die Transzendental-Philosophie hat zu erklären, wie das Wissen überhaupt möglich sei, vorausgesetzt, daß das Subjektive in demselben als das Herrschende oder Erste angenommen werde.

Es ist also nicht ein einzelner Teil, noch ein besonderer Gegenstand des Wissens, sondern das Wissen selbst, und das Wissen überhaupt, was sie sich zum Objekt macht.

Nun reduziert sich aber alles Wissen auf gewisse ursprüngliche Überzeugungen, oder unsprüngliche Vorurteile; diese einzelnen Überzeugungen muß die Transzendental-Philosophie auf Eine ursprüngliche Überzeugung zurückführen; diese Eine, aus, welcher alle anderen abgeleitet werden, wird ausgedrückt im ersten Prinzip dieser Philosophie, und die Aufgabe, ein. solches zu finden, heißt nichts anderes, als das absolut-Gewisse zu finden, durch welches alle andere Gewißheit vermittelt ist.

Die Einteilung der Transzendental-Philosophie selbst wird bestimmt durch jene ursprünglichen Überzeugungen, deren Gültigkeit sie in Anspruch nimmt. Diese Überzeugungen müssen vorerst im gemeinen Verstande aufgesucht werden. – Wenn man sich also auf den Standpunkt der gemeinen Ansicht zurückversetzt, so findet man folgende Überzeugungen tief eingegraben in dem menschlichen Verstand.

A. Daß nicht nur unabhängig von uns eine Welt von Dingen außer uns existiere, sondern auch, daß unsere Vorstellungen so mit ihnen übereinstimmen, daß an den Dingen nichts anderes ist, als was wir an ihnen vorstellen. – Der Zwang in unsern objektiven Vorstellungen wird daraus erklärt, daß die Dinge unveränderlich bestimmt, und durch diese Bestimmtheit der Dinge mittelbar auch unsere Vorstellungen bestimmt seien. Durch diese erste und ursprünglichste Überzeugung ist die erste Aufgabe der Philosophie bestimmt: zu erklären, wie Vorstellungen absolut[20] übereinstimmen können mit ganz unabhängig von ihnen existierenden Gegenständen. – Da auf der Annahme, daß die Dinge gerade das sind, was wir an ihnen vorstellen, daß wir also allerdings die Dinge erkennen, wie sie an sich sind, die Möglichkeit aller Erfahrung beruht (denn was wäre die Erfahrung, und wohin würde sich z.B. die Physik verirren, ohne jene Voraussetzung der absoluten Identität des Seins und des Erscheinens?) – so ist die Auflösung dieser Aufgabe identisch mit der theoretischen Philosophie, welche die Möglichkeit der Erfahrung zu untersuchen hat.

B. Die zweite ebenso ursprüngliche Überzeugung ist, daß Vorstellungen, die ohne Notwendigkeit, durch Freiheit, in uns entstehen, aus der Welt des Gedankens in die wirkliche Welt übergehen und objektive Realität erlangen können.

Diese Überzeugung ist der ersten entgegengesetzt. Nach der ersten wird angenommen: die Gegenstände seien unveränderlich bestimmt, und durch sie unsere Vorstellungen; nach der andern: die Gegenstände seien veränderlich, und zwar durch die Kausalität von Vorstellungen in uns. Nach der ersten Überzeugung findet ein Übergang aus der wirklichen Welt in die Welt der Vorstellung, oder ein Bestimmtwerden der Vorstellung durch ein Objektives, nach der zweiten ein Übergang aus der Welt der Vorstellung in die wirkliche, oder ein Bestimmtwerden des Objektiven durch eine (frei entworfene) Vorstellung in uns statt.

Durch diese zweite Überzeugung ist ein zweites Problem bestimmt, dieses: wie durch ein bloß Gedachtes ein Objektives veränderlich sei, so, daß es mit dem Gedachten vollkommen übereinstimme.

Da auf jener Voraussetzung die Möglichkeit alles freien Handelns beruht, so ist die Auflösung dieser Aufgabe praktische Philosophie.

C. Aber mit diesen beiden Problemen sehen wir uns in einen Widerspruch verwickelt. – Nach B wird gefordert eine Herrschaft des Gedankens (des Ideellen) über die Sinnenwelt; wie ist aber eine solche denkbar, wenn (nach A) die Vorstellung in ihrem Ursprung schon nur die Sklavin des Objektiven ist? – Umgekehrt, ist die wirkliche Welt etwas von uns ganz Unabhängiges,[21] wonach (als ihrem Urbild) unsere Vorstellung sich richten muß (nach A), so ist unbegreiflich, wie hinwiederum die wirkliche Welt sich nach Vorstellungen in uns richten könne (nach B). – Mit Einem Wort, über der theoretischen Gewißheit geht uns die praktische, über der praktischen die theoretische verloren; es ist unmöglich, daß zugleich in unserem Erkenntnis Wahrheit, und in unserem Wollen Realität sei.

Dieser Widerspruch muß aufgelöst werden, wenn es überhaupt eine Philosophie gibt – und die Auflösung dieses Problems, oder die Beantwortung der Frage: wie können die Vorstellungen zugleich als sich richtend nach den Gegenständen, und die Gegenstände als sich richtend nach den Vorstellungen gedacht werden? ist nicht die erste, aber die höchste Aufgabe der Transzendental-Philosophie.

Es ist leicht einzusehen, daß dieses Problem weder in der theoretischen noch in der praktischen Philosophie ausgelöst werden kann, sondern in einer höheren, die das verbindende Mittelglied beider, und weder theoretisch noch praktisch, sondern beides zugleich ist.

Wie zugleich die objektive Welt nach Vorstellungen in uns, und Vorstellungen in uns nach der objektiven Welt sich bequemen, ist nicht zu begreifen, wenn nicht zwischen den beiden Welten, der ideellen und der reellen, eine vorherbestimmte Harmonie existiert. Diese vorherbestimmte Harmonie aber ist selbst nicht denkbar, wenn nicht die Tätigkeit, durch welche die objektive Welt produziert ist, ursprünglich identisch ist mit der, welche im Wollen sich äußert, und umgekehrt.

Nun ist es allerdings eine produktive Tätigkeit, welche im Wollen sich äußert; alles freie Handeln ist produktiv, nur mit Bewußtsein produktiv. Setzt man nun, da beide Tätigkeiten doch nur im Prinzip Eine sein sollen, daß dieselbe Tätigkeit, welche im freien Handeln mit Bewußtsein produktiv ist, im Produzieren der Welt ohne Bewußtsein produktiv sei, so ist jene vorausbestimmte Harmonie wirklich, und der Widerspruch gelöst. Setzt man, dies alles verhalte sich wirklich so, so wird jene[22] ursprüngliche Identität der im Produzieren der Welt geschäftigen Tätigkeit mit der, welche im Wollen sich äußert, in den Produkten der ersten sich darstellen, und diese Produkte werden erscheinen müssen als Produkte einer zugleich bewußten und bewußtlosen Tätigkeit.

Die Natur, als Ganzes sowohl, als in ihren einzelnen Produkten, wird als ein mit Bewußtsein hervorgebrachtes Werk, und doch zugleich als Produkt des blindesten Mechanismus erscheinen müssen; sie ist zweckmäßig, ohne zweckmäßig erklärbar zu sein. – Die Philosophie der Naturzwecke, oder die Teleologie ist also jener Vereinigungspunkt der theoretischen und praktischen Philosophie.

D. Es ist bisher nur überhaupt die Identität der bewußtlosen Tätigkeit, welche die Natur hervorgebracht hat, und der bewußten, die im Wollen sich äußert, postuliert worden, ohne daß entschieden wäre, wohin das Prinzip jener Tätigkeit falle, ob in die Natur, oder in uns.

Nun ist aber das System des Wissens nur alsdann als vollendet zu betrachten, wenn es in sein Prinzip zurückkehrt. – Die Transzendental-Philosophie wäre also nur alsdann vollendet, wenn sie jene Identität – die höchste Auflösung ihres ganzen Problems – in ihrem Prinzip (im Ich) nachweisen könnte.

Es wird also postuliert, daß im Subjektiven, im Bewußtsein selbst, jene zugleich bewußte und bewußtlose Tätigkeit aufgezeigt werde.

Eine solche Tätigkeit ist allein die ästhetische, und jedes Kunstwerk ist nur zu begreifen als Produkt einer solchen. Die idealische Welt der Kunst und die reelle der Objekte sind also Produkte einer und derselben Tätigkeit; das Zusammentreffen beider (der bewußten und der bewußtlosen) ohne Bewußtsein gibt die wirkliche, mit Bewußtsein die ästhetische Welt.

Die objektive Welt ist nur die ursprüngliche, noch bewußtlose Poesie des Geistes; das allgemeine Organen der Philosophie – und der Schlußstein ihres ganzen Gewölbes – die Philosophie der Kunst.[23]

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 2, Leipzig 1907, S. 20-24.
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