§ 12.

[44] Wenn Substanz das Unbedingte ist, so ist das Ich die einige Substanz. Denn gäbe es mehrere Substanzen, so gäbe es ein Ich außer dem Ich, was ungereimt ist. Demnach ist alles, was ist, im Ich, und außer dem Ich ist nichts. Denn das Ich enthält alle Realität (§ 8), und alles, was ist, ist durch Realität. Also ist alles im Ich. – Ohne Realität ist nichts, nun[44] ist keine Realität außer dem Ich, also ist nichts außer dem Ich. Ist das Ich die einzige Substanz, so ist alles, was ist, bloßes Akzidens des Ichs.

Wir stehen an der Grenze alles Wissens, über welche hinaus alle Realität, alles Denken und Vorstellen verschwindet. Alles ist nur im Ich und für das Ich. Das Ich selbst ist nur für sich selbst. Um irgend etwas anderes zu finden, müssen wir schon vorher etwas gefunden haben; zu einer objektiven Wahrheit gelangen wir nur durch eine andere Wahrheit – aber zum Ich nur durch das Ich, deswegen, weil es nur insofern ist, als es nur für sich selbst, und für alles, was außer ihm ist, nichts, d.h. gar kein Objekt ist; denn es ist bloß, nicht insofern es gedacht wird, sondern insofern es sich selbst denkt.

Um Wahrheit zu finden, mußt du ein Prinzip aller Wahrheit haben: setze es so hoch als du willst, es muß doch im Lande der Wahrheit liegen, im Lande, das du erst suchen willst. Wenn du aber alle Wahrheit durch dich selbst hervorbringst, wenn der letzte Punkt, an dem alle Realität hängt, das Ich ist, und dieses nur durch sich selbst und für sich selbst ist, so ist alle Wahrheit und alle Realität dir unmittelbar gegenwärtig. Du beschreibst, indem du dich selbst als Ich setzst, zugleich die ganze Sphäre der Wahrheit, der Wahrheit, die nur durch dich und für dich Wahrheit ist. Alles ist nur im Ich und für das Ich. Im Ich hat die Philosophie ihr Hen kai pan gefunden, nach dem sie bisher als dem höchsten Preise des Sieges gerungen hat14.


Anmerkung. Ihr wollt mit eurem abgeleiteten Begriff von Substantialität des Nicht-Ichs die höchste des absoluten Ichs messen. Oder glaubt ihr, daß ihr den Urbegriff der Substantialität im Nicht-Ich gefunden habt?

Freilich hat die Philosophie schon längst einen Begriff von Substantialität des Nicht-Ichs aufgestellt. Um die unwandelbare Identität eures Ichs zu retten, müßt ihr notwendig auch das Nicht-Ich,[45] dessen Urform Vielheit ist, zur Identität erheben und dem Ich gleichsam assimilieren. Damit es nicht als Nicht-Ich, d.h. als Vielheit, mit eurem Ich zusammenfalle, setzt es eure Einbildungskraft in den Raum; damit aber euer Ich, indem es, um die Synthesis zu vollbringen, die Vielheit aufnimmt, nicht ganz zerstreut werde, setzt ihr die Vielheit selbst in Wechsel (Sukzession), und für jeden Punkt des Wechsels wieder dasselbe, durch ein identisches Streben bestimmte, Subjekt; so erhaltet ihr vermittelst der Synthesis selbst und der mit der Synthesis zugleich hervorgebrachten Formen des Raums und der Zeit ein in Raum und Zeit bei allem Wechsel beharrendes Objekt – eine übergetragene (gleichsam geliehene) Substantialität, die aber eben deswegen nicht begreiflich ist, ohne eine ursprüngliche, nicht übergetragene Substantialität des absoluten Ichs vorauszusetzen, deren Begriff auch allein der kritischen Philosophie möglich machte, den Ursprung der Kategorie der Substanz ins Reine zu bringen.

Spinoza war es, der vorher schon jenen Urbegriff der Substantialität in seiner ganzen Reinheit gedacht hatte. Er erkannte, daß ursprünglich allem Dasein ein reines unwandelbares Ursein, allem Entstehenden und Vergehenden etwas durch sich selbst Bestehendes zugrunde liegen müßte, in welchem und durch welches erst alles, was Existenz hätte, zur Einheit des Daseins gekommen wäre. Man bewies ihm nicht, daß diese unbedingte, unwandelbare Urform alles Seins nur in einem Ich gedenkbar sei. Man hielt ihm den abstrahierten Begriff von Substantialität der Erscheinungen entgegen – (denn, solange der Urbegriff nicht entdeckt war, war der abgeleitete, übergetragene, obgleich vor aller Erfahrung, doch nur in bezug auf sie mögliche Begriff von Substantialität der Erscheinungen ein bloß abstrahierter Begriff) – als ob Spinoza diesen nicht recht gut gekannt und unzähligemal erklärt gehabt hätte, daß es ihm nicht um das in Zeit und Wechsel Beharrende, sondern um das außer aller Zeit unter der Urform der Unwandelbarkeit Gesetzte zu tun sei, daß jener abgeleitete Begriff selbst ohne den Urbegriff keinen Sinn und keine Realität habe usw. Man suchte also, das Unbedingte durchs Bedingte zu widerlegen. Der Erfolg ist bekannt.[46]

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 44-47.
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