II. Von den entgegengesetzten Prinzipien des tierischen Lebens

[592] Der Begriff Leben soll konstruiert werden, d.h. er soll als Naturerscheinung erklärt werden. Hier sind nur drei Fälle möglich:


A.

Entweder, der Grund des Lebens liegt einzig und allein in der tierischen Materie selbst.

Diese Annahme widerlegt sich von selbst durch die gemeinsten aller Erfahrungen, da offenbar genug äußere Ursachen zum Leben mitwirken. – In diesem Sinn hat auch wohl kein vernünftiger Mensch jenen Satz behauptet. Es geschieht aber oft, daß, wenn die Frage für eines Menschen Verstand zu hoch ist, die Frage herabgestimmt wird, und einen beliebigen Sinn erhält, in welchem sie freilich leicht beantwortlich, aber nun auch eine ganz andere Frage ist. Es ist nicht davon die Rede, daß das Leben von Stoffen abhängig ist, welche von außen dem Körper zugeführt werden, z.B. durch das Atmen, durch Nahrung usw., denn die Aufnahme dieser Stoffe setzt schon das Leben selbst voraus. Wir wissen wohl, daß unsere Fortdauer an der Luftzersetzung hängt, welche in unsern Lungen vorgeht, aber diese Zersetzung ist selbst schon eine Funktion des Lebens: ihr sollt uns aber das Leben selbst, sollt uns einen Anfang des Lebens begreiflich machen.

Der eigentliche Sinn des oben aufgestellten Satzes müßte also der sein, die erste Ursache (nicht die untergeordneten Bedingungen) des Lebens liegt in der tierischen Materie selbst, und dieser so bestimmte Satz müßte, wenn er auch aus Erfahrung unwiderleglich wäre, doch von einer gesunden Philosophie a priori verneint werden.

Es ist der Gipfel der Unphilosophie, zu behaupten, das Leben[592] sei eine Eigenschaft der Materie, und gegen das allgemeine Gesetz der Trägheit anzuführen, daß wir doch das Beispiel einer Ausnahme – an der belebten Materie finden. Denn entweder nimmt man in den Begriff der tierischen Materie schon die Ursache des Lebens, welche kontinuierlich auf die tierische Substanz (also auch in der tierischen Materie) wirkt, auf, und dann hat man freilich beim Analysieren leichte Arbeit; es ist aber nicht von einer Analyse, sondern von einer (synthetischen) Konstruktion des Begriffs tierisches Leben die Rede. Oder man nimmt an, daß es gar keiner positiven Ursache des Lebens bedürfe, sondern daß allbereits im tierischen Körper alles so zusammengemengt und zusammengemischt sei, daß daraus von selbst Mischungsveränderungen, und aus diesen Kontraktionen der tierischen Materie erfolgen, ungefähr so wie ein bestimmtes Gemenge von Mittelsalzen von selbst sich zerlegt (wie das wirklich die Meinung des berühmten Herrn Reil in Halle zu sein scheint). – Wenn dies der Sinn jener Behauptung ist, so bitte ich, daß man vor allen Dingen uns folgende Fragen beantworte.

Wir wissen wohl (man erlaube uns erst einen festen Standpunkt zu nehmen, denn wir können bei den Physiologen, mit welchen wir zu tun haben, selbst keinen bestimmten Begriff von Chemie und chemischen Operationen voraussetzen), wir wissen wohl, daß verschiedene Substanzen, wenn sie miteinander in Berührung kommen, sich wechselseitig in Bewegung setzen (der klarste Beweis übrigens, daß sie träg sind, denn sie bewegen sich nicht einzeln, sondern nur indem sie miteinander in Wechselwirkung stehen). – Wir wissen auch, daß diese Bewegung, die der ruhende Körper in ruhenden hervorbringt, nicht nach Gesetzen des Stoßes erklärbar ist, auch können wir die Anziehung, die sie gegeneinander beweisen, in kein Verhältnis mit ihrer spezifischen Schwere bringen. (Was soll man von Naturphilosophen denken, die alles im tierischen Körper durch Wahlanziehung geschehen lassen, Wahlanziehungen selbst aber als Äußerungen der Schwerkraft ansehen!). – Wir suchen daher eine andere Erklärung dieser Erscheinungen auf, und behaupten, daß sie in eine höhere Sphäre der Naturoperationen, als die,[593] welche Gesetzen des Stoßes oder der Schwere unterworfen sind, gehören. Wir behaupten, die Materie selbst sei nur ein Produkt entgegengesetzter Kräfte; wenn diese in der Materie ein Gleichgewicht erreicht haben, sei alle Bewegung entweder positiv (Zurückstoßung), oder negativ (Anziehung); nur wenn jenes Gleichgewicht gestört werde, sei die Bewegung positiv und negativ zugleich, es trete dann eine Wechselwirkung der beiden ursprünglichen Kräfte ein; – eine solche Störung des ursprünglichen Gleichgewichts geschehe bei den chemischen Operationen, und darum sei jeder chemische Prozeß gleichsam ein Werden neuer Materie, und was uns die Philosophie a priori lehre, daß alle Materie ein Produkt von entgegengesetzten Kräften sei, werde in jedem chemischen Prozeß anschaulich.

Wir gewinnen durch diese Vorstellungsart selbst einen höheren Begriff von chemischen Operationen, und damit auch mehr Recht, diese auf Erklärung einiger animalischer Prozesse analogisch anzuwenden. Denn alle wahren Physiologen sind einig, daß die animalischen Naturoperationen nicht aus Gesetzen des Stoßes oder der Schwere erklärbar sind. Dasselbe aber ist der Fall mit den chemischen Operationen, daher wir zum voraus eine geheime Analogie beider vermuten können.

Dazu kommt, daß das Wesen der Organisation in der Unzertrennlichkeit der Materie und der Form besteht – darin, daß die Materie, die organisiert heißt, bis ins Unendliche individualisiert ist; wenn also vom Entstehen der tierischen Materie die Rede ist, verlangt man, daß eine Bewegung gefunden werde, in welcher die Materie eines Dings zugleich mit seiner Form entsteht. Nun ist aber überhaupt die ursprüngliche Form eines Dings nichts für sich Bestehendes, so wenig als die Materie; beide müssen also durch eine und dieselbe Operation entstehen. Materie entsteht aber nur, wo eine bestimmte Qualität erzeugt wird, denn die Materie ist nichts von ihren Qualitäten Verschiedenes. Materie sehen wir also nur in chemischen Operationen entstehen; chemische Operationen also sind die einzigen, aus welchen wir die Bildung einer Materie zu bestimmter Form begreifen können.[594]

Man irrt daher nicht, wenn man in den chemischen Durchdringungen den geheimen Handgriff der Natur zu erkennen glaubt, dessen sie sich bei ihrem beständigen Individualisieren der Materie (in einzelnen Organisationen) bedient. Es ist deswegen kein Wunder, daß man von den ältesten Zeiten an, da man die chemischen Kräfte der Materie zuerst kennen lernte, darin gleichsam die gegenwärtige Natur zu erkennen glaubte. »Nichts«, sagt ebenso schön als wahr Hr. Baader in seinen gedankenvollen Beiträgen zur Elementarphysiologie, »nichts kommt dem Enthusiasm (der freilich meist in schwärmenden Unsinn ausartete), und der besondern Naturandacht gleich, die in den ältesten Betrachtungen chemischer Naturoperationen atmet; auch sind die Früchte bekannt, welche wir diesem Enthusiasm verdanken, und das entgegengesetzte maschinistische System hat nichts dem Ähnliches aufzuweisen«. – Wir sind also gar nicht gemeint, chemische Analogien bei Erklärung der animalischen Prozesse auszuschließen, wir werden vielmehr den Assimilations- und Reproduktionsprozeß einzig und allein aus solchen Analogien erklären, obgleich wir bekennen müssen, daß auch das ein bloßer Behelf der Unwissenheit ist (weil uns die chemischen Operationen vor jetzt bekannter sind als die animalischen), indem es weit natürlicher wäre, anstatt Vegetation und Leben chemische Prozesse zu nennen, umgekehrt vielmehr manche chemische Prozesse unvollkommene Organisationsprozesse zu nennen, da es begreiflicher ist, wie der allgemeine Bildungstrieb der Natur endlich in toten Produkten erstirbt, als wie umgekehrt der mechanische Hang der Natur zu Kristallisationen sich zu vegetativen und lebendigen Bildungen hinauf läutert.

Dies vorausgesetzt, bitten wir, daß man uns folgende Fragen beantworte:

1. Wir räumen ein nicht nur, sondern wir behaupten, daß die Bildung tierischer Materie nur nach chemischen Analogien erklärbar ist, wir sehen aber, daß diese Bildung, wo sie geschieht, immer das Leben selbst schon voraussetzt. Wie könnt ihr also vorgeben, durch euren chemischen Wortapparat (denn mehr ist es nicht) das Leben selbst zu erklären?[595]

Das Leben ist nicht Eigenschaft oder Produkt der tierischen Materie, sondern umgekehrt die Materie ist Produkt des Lebens. Der Organismus ist nicht die Eigenschaft einzelner Naturdinge, sondern umgekehrt, die einzelnen Naturdinge sind ebenso viele Beschränkungen oder einzelne Anschauungsweisen des allgemeinen Organismus. »Ich weiß nichts Verkehrteres, als das Leben zu einer Beschaffenheit der Dinge zu machen, da im Gegenteil die Dinge nur Beschaffenheiten des Lebens, nur verschiedene Ausdrücke desselben sind; denn das Mannigfaltige kann im Lebendigen allein sich durchdringen und Eins werden«. (Jacobis David Hume S. 171.) Die Dinge sind also nicht Prinzipien des Organismus, sondern umgekehrt, der Organismus ist das Prinzipium der Dinge.

Das Wesentliche aller Dinge (die nicht bloße Erscheinungen sind, sondern in einer unendlichen Stufenfolge der Individualität sich annähern) ist das Leben; das Akzidentelle ist nur die Art ihres Lebens, und auch das Tote in der Natur ist nicht an sich tot– ist nur das erloschene Leben.

Die Ursache des Lebens mußte also der Idee nach früher da sein als die Materie, die (nicht lebt, sondern) belebt ist; diese Ursache muß also auch nicht in der belebten Materie selbst, sondern außer ihr gesucht werden.

2. Gesetzt, wir geben euch zu, das Leben bestehe in einem chemischen Prozeß, so müßt ihr einräumen, daß kein chemischer Prozeß permanent ist, und daß die endliche Wiederherstellung der Ruhe bei jedem solchen Prozeß verrät, daß er eigentlich nur ein Bestreben nach Gleichgewicht war. Chemische Bewegung dauert nur so lange, als das Gleichgewicht gestört ist. Ihr müßt also vorerst erklären, wie und wodurch die Natur im animalischen Körper das Gleichgewicht kontinuierlich gestört erhält, wodurch sie die Wiederherstellung des Gleichgewichts hemmt, warum es immer nur beim Prozesse bleibt und nie zum Produkt kommt; an das alles aber scheint man bis jetzt nicht gedacht zu haben.[596]

3. Wenn alle Veränderungen im Körper ihren Grund in der ursprünglichen Mischung der Materie haben, wie kommt es, daß dieselben Veränderungen, z.B. die Zusammenziehungen des Herzens, kontinuierlich wiederholt werden, da (ex hypothesi) durch jede Zusammenziehung eine Veränderung der Mischung vorgeht, also nach der ersten Zusammenziehung schon keine andere mehr erfolgen sollte, weil ihre Ursache (die eigentümliche Mischung des Organs) nicht mehr da ist?

4. Wie bewirkt die Natur, daß der chemische Prozeß, der im animalischen Körper im Gange ist, nie die Grenzen der Organisation überschreite? Die Natur kann (wie man gegen die Verteidiger der Lebenskraft mit Recht behauptet), kein allgemeines Gesetz aufheben, und wenn in einer Organisation chemische Prozesse geschehen, so müssen sie nach denselben Gesetzen, wie in der toten Natur, erfolgen. Wie kommt es, daß diese chemischen Prozesse immer dieselbe Materie und Form reproduzieren, oder durch welche Mittel erhält die Natur die Trennung der Elemente, deren Konflikt das Leben, und deren Vereinigung der Tod ist?

5. Allerdings gibt es Substanzen, die durch die bloße Berührung chemisch aufeinander wirken; aber es gibt auch Verbindungen und Trennungen, welche erst durch äußere Mittel, z.B. Erhöhung der Temperatur usw. bewirkt werden. Ihr sprecht vom Lebensprozeß, nennt uns doch die Ursache dieses Prozesses! Was bringt in der tierischen Organisation gerade diejenigen Stoffe zusammen, aus deren Konflikt das endliche Resultat, tierisches Leben, hervorgeht, oder welche Ursache zwingt die widerstrebenden Elemente zusammen, und trennt diejenigen, welche nach Vereinigung streben ?

Wir sind überzeugt, daß einige dieser Fragen einer Beantwortung fähig sind, aber auch, daß die ganze chemische Physiologie, solange sie diese Fragen nicht wirklich beantwortet, ein bloßes Spiel mit Begriffen ist, und keinen reellen Wert, ja nicht einmal Sinn und Verstand hat. Wir müssen aber bekennen, daß wir uns bis jetzt vergeblich nach einer solchen Beantwortung gerade bei denjenigen umgesehen haben, die sich mit ihrer chemischen Physiologie am meisten wissen.


B.

[597] Oder, der Grund des Lebens liegt ganz und gar außerhalb der tierischen Materie.

Man könnte eine solche Meinung denjenigen zuschreiben, die den letzten Grund des Lebens allein in den Nerven suchen, und diese durch eine äußere Ursache in Bewegung setzen lassen. Allein die meisten von Hallers Gegnern, die den Grund des Lebens, welchen dieser in der Irritabilität der Muskeln suchte, allein in die Nerven versetzen, lassen wenigstens mit ihm das Nervenprinzip im Körper selbst (sie wissen nicht wie) erzeugt werden. Da aber die Annahme eines solchen Nervenprinzips von Tag zu Tag hypothetischer wird (weil kein Mensch begreiflich machen kann, wie es im tierischen Körper erzeugt werde), und da ohnehin das, was Prinzip des Lebens ist, nicht selbst Produkt des Lebens sein kann, so müßten jene Physiologen am Ende doch auf eine äußere Ursache der Nerventätigkeit zurückkommen, und wenn sie den Grund des Lebens allein in den Nerven suchen, auch behaupten, daß der Grund des Lebens ganz und gar außer dem Körper liege.

Liegt aber der Grund des Lebens ganz außerhalb des tierischen Körpers, so muß dieser in Ansehung des Lebens als absolut-passiv angenommen werden. Absolute Passivität aber ist ein völlig sinnloser Begriff. Passivität gegen irgend eine Ursache bedeutet nur ein Minus von Widerstand gegen diese Ursache. Jedem positiven Prinzip in der Welt steht eben deswegen notwendig ein negatives entgegen: so entspricht dem positiven Prinzip des Verbrennens ein negatives Prinzip im Körper, dem positiven Prinzip des Magnetismus ein negatives im Magnet. Der Grund der magnetischen Erscheinungen liegt weder im Magnet, noch außer dem Magnet allein. So muß dem positiven Prinzip des Lebens außer der tierischen Materie ein negatives Prinzip in dieser Materie entsprechen, und so liegt auch hier, wie sonst, die Wahrheit in der Vereinigung der beiden Extreme.[598]


C.

Der Grund des Lebens ist in entgegengesetzten Prinzipien enthalten, davon das eine (positive) außer dem lebenden Individuum, das andere (negative) im Individuum selbst zu suchen ist.


Korollarien
1.

Das Leben selbst ist allen lebenden Individuen gemein, was sie voneinander unterscheidet, ist nur die Art ihres Lebens. Das positive Prinzip des Lebens kann daher keinem Individuum eigentümlich sein, es ist durch die ganze Schöpfung verbreitet, und durchdringt jedes einzelne Wesen als der gemeinschaftliche Atem der Natur. – So liegt – wenn man uns diese Analogie verstattet – was allen Geistern gemein ist, außerhalb der Sphäre der Individualität (es liegt im Unermeßlichen, Absoluten); was Geist von Geist unterscheidet, ist das negative, individualisierende Prinzip in jedem. So individualisiert sich das allgemeine Prinzip des Lebens in jedem einzelnen lebenden Wesen (als in einer besondern Welt) nach dem verschiedenen Grad seiner Rezeptivität. Die ganze Mannigfaltigkeit des Lebens in der ganzen Schöpfung liegt in jener Einheit des positiven Prinzips in allen Wesen und der Verschiedenheit des negativen Prinzips in einzelnen; und darum hat jener aufgestellte Satz die Wahrheit in sich selbst, auch wenn er nicht durch alle einzelnen Erscheinungen des Lebens, so wie sie in jedem Individuum sich offenbaren, bestätigt würde.


2.

Ich kann nicht weiter gehen, ohne noch mit Wenigem zu sagen, wie in dem aufgestellten Satz die bisherigen Systeme der Physiologie sich vereinigen und zusammentreffen.

Vorerst gebührt dem großen Haller der Ruhm, daß, ob er sich gleich von der mechanischen Philosophie nicht völlig losmachen konnte, durch ihn doch zuerst ein Prinzip des Lebens aufgestellt wurde, das aus mechanischen Begriffen unerklärbar ist, und für welches er einen Begriff aus der Physiologie des innern Sinns entlehnen mußte.[599]

Mag es sein, daß Hallers Prinzip in der Physiologie eine Qualitas occulta vorstellt, er hat doch durch diesen Ausdruck schon die künftige Erklärung des Phänomens selbst gleichsam vorausgesehen, und stillschweigend vorausgesagt, daß der Begriff des Lebens nur als absolute Vereinigung der Aktivität und Passivität in jedem Naturindividuum konstruierbar ist.

Haller wählte also für seine Zeit das wahrste und vollkommenste Prinzip der Physiologie, da er einerseits die mechanische Erklärungsart verließ (denn im Begriff der Reizbarkeit liegt schon, daß sie aus mechanischen Ursachen unerklärbar ist), ohne doch andererseits mit Stahl in hyperphysische Erdichtungen auszuschweifen.

Hätte Haller an eine Konstruktion des Begriffs von Reizbarkeit gedacht, so hätte er ohne Zweifel eingesehen, daß sie ohne einen Dualismus entgegengesetzter Prinzipien, und also auch ohne einen Dualismus der Organe des Lebens, nicht denkbar ist; dann hätte er gewiß auch die Nerven bei den Phänomenen der Reizbarkeit nicht als müßig angenommen, und dadurch unserm Zeitalter den Zwiespalt erspart, der sich zwischen seinen (zum Teil wahrhaft abergläubischen) Anhängern und den einseitigen Verteidigern Einer, in den Nerven allein wirksamen, Lebenskraft erhoben hat.

Dieser Streit kann nicht anders als durch Vereinigung beider, in ihrer Absonderung falschen, Prinzipien geschlichtet werden; diese Vereinigung hat zuerst Pfaff in seiner Schrift über tierische Elektrizität und Reizbarkeit (S. 258) aus Erfahrungsgründen unternommen, und dadurch, wie ich glaube, zum voraus die Grenzen beschrieben, innerhalb welcher alle Erklärungen tierischer Bewegungen stehen bleiben müssen. Da eben diese Notwendigkeit der Vereinigung beider Prinzipien zur möglichen Konstruktion des Begriffs von tierischem Leben aus Prinzipien a priori abgeleitet werden kann, so hat man hier ein auffallendes Beispiel des Zusammentreffens der Philosophie und der Erfahrung an Einem Punkt, dergleichen wohl künftig mehrere gefunden werden dürften.


3.

[600] a) Auf welche Organe die positive, erste Ursache des Lebens kontinuierlich und unmittelbar einwirkt, dieselben Organe werden als aktive, diejenigen aber, auf welche sie nur mittelbar (durch die erstern) einwirkt, als passive Organe vorgestellt werden müssen (Nerven und Muskeln).

b) Die Möglichkeit des Lebensprozesses setzt voraus:

aa) eine Ursache, die durch kontinuierlichen Einfluß den Prozeß immer neu anfacht und ununterbrochen unterhält, eine Ursache also, die nicht in den Prozeß selbst (etwa als Bestandteil) eingehen, oder durch den Prozeß erst erzeugt werden kann.

bb) Zum Prozeß selbst gehören als negative Bedingungen alle materiellen Prinzipien, deren Konflikt (Trennung oder Vereinigung) den Lebensprozeß selbst ausmacht. Der Satz gilt auch umgekehrt: Alle Prinzipien, die in den Lebensprozeß selbst eingehen, (z.B. das Oxygene, Azote usw.) können nicht als Ursachen, sondern nur als negative Bedingungen des Lebens angesehen werden.

c) Das positive Prinzip des Lebens muß Eines, die negativen Prinzipien müssen mannigfaltig sein. So viele mögliche Vereinigungen dieses Mannigfaltigen zu einem Ganzen, so viel besondere Organisationen, deren jede eine besondere Welt vorstellt. Die negativen Prinzipien des Lebens haben alle das Gemeinschaftliche, daß sie zwar Bedingungen, aber nicht Ursachen des Lebens sind; als ein Ganzes gedacht, sind sie die Prinzipien der tierischen Erregbarkeit.


Anmerk. Der Schottländer Joh. Brown läßt zwar das tierische Leben aus zwei Faktoren (der tierischen Erregbarkeit und den erregenden Potenzen, exciting powers) entspringen, was allerdings mit unserm positiven und negativen Prinzip des Lebens übereinzustimmen scheint; wenn man aber nachsieht, was Brown unter den erregenden Potenzen versteht, so findet man, daß er darunter Prinzipien begreift, die unsrer Meinung nach schon zu den negativen Bedingungen des Lebens gehören, denen also die Dignität positiver Ursachen[601] des Lebens nicht zugeschrieben werden kann. Gleich im zweiten Kapitel seines Systems nennt er als die erregenden Potenzen Wärme, Luft, Nahrungsmittel, andere Materien, die in den Magen genommen werden, Blut, die vom Blut abgeschiedenen Säfte usw.! (J. Browns System der Heilkunde, übersetzt von Pfaff S. 3). Man sieht hieraus, daß man dem Schottländer allzu viel zutraut, wenn man glaubt, er habe sich zu den höchsten Prinzipien des Lebens erhoben; vielmehr ist er auf einer untergeordneten Stufe stehen geblieben. Sonst hätte er nicht sagen können: »Was Erregbarkeit sei, wissen wir nicht, auch nicht, wie sie von den erregenden Potenzen affiziert wird. – Wir müssen uns hierüber sowohl, als über andere ähnliche Gegenstände, bloß an die Erfahrung halten, und sorgfältig die schlüpfrige Untersuchung über die im allgemeinen unbegreiflichen Ursachen, jene giftige Schlange der Philosophie, vermeiden« (S. 6).

Man sieht aus diesen, wie aus vielen andern Stellen Browns, daß er an ein Substrat der Erregbarkeit gedacht hat, was freilich ein ganz unphilosophischer Begriff ist, über welchen etwas Philosophisches vorbringen zu wollen, allerdings ein schlüpfriges Unternehmen wäre. – Die Sache ist diese: Erregbarkeit ist ein synthetischer Begriff, er drückt ein Mannigfaltiges negativer Prinzipien aus; als solchen aber nimmt ihn Brown nicht an, denn sonst hätte er ihn auch analysieren können. Brown denkt sich darunter das schlechthin-Passive im tierischen Leben. Etwas schlechthin-Passives aber ist in der Natur ein Unding. Nimmt man aber den Begriff als synthetisch an, so drückt er nichts aus als das Gemeinschaftliche (den Komplexus) aller negativen Bedingungen des Lebens, worunter denn auch Browns erregende Potenzen fallen, daher für das eigentliche positive Prinzip des Lebens noch der Raum offen bleibt.

Es läßt sich aus dieser Verwechslung der erregenden Potenzen mit der positiven Ursache des Lebens am natürlichsten das Handgreifliche31 in Browns Vorstellung vom Leben, und das Krapulöse seines ganzen Systems erklären, das auch Hr. Baader (in seinen Beiträgen usw. S. 58) bemerkt. Hier ist übrigens nur[602] von Brown als Physiologen die Rede, wozu ihn seine Anhänger gemacht haben; als Nosologe (was er allein sein wollte) wird sein Verdienst immer mehr anerkannt werden, da die unmittelbare Quelle aller Krankheiten doch in den negativen Bedingungen des Lebens zu suchen ist, von welchen auch Brown seinen ganzen Einteilungsgrund der Krankheiten hergenommen hat.

31

Erste Ausgabe: »das Krasse«.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 592-603.
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