III. Von den negativen Bedingungen des Lebensprozesses
1.

[603] Die negative Bedingung des Lebensprozesses ist ein Antagonismus negativer Prinzipien der durch den kontinuierlichen Einfluß des positiven Prinzips (der ersten Ursache des Lebens) unterhalten wird.

Soll dieser Antagonismus im lebenden Wesen permanent sein, so muß das Gleichgewicht der Prinzipien in ihm kontinuierlich gestört werden. Davon kann nun der Grund abermals nicht im lebenden Individuum selbst liegen. Es zeigt sich hier aufs neue der ursprüngliche Gegensatz zwischen Pflanze und Tier. Da in der Pflanze ein desoxydierender Prozeß unterhalten wird, so wird das Gleichgewicht in der Pflanzenorganisation gestört werden, durch eine Ursache, welche allgemein fähig ist, Oxygene zu entwickeln. Eine solche ist das Licht. Jedermann weiß, der Prozeß der Vegetation in einer Zerlegung des Wassers besteht, da das dephlogistisierende Prinzip aus der Pflanze entwickelt wird, während das Brennbare in ihr zurückbleibt. In dem Maße, als durch Einfluß des Lichts Lebensluft aus der Pflanze entwickelt wird, zieht sie auf ihrer ganzen Oberfläche Feuchtigkeit an; der Prozeß scheint sich so von selbst fortzusetzen, weil das Gleichgewicht kontinuierlich gestört und kontinuierlich wiederhergestellt wird. Der Einfluß des Lichts ist daher (in der Regel) erste Bedingung aller Vegetation.

Ich bemerke, daß man deswegen doch irren würde, das Licht für die Ursache der Vegetation zu halten; das Licht gehört nur zu den erregenden Potenzen, nur zu den negativen[603] Bedingungen des Vegetationsprozesses, dessen Ursache eine ganz andere sein muß, was z.B. daraus sehr klar wird, daß das Aufsteigen des Wassers in den Pflanzen weder durch den Einfluß des Lichts noch durch die Reizbarkeit der Pflanzengefäße erklärbar ist, da diese Reizbarkeit selbst nur unter Bedingung einer positiven, auf sie kontinuierlich einwirkenden, und vom Licht verschiedenen Ursache erklärbar ist, da bei unveränderter Struktur der Kanäle, ja selbst bei fortdauernder Elastizität der Luftgänge usw. doch, wenn die Pflanze (man weiß nicht wie) abstirbt, alle Bewegung in ihr aufhört, daher selbst die Pflanzenphysiologen, denen wir die genaueste Kenntnis der mikroskopischen Pflanzengefäße verdanken, am Ende »auf die bewegende und fortstoßende Kraft (womit freilich der Naturlehre wenig gedient ist) und das Lebensprinzip zurückkommen, welches durch eine wohlgeordnete Bewegung alles, was in der Pflanze vorgeht, bewirkt«. (S. Hedwig de fibrae vegetabilis ortu, p. 27. v. Humboldts Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflanzen, S. 40.)


2.

Das gerade Gegenteil von dem, das bei der Pflanze geschieht, muß beim Tier stattfinden. Da das tierische Leben ein dephlogistisierender Prozeß ist, so muß das Gleichgewicht der negativen Prinzipien im Tier durch Aufnahme und Bereitung phlogistischer Materie kontinuierlich gestört werden, deswegen allein schon das Tier scheinbar-willkürlicher Bewegung fähig sein muß. Die beiden negativen Prinzipien des Lebens im tierischen Körper sind daher phlogistische Materie und Oxygene (gleichsam die Gewichte am Hebel des Lebens), das Gleichgewicht beider muß kontinuierlich gestört und wiederhergestellt werden. Dies ist nicht möglich, als dadurch, daß das Tier in eben dem Verhältnis, in welchem es phlogistische Materie bereitet, auch das Oxygene im Atmen zersetzt, und umgekehrt.

Daß wirklich zwischen der Quantität der Luftzersetzung und der Quantität des phlogistischen Prozesses im tierischen Körper ein genaues Wechselverhältnis stattfinde, daran lassen eine Menge Erfahrungen nicht zweifeln. Die Quantität der Luftzersetzung in[604] den Tieren richtet sich überhaupt nicht sowohl nach der Quantität ihrer Masse, als der Quantität des Lebensprozesses in ihnen. So geht in den Lungen der beweglicheren Tiere, z.B. des Vogels, eine verhältnismäßig weit größere Luftzersetzung vor, als in der Lunge der trägeren, aber an Masse vor andern hervorragenden Tiere. Die Quantität der Nahrung, deren ein Tier bedarf, richtet sich ebensowenig regelmäßig und genau nach seiner Masse: das träge Kamel kann auf der Reise in der Wüste tagelang den Hunger ertragen, das schneller atmende Pferd verlangt weit schnelleren Ersatz des schneller verzehrten phlogistischen Stoffs. – Jedes Tier zersetzt oder verdirbt im Zeitpunkt der Verdauung weit mehr Luft als im Zustand des Hungers.

Ist ein Übergewicht des dephlogistisierenden Prinzips im Körper, so entsteht (nach Girtanner) jene tierische Unbehaglichkeit, die man Hunger nennt; das Tier, indem es mit scheinbarer Willkür den Hunger stillt, folgt nur einem notwendigen Gesetze, kraft dessen das Gleichgewicht der negativen Prinzipien des Lebens kontinuierlich wiederhergestellt werden muß. Durch Stillung des Hungers erhält das phlogistische Prinzip das Übergewicht; das Atmen reicht (bei schnell verdauenden Tieren) allein nicht hin, das Gleichgewicht wiederherzustellen, es entsteht Durst, der durch Wasser (als Vehikel des dephlogistisierenden Prinzips), am schnellsten aber durch säuerliche, immer zugleich kühlende Getränke (- man erinnere sich, daß das Oxygene allgemeiner Grund der vermehrten Wärmekapazität ist -) gestillt wird; und so erhält sich der Antagonismus der negativen Prinzipien des Lebens durch einen steten Wechsel des Übergewichts des einen über das andere.


3.

Das Gleichgewicht der negativen Prinzipien des Lebens soll immer gestört und immer wiederhergestellt werden. Es muß also vorerst die phlogistische Materie, die durch die Nahrung in den Körper kommt, aufgelöst, die Bestandteile, welche schwerer sich mit dem Oxygene verbinden, müssen ausgeführt werden, und nur diejenigen zurückbleiben, welche dem Oxygene stärker das Gleichgewicht halten. Durch welche Operationen die Natur diese[605] Auflösung bewirkt, wissen wir nicht bestimmt anzugeben, aber wir können schon jetzt alle Stufen der Auflösung bezeichnen, welche der Nahrungsstoff im Körper durchläuft.

Die Nahrung der Tiere ist entweder vegetabilisch, oder animalisch; die Hauptbestandteile der vegetabilischen Nahrung sind Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, in der animalischen Nahrung ist neben diesen der Stickstoff überwiegend. Das erste Geschäft der Natur ist, diese verschiedenen Stoffe aus ihrer Verbindung zu setzen, im Organ der Verdauung schon scheint sich der Wasserstoff von den übrigen Bestandteilen loszumachen. Bei dieser Trennung wirken, man weiß nicht durch welchen Mechanismus, schon die lymphatischen Gefäße mit, die, was der Assimilation näher ist, sogleich absorbieren. Im Unterleib zuerst scheint der Kohlenstoff entwickelt zu werden, wozu vorzüglich die Milz dient, in welcher das Blut im Durchgang seine Farbe in Schwarz verändert (vgl. Ploucquets Skizze der Physiologie, §927); darauf scheint in der Leber die innige Vereinigung des Kohlenstoffs und Wasserstoffs vorzugehen, woraus ein Öl (womit die Galle am meisten Ähnlichkeit hat), und die erste Grundlage des tierischen Fetts erzeugt wird, das vorzüglich in der Leber sich absondert. Endlich scheint in der Bereitung des sogenannten Milchsafts schon der gerinnbare Teil (der Stickstoff) hervorstechend zu werden; im Durchgang durch die lymphatischen Gefäße, vorzüglich in den Drüsen, scheint noch das bereitete Öl abgesetzt zu werden; endlich ergießt sich der Strom in das Blut, wo die Säfte die höchste Bildung der Stufe erreichen, und aus welchem unmittelbar die festen Teile des Körpers anschließen. Indes wird im Durchgang durch die verschiedenen Gefäße die Mischung des Bluts kontinuierlich wieder verändert; vorzüglich scheint es während seines Umlaufs sich mit Kohlenstoff zu beladen, der endlich durch die letzte Veranstaltung der Natur (die Berührung des Oxygenes in den Lungen) von ihm losgerissen wird.

Offenbar ist, daß alle Operationen der Natur, die der Assimilation vorangehen, die Trennung des Stickstoffs (als Hauptbestandteils der tierischen Materie) von den übrigen Stoffen der Nahrung zum Zweck haben. Der Mechanismus der Animalisation[606] scheint sonach vorzüglich darin zu bestehen, daß im Durchgang der Nahrungssäfte durch verschiedene Organe allmählich der Stickstoff vor den übrigen Stoffen das Übergewicht erlangt. So weit hat uns die neuere Chemie sicher geführt. (Man s. Fourcroys vortreffliche Abhandlung über die Entstehung tierischer Substanzen in der chemischen Philosophie, Deutsch übers., S. 149.)

Es ist uns aber nicht genug, zu wissen, daß es so ist: wir verlangen zu wissen, warum es notwendig so sein, und nicht anders sein kann; die Antwort auf diese Frage geben unsere oben aufgestellten Prinzipien.


4.

Die Natur eilt, das Gleichgewicht der negativen Prinzipien im Körper, sobald es gestört ist, Wiederherzustellen. Dieses Gleichgewicht aber kann nur ein dynamisches Gleichgewicht sein, von der Art, wie das Gleichgewicht der Temperatur in einem System von Körpern (nach der oben vorgetragenen Erklärung). Setzen wir, daß in einem System von Körpern die Wärmequantität durch äußeren Einfluß vermehrt würde, so könnte die Natur doch das Gleichgewicht erhalten, wenn sie in beständig gleichem Verhältnis die Wärmekapazität der Körper vermehrte. Im tierischen Körper nun sucht die Natur das Gleichgewicht zwischen dem Oxygene und dem phlogistischen Stoff kontinuierlich zu erhalten. Da nun in eben dem Verhältnis, als phlogistischer Stoff in den Körper aufgenommen wird, Oxygene im Atmen zersetzt wird, so scheint der ganze Prozeß der Animalisation im lebenden Körper darauf auszugehen, seine Kapazität für das Oxygene bis zu dem Grade zu vermehren, da beide entgegengesetzten Prinzipien einander vollkommen das Gleichgewicht halten. Dies geschieht, indem dem Körper kontinuierlich Stickstoff zugesetzt wird. Im gesunden Körper müßte die Natur dieses Gleichgewicht nach vollbrachtem Assimilationsprozeß regelmäßig erreichen. Da aber das eine jener negativen Prinzipien (das Oxygene) dem Körper immer neu zugeführt wird, so kann das Gleichgewicht nur momentan sein, und muß, sobald es erreicht ist, auch wieder gestört werden, in welcher kontinuierlichen Wiederherstellung und Störung des Gleichgewichts eigentlich allein das Leben bestellt.[607]

Daß nun die Natur, indem sie dem Körper kontinuierlich Stickstoff zusetzt (worin allein eigentlich das Wesen der Ernährung besteht), wirklich den Zweck, das Gleichgewicht der negativen Prinzipien des Lebens wiederherzustellen, erreiche, erhellt aus folgenden Bemerkungen:

Der Stickstoff, so wie er in der Atmosphäre verbreitet ist, ist kein brennbarer Stoff, und es ist bis jetzt nur durch den elektrischen Funken möglich gewesen, ihn mit dem Oxygene zu verbinden. Ob etwas Ähnliches im Körper vorgehe, lassen wir vorerst dahingestellt, bemerken aber, daß eben dieser Stoff, bis zu einem gewissen Grade oxydiert, die größte Kapazität für den Sauerstoff erlangt, so daß er ihn (wie in der Salpeterluft) durch bloße Berührung, in großer Quantität, und mit großer Schnelligkeit zersetzt. So hat also die Natur, indem sie die Quantität des Stickstoffs im Körper vermehrt, keine andere Absicht, als das dynamische Gleichgewicht der negativen Lebensprinzipien im Körper wiederherzustellen, da dieser Stoff vor allen andern geschickt ist, das Oxygene zu fesseln. Durch welchen Mechanismus, und auf welche Art dies geschehe, lasse ich vorerst dahingestellt. – Irre ich mich, oder hat sie durch diese Anstalt zugleich den ersten Grund zur Irritabilität, der hervorstechendsten Eigenschaft der tierischen Materie, gelegt?


* * *


Anmerk. Wenn man überlegt, daß der Dunst, der unsern Erdball umgibt, die beiden Elemente, deren Konflikt das Leben auszumachen scheint, auf ebenso unbekannte Weise in sich vereinigt, als es der tierische Körper tut, so sieht man erst, welcher Sinn darin liegt, daß (nach Lichtenbergs Ausdruck) alles – (das Schönste wenigstens, was die Erde hat) – aus Dunst zusammengeronnen ist. In der Tat, wenn das Geheimnis des Lebens in einem Konflikt negativer Prinzipien liegt, davon das eine gegen das Leben (azotisch) anzukämpfen, das andere das Leben immer neu anzufachen scheint, so hat die Natur in der Atmosphäre schon den Entwurf des allgemeinen Lebens auf Erden niedergelegt, und der Mensch, wenn er nicht aus dem Erdenkloß gebildet sein will, muß wenigstens bekennen, daß er den ätherischen Ursprung,[608] den er seinem Geschlechte zueignen möchte, mit der ganzen belebten Schöpfung teilt.

Da das positive Prinzip des Lebens und des Organismus absolut Eines ist, so können sich die Organisationen eigentlich nur durch ihre negativen Prinzipien unterscheiden.

Die neuere Chemie nennt als das negative Prinzip der Vegetation den Kohlenstoff; da aber dieser (ursprünglich wenigstens) ohne Zweifel selbst Produkt der Vegetation war, so ist kaum zu zweifeln, daß der brennbare Bestandteil des Wassers eigentlich das ursprünglich-negative Prinzip der Vegetation ist, woraus die Analogie entsteht, daß das über die ganze Erde verbreitete Wasser den ersten Entwurf aller Vegetation ebenso, wie die überall gegenwärtige Luft den ersten Entwurf alles Lebens, in sich enthält.

Wenn die Natur in toten Substanzen (wie im Wasser und der atmosphärischen Luft) eine Vereinigung entgegengesetzter Prinzipien erreicht hat, so hat sie in organisierten Wesen diese Vereinigung wieder aufgehoben; Vegetation und Leben aber besteht nur im Prozeß der Trennung und Verbindung selbst, und die vollbrachte Trennung, so gut als die vollbrachte Vereinigung, ist der Anfang des Todes.

Der über die ganze Natur verbreitete Dualismus der Elemente schließt sich demnach, wie in einem engern Kreis, in den Organisationen der Erde, wie wir vor jetzt durch folgendes Schema anschaulich machen können:


Azote Oxygene Hydrogene

Stickluft Lebensluft brennbare Luft

III. Von den negativen Bedingungen des Lebensprozesses

Atmosphärische Luft

Wasser

1 1

Tierisches Leben

Pflanzenleben

(durch Zersetzung

(durch Zersetzung

der Lebensluft

des Wassers

und Erzeugung

und Erzeugung

von Wasser,

von Lebensluft,

im Atmen, in der

im Ausatmen usw.)

Ausdünstung usw.)


5.

[609] Der unmittelbare Zweck der Natur bei dem jetzt beschriebenen Prozesse ist nur der Prozeß selbst, ist nur die beständige Störung und Wiederherstellung des Gleichgewichts der negativen Prinzipien im Körper: was in diesem Prozesse unter der Hand gleichsam entsteht, ist für den Prozeß selbst zufällig, und nicht unmittelbarer Zweck der Natur.


A.

1. Vorerst kann die Natur die materiellen Prinzipien des Lebens den allgemeinen Gesetzen nicht entziehen, die sie selbst der Materie ursprünglich eingedrückt hat. Der belebten Materie wohnt also wie jeder andern ein kontinuierliches Bestreben nach Gleichgewicht bei; wo aber das Gleichgewicht erreicht ist, ist Ruhe. Es muß also in jedem Körper, in welchem die Natur einen organisierenden Prozeß unterhält, ein Ansatz toter Masse geschehen können (Wachstum, Ernährung). Dieser Ansatz aber ist nur das begleitende Phänomen des Lebensprozesses, nicht der Lebensprozeß selbst. Der Ursprung der tierischen Materie im Lebensprozeß ist sonach ganz und gar zufällig, und so muß es auch (dem Begriff der Organisation nach) sein, Ernährung und Ansatz der toten Masse (welche durch ihr Gewicht endlich das Leben selbst unterdrückt, wenn es nicht unter andern Zufällen früher erliegt, als das Verhältnis der festen Teile zu den flüssigen im Körper übermäßig zunimmt) sind eine blinde Naturwirkung, die wider die eigentliche Absicht, und gleichsam wider den Willen der Natur (invita natura), als eine Folge, die sie nicht verhindern kann, aus notwendigen in der anorgischen wie in der organischen Welt herrschenden Gesetzen hervorgeht.

2. Gleichwohl überläßt die Natur die organische Materie nicht ganz den toten Kräften der Anziehung, sondern in diesem Streben und Widerstreben der trägen, nach Gleichgewicht verlangenden Materie, und der belebenden, das Gleichgewicht hassenden Natur, wird die tote Masse gezwungen, wenigstens in bestimmter Form und Gestalt anzuschließen, welche eben deswegen der menschlichen Urteilskraft als Zweck der Natur erscheint, da[610] diese Form nicht entstehen konnte, als indem die Natur die entgegengesetzten Elemente solange wie möglich auseinander hielt, und so sie zwang, ihren Händen nicht anders als unter einer bestimmten (ihren Zwecken scheinbar angemessenen) Form gleichsam zu entwischen. Daher erklärt sich die absolute Vereinigung von Notwendigkeit und Zufälligkeit in jeder Organisation. Daß tierische Materie überhaupt entsteht, kann uns nicht als Zweck der Natur erscheinen, weil ein solches Entstehen nur nach blinden notwendigen Gesetzen geschieht. Daß aber diese Materie zu bestimmter Gestalt sich bildet, können wir uns nur als zufälligen Naturerfolg, und insofern nur als Zweck einer personifizierten Natur denken, weil der Naturmechanismus eine bestimmte Bildung nicht notwendig hervorbringt.

Der eigentlich-chemische Prozeß des Lebens erklärt uns also nur die blinden und toten Naturwirkungen, welche im belebten Körper wie im toten erfolgen, nicht aber wie die Natur selbst in diesen toten Wirkungen blinder Kräfte im belebten Wesen noch gleichsam ihren Willen behält, was sich durch die zweckmäßige Bildung der tierischen Materie verrät, und offenbar nur aus einem Prinzip erklärbar ist, das außer der Sphäre des chemischen Prozesses liegt und in ihn nicht eingeht.


Zusätze

1. Wenn wir dem Ursprung des Begriffs von Organisation nachforschen, finden wir Folgendes.

Im Naturmechanismus erkennen wir (solange wir ihn nicht selbst als ein Ganzes betrachten, das in sich selbst zurückkehrt) eine bloße Aufeinanderfolge von Ursachen und Wirkungen, deren keine etwas an sich Bestehendes, Bleibendes, Beharrliches – kurz nichts ist, das eine eigne Welt bildete, und mehr als bloße Erscheinung wäre, die nach einem bestimmten Gesetze entsteht und nach einem andern Gesetze wieder verschwindet.

Wenn aber diese Erscheinungen gefesselt würden, oder wenn die Natur selbst die materiellen Prinzipien, die sonst nur in[611] einzelnen Erscheinungen vorüberschwinden, innerhalb einer bestimmten Sphäre zu wirken zwänge, so würde diese Sphäre etwas Bleibendes und Unveränderliches ausdrücken. Das Perennierende wären dann nicht die Erscheinungen innerhalb dieser Sphäre (denn diese würden auch hier entstehen und verschwinden, verschwinden und wieder entstehen), sondern das Perennierende wäre die Sphäre selbst, innerhalb welcher jene Erscheinungen begriffen sind: diese Sphäre selbst könnte nicht bloße Erscheinung sein, denn sie wäre das, was im Konflikt jener Erscheinungen entstanden ist, das Produkt, und gleichsam der Begriff (das Bleibende) jener Erscheinungen.

Was Begriff ist, ist eben deswegen etwas Fixiertes, Ruhendes, das Monument vorüberschwindender Erscheinungen; das Veränderliche in jenem Produkt wären die Erscheinungen, deren Produkt es ist; das Unveränderliche wäre allein der Begriff (einer bestimmten Sphäre), den jene Erscheinungen kontinuierlich auszudrücken nezessitiert sind; es wäre in diesem Ganzen eine absolute Vereinigung des Veränderlichen und des Unveränderlichen.

Da das (nichterscheinende) Unwandelbare in diesem Ding nur das Produkt (der Begriff) der zusammenwirkenden Ursachen ist, so kann es nicht selbst wieder etwas sein, das nur durch seine Wirkungen unterschieden wird, es muß etwas sein, das einen unterscheidenden Charakter in sich selbst hat, und das an sich selbst, abstrahiert von allen Wirkungen, die es hat, das ist, was es ist, kurz etwas in sich selbst Ganzes und Beschlossenes (in se teres atque rotundum).

Da der Begriff dieses Produkts nichts Wirkliches ausdrückt, als insofern er der Begriff zusammenwirkender Erscheinungen ist, und da umgekehrt diese Erscheinungen nichts Bleibendes (Fixiertes) sind, als insofern sie innerhalb dieses Begriffs wirken, so muß in jenem Produkt Erscheinung und Begriff unzertrennlich vereinigt sein.

Das Unwandelbare in diesem Produkt ist allerdings nur der Begriff, den es ausdrückt: da aber Materie und Begriff[612] in diesem Produkt unzertrennlich vereinigt sind, so muß auch in der Materie dieses Produkts etwas Unzerstörbares liegen.

Die Materie aber ist an sich unzerstörbar. An dieser ursprünglichen Unzerstörbarkeit der Materie hängt alle Realität, hängt das Unüberwindliche in unserm Erkenntnis. Von dieser (transzendentalen) Unzerstörbarkeit der Materie aber kann hier nicht die Rede sein. Es muß sonach von einer empirischen Unzerstörbarkeit, d.h. von einer solchen, die nicht der Materie, als solcher, sondern die dieser Materie, als einer bestimmten, zukommt, die Rede sein.

Das aber, was eine Materie zu einer bestimmten Materie macht, ist entweder ihr Inneres, ihre Qualität, oder ihr Äußeres, ihre Form und Gestalt. Jede innere (qualitative) Veränderung der Materie aber offenbart sich äußerlich durch den veränderten Grad ihrer Kohärenz. Ebenso kann Form und Gestalt der Materie nicht verändert werden, ohne daß ihre Kohärenz, zum Teil wenigstens, aufgehoben werde. Der gemeinschaftliche Begriff für die Zerstörbarkeit einer bestimmten Materie, als solcher, ist also die Veränderlichkeit ihrer Kohärenz, oder ihre Teilbarkeit (daher auch keine chemische Auflösung ohne vollbrachte Teilung ins Unendliche denkbar ist).

Also kann die Materie jenes Produkts nur insofern unzerstörbar sein, als sie schlechthin unteilbar ist, nicht als Materie überhaupt (denn insofern muß sie teilbar sein), sondern als Materie dieses bestimmten Produkts, d.h. insofern sie diesen bestimmten Begriff ausdrückt.

Sie muß also teilbar sein und unteilbar zugleich, d.h. teilbar und unteilbar in verschiedenem Sinne. Ja sie muß in einem Sinne unteilbar sein, nur insofern sie im andern teilbar ist. Sie muß teilbar sein, wie jede andere Materie, ins Unendliche, unteilbar, als diese bestimmte Materie, gleichfalls ins Unendliche, d. h. so, daß durch unendliche Teilung kein Teil in ihr angetroffen werde, der nicht noch das Ganze vorstellte, auf das Ganze zurückwiese.[613] Der unterscheidende Charakter dieses Produkts (das, was es aus der Spare bloßer Erscheinungen hinweg nimmt) ist sonach seine absolute Individualität.

Es muß unteilbar sein (dem Begriff nach), nur insofern es teilbar ist (der Erscheinung nach). Es müssen also Teile in ihm unterscheidbar sein. Teile aber (es ist nicht von Elementen die Rede, denn diese, obgleich die gemeine Physik diese Vorstellung hat, sind nicht Teile, sondern das Wesen der Materie selbst) lassen sich nur unterscheiden durch Form und Gestalt.

Der erste Übergang zur Individualität ist also Formung und Gestaltung der Materie. Im gemeinen Leben wird alles, was von sich selbst oder durch Menschenhand Figur erhalten hat, als Individuum betrachtet oder behandelt. Es ist sonach a priori abzuleiten, daß jeder feste Körper eine Art von Individualität hat, sowie, daß jeder Übergang aus flüssigem in festen Zustand mit einer Anschießung, d.h. Bildung zu bestimmter Gestalt, verbunden ist; denn das Wesen des Flüssigen besteht eben darin, daß in ihm kein Teil angetroffen werde, der vom andern durch Figur sich unterscheide (in der absoluten Kontinuität, d.h. Nichtindividualität seiner Teile), dagegen je vollkommener jener Prozeß des Übergangs ist, desto entschiedener die Figur des Ganzen nicht nur, sondern auch der Teile. (Es ist aus der Chemie bekannt, daß keine regelmäßige Kristallisation sich bildet, als wenn sie ruhig geschieht, d. h. wenn der freie Übergang der Materie vom flüssigen in festen Zustand nicht gestört wird.)

Es ist merkwürdig, daß auch der allgemein angenommene Sprachgebrauch (gegen welchen einige neuerdings ohne Aufmerksamkeit auf seinen guten Grund sich aufgelehnt haben) die materiellen Ursachen, in welchen kein Teil unterscheidbar ist, mit dem Namen von Flüssigkeiten belegt hat: so spricht man allgemein von elektrischer, magnetischer Flüssigkeit (fluide électrique, magnétique).

Die menschliche Kunst besteht darin, der rohen Materie nicht sowohl – Unzerstörbarkeit, als Zerstörbarkeit zu erteilen,[614] d.h. sie kann die Unzerstörbarkeit, welche die Natur in allen ihren Produkten erreicht, nur bis zu einer gewissen Grenze erreichen. Man sagt von keiner rohen Materie, daß sie zerstörbar ist, als insofern sie durch menschliche Kunst eine bestimmte Form erhalten hat. Der Altertumskenner versteht sich darauf (oder tut wenigstens, als ob er sich darauf verstünde), aus einem abgerissenen Kopf nicht nur die Bildsäule, der er angehörte, sondern oft sogar das Zeitalter der Kunst zu bestimmen, in welches er gehört. Indes geht diese Erkennbarkeit des Ganzen aus dem Teil, die bei Naturprodukten (wenn selbst das bewaffnete Auge ihr nicht weiter zu folgen vermag, doch für ein schärferes, durchdringenderes Auge) ins Unendliche geht, bei Kunstprodukten niemals ins Unendliche, wodurch sich eben die Unvollkommenheit menschlicher Kunst verrät, die nicht wie die Natur durchdringende, sondern nur oberflächliche Kräfte in ihrer Gewalt hat32.

So sagt jener Begriff der Unzerstörbarkeit jeder Organisation nichts anders, als daß in ihr ins Unendliche kein Teil angetroffen wird, in welchem nicht das Ganze gleichsam fortdauerte, oder aus welchem nicht das Ganze erkennbar wäre. – Erkennbar aber ist eins aus dem andern, nur insofern es Wirkung oder Ursache dieses andern ist. Daher folgt denn auch aus dem Begriff der Individualität die doppelte Ansicht jeder Organisation, die als idealisches Ganzes die Ursache aller Teile (d.h. ihrer selbst als realen Ganzen), und als reales Ganzes (insofern sie Teile hat) die Ursache ihrer selbst als idealischen Ganzen ist, worin man dann ohne Mühe die oben aufgestellte absolute Vereinigung des Begriffs und der Erscheinung (des Idealen und Realen) in jedem Naturprodukt erkennt, und auf die endliche Bestimmung kommt, daß jedes wahrhaft individuelle Wesen von sich selbst zugleich Wirkung[615] und Ursache sei. Ein solches Wesen aber, das wir betrachten müssen, als ob es von sich selbst zugleich Ursache und Wirkung sei, heißen wir organisiert (die Analysis dieses Begriffs hat Kant in der Kritik der Urteilskraft gegeben), – daher was in der Natur den Charakter der Individualität trägt, eine Organisation sein muß, und umgekehrt.

2. In jeder Organisation geht die Individualität (der Teile) bis ins Unendliche. (Dieser Satz, wenn er auch nicht als konstitutives Prinzip aus Erfahrung erweisbar ist, muß wenigstens als Regulativ jeder Untersuchung zugrunde gelegt werden; selbst im gemeinen Leben urteilen wir, daß eine Organisation um so vollkommener ist, je weiter wir diese Individualität verfolgen können). Das Wesen des organisierenden Prozesses muß also im Individualisieren der Materie ins Unendliche bestehen.

Nun ist aber kein Teil einer Organisation individuell, als insofern in ihm noch das Ganze der Organisation erkennbar und gleichsam ausgedrückt ist. Dieses Ganze besteht aber selbst nur in der Einheit des Lebensprozesses.

Es muß also in jeder Organisation die höchste Einheit des Lebensprozesses in Ansehung des Ganzen und zugleich die höchste Individualität des Lebensprozesses in Ansehung jedes einzelnen Organs herrschen. Beides aber läßt sich nicht vereinigen, als wenn man annimmt, daß ein und derselbe Lebensprozeß in jedem einzelnen Wesen sich ins Unendliche individualisiere. Wir müssen es vorerst dahingestellt sein lassen, diesen Satz physiologisch begreiflich zu machen; er steht a priori fest, und damit genügt uns hier. Aber es liegt in diesem Satz ein anderer eingewickelt, um den es uns eigentlich hier zu tun ist.

»Die Individualität jedes Organs ist nur erklärbar aus der Individualität des Prozesses, durch den es erzeugt wird.« – Nun erkennen wir aber die Individualität eines Organs teils an seiner ursprünglichen Mischung, teils an seiner Form und Gestalt, oder vielmehr, ein individuelles Organ ist nichts anderes als diese bestimmte individuelle Mischung verbunden mit dieser bestimmten [616] Form der Materie. Also kann Mischung so wenig als Form der Organe Ursache des Lebensprozesses sein, sondern umgekehrt, der Lebensprozeß selbst ist Ursache der Mischung sowohl als der Form der Organe. Es ist also klar, daß, wenn wir eine Ursache (nicht die Bedingungen) des Lebensprozesses aufsuchen wollen, diese Ursache außerhalb der Organe zu suchen ist, und eine viel höhere sein muß, als Struktur oder Mischung der letztern, die selbst erst als Wirkung des Lebensprozesses betrachtet werden muß.

Da übrigens des Lebensprozeß selbst nur in der kontinuierlichen Störung und Wiederherstellung des Gleichgewichts der negativen Prinzipien des Lebens besteht, und da eben diese Prinzipien die Elemente aller Mischungen sind, die in der tierischen Organisation vorgehen, so ist der Lebensprozeß eigentlich nur die unmittelbare Ursache der individuellen Mischung der tierischen Organe, und nur dadurch, daß er die widerstrebenden Elemente in bestimmter Mischung zusammen zwingt, zugleich mittelbare Ursache der Form aller Organe; woraus denn der Satz sich ergibt, daß die Eigenschaften der tierischen Materie im ganzen sowohl als in einzelnen Organen nicht von ihrer ursprünglichen Form, sondern daß umgekehrt die Form der tierischen Materie im ganzen sowohl als in einzelnen Organen von ihren ursprünglichen Eigenschaften abhängig sei, ein Satz, womit der Schlüssel zur Erklärung der merkwürdigsten Phänomene im organischen Naturreich gefunden ist, und welcher erst eigentlich die Organisation von der Maschine unterscheidet, in welcher die Funktion (die Eigenschaft) jedes einzelnen Teils von seiner Figur abhängig ist, da umgekehrt in der Organisation die Figur jedes Teiles von seiner Eigenschaft abhängt.


Anmerk. Wir können jetzt von dem genommenen Standpunkt aus die verschiedenen Stufen bezeichnen, über welche allmählich die Physiologie bis auf unsere Zeit emporgestiegen ist.

Die tötenden Einflüsse, welche die atomistische Philosophie nicht sowohl auf einzelne Sätze der Naturwissenschaft, als auf den Geist der Naturphilosophie im Ganzen gehabt hat, äußerten[617] sich auch in der Physiologie dadurch, daß man den Grund der vorzüglichsten Erscheinungen des Lebens in der Struktur der Organe suchte (so hat selbst Haller noch die Irritabilität der Muskeln aus ihrer eigentümlichen Struktur erklärt), eine Meinung, die (wie so viele atomistische Vorstellungsarten) schon durch die gemeinsten Erfahrungen widerlegt werden konnte (z.B. daß bei völlig unveränderter Struktur aller Organe der Tod plötzlich erfolgen kann); nichtsdestoweniger sind noch bis auf die neuesten Zeiten bei vielen Physiologen Leben und Organisation gleichbedeutend.

Die unmerkliche Umänderung des philosophischen Geistes, die allmählich zu einer totalen Revolution der philosophischen Denkart sich anschickte, zeigte sich bereits in einzelnen Produkten (z.B. Blumenbachs Bildungstrieb, dessen Annahme ein Schritt außerhalb der Grenzen der mechanischen Naturphilosophie und aus der Strukturphysiologie nicht mehr erklärbar war, daher es wohl kommen mag, daß man bis auf die neueste Zeit keine Reduktion desselben auf natürliche Ursachen versucht hat), als zu gleicher Zeit die neuen Entdeckungen der Chemie die Naturwissenschaft immer mehr vom atomistischen Weg ablenkten und den Geist der dynamischen Philosophie durch alle Köpfe verbreiteten.

Man muß den chemischen Physiologen den Ruhm lassen, daß sie zuerst, obgleich mit dunklem Bewußtsein, über die mechanische Physiologie sich erhoben haben und wenigstens so weit vorgeschritten sind, als sie mit ihrer toten Chemie kommen konnten. Sie haben wenigstens zuerst den Satz als Prinzip aufgestellt (obgleich sie ihm in ihren Behauptungen nicht getreu blieben), daß die Form der Organe nicht die Ursache ihrer Eigenschaften, sondern daß umgekehrt ihre Eigenschaften (ihre Qualität, chemische Mischung) die Ursache ihrer Form seien.

Hier scheint ihre Grenze gewesen zu sein. Als chemische Physiologen konnten sie nicht weiter als bis zu den chemischen Eigenschaften der tierischen Materie zurückgehen. Der Philosophie war es aufbehalten, den Grund auch von diesen noch in höheren Prinzipien aufzusuchen und so die Physiologie endlich ganz über das Gebiet der toten Physik zu erheben.[618]

Die Unzertrennlichkeit der Materie und Form (welche das Wesen der organisierten Materie ausmacht) scheint sich übrigens in der anorgischen Natur schon an manchen Produkten zu offenbaren, da viele (wenn ihre Bildung nicht gestört wird) unter einer ihnen eignen Form sich kristallisieren. Wenn spezifisch verschiedene Materien, z.B. verschiedene Salze, die aus einem gemeinschaftlich Auflösungsmittel unter gleichen Umständen sich scheiden, jedes in seiner eigentümlichen Form anschießt, so kann man den Grund dieser Erscheinung in nichts anderem als der ursprünglichen Qualität, und zwar, da das positive Prinzip aller Kristallisation ohne Zweifel dasselbe ist, in einer ursprünglichen Verschiedenheit ihres negativen Prinzips suchen. – Alle Kristallisationen (mit Häuy) als sekundäre Bildungen anzusehen, die aus der verschiedenen Anhäufung primitiver, unveränderlicher Gestalten entspringen, ist, wenn auch gleich ein solcher Ursprung mathematisch sich konstruieren läßt, doch nur ein scharfsinniges Spiel, da von keiner auch noch so einfachen Bildung bewiesen werden kann, daß sie nicht selbst noch sekundär sei.

3. Wenn Form und Gestalt der Organe Folge ihrer Qualitäten ist, so fragt sich, wovon diese zunächst abhängen? – Zunächst abhängig sind sie von dem quantitativen Verhältnis der Elemente ihrer Mischung. Es kommt darauf an, welches der ursprünglichen Elemente in ihnen das Übergewicht hat (ob Stickstoff, oder Sauerstoff, oder Kohlenstoff usw.), oder ob wohl gar nur eines derselben in ihnen herrschend ist. Daß alle Verschiedenheit der Organe bloß auf den möglichen Kombinationen dieser Urstoffe im tierischen Körper beruhe, kann um so weniger bezweifelt werden, da schon eine Art von Stufenfolge der Organe von denen an, die am wenigsten Stickstoff enthalten, bis zu denen, welche (der eigentliche Sitz der Irritabilität) am meisten davon enthalten müssen, wahrnehmbar ist, wie ich unten erweisen werde.

So wird man in der Folge nicht nur durch chemische Analyse der einzelnen tierischen Teile, sondern vorzüglich durch Beobachtung ihrer Funktionen das Verhältnis ihrer Mischung hinlänglich genau bestimmen können. – Ich kann hier nicht umhin, zu bemerken, daß, da der Unterschied der Tiere und Pflanzen nur[619] darin besteht, daß jene das negative Lebensprinzip zurückhalten, diese es aushauchen, die Natur den Übergang von Pflanzen zu Tieren nicht durch einen Sprung machen konnte, sondern daß in diesem Übergang von Vegetation zum Leben allmählich zu den Elementen der Vegetation ein Stoff hinzukommen mußte, der sie fähig machte, das negative Prinzip des Lebens zurückzuhalten. Dieser Stoff ist der Stickstoff, der in unsrer Atmosphäre, man weiß nicht wie, mit Oxygene verbunden, und selbst durch Kunst kaum frei von Oxygene darstellbar, eine hartnäckige Verwandtschaft zu dieser Materie durchgängig beweist. Man sieht jetzt ein, warum der Stickstoff eigentlich das Element ist, das die tierische Materie vor der vegetabilischen auszeichnet. Man darf jetzt nur annehmen, daß in den Lungen dieses Element bis zu einem gewissen Grade mit Sauerstoff durchdrungen sei, um begreifen zu können, wie in diesem Organ durch bloße Berührung eine Luftzersetzung vorgehen könne, da eben dieser Stoff, bis zu einem gewissen Grade oxydiert, das Oxygene mit so großer Gewalt an sich reißt.

Daß aber mit der verschiedenen Kombination der Elemente regelmäßig auch eine eigentümliche Form der Kristallisation verbunden sein müsse, ist a priori nicht nur, sondern aus vielen Erfahrungen bekannt, da beinahe alle (mineralischen) Kristallisationen, so wie sie in der Natur erzeugt werden, ihre Kristallisationsfähigkeit den verschiedenen Elementen verdanken, mit denen sie gemischt sind, und die durch Kunst von ihnen getrennt werden.


Anmerk. Daß der Stickstoff eigentlich dasjenige ist, was die Tiere fähig macht das negative Lebensprinzip zurückzuhalten, sieht man daraus, daß auch Vegetabilien, die, wie Morcheln und Champignons (Agaricus campestris) und die meisten Schwämme, in deren Mischung sehr viel Stickstoff eingeht (daher die Nahrhaftigkeit dieser Gewächse), in Ansehung der Respiration mit den Tieren insofern übereinkommen, als sie die reinste Luft verderben und irrespirable Luft aushauchen (s. v. Humboldts Aphorismen usw., S. 107. Dess. Flora Friberg, S. 174 und über die gereizte Nerven- und Muskelfaser, S. 176 ff.).[620]

Durch Schwefel- und Salpetersäure, scheint es, können beide in eine ähnliche Substanz wie die tierische Materie verwandelt werden (a. a. O. S. 177.)

4. Da die Quelle alles Nahrungsstoffes im Blut liegt, da jedes Organ eine eigentümliche Mischung hat und aus jener allgemeinen Quelle nur das an sich zieht, was diese Mischung zu erhalten fähig ist, so muß angenommen werden, daß das Blut in seinem Kreislauf durch den Körper kontinuierlich seine Mischung verändere, womit auch die Erfahrung übereinstimmt, da das Blut aus keinem Organ ohne sichtbare Veränderung heraustritt. Allein da der Grund dieser Veränderung im Organ zu suchen ist, so muß man auch voraussetzen, daß im Organ eine Ursache wirke, die es fähig macht, das durchströmende Blut auf bestimmte Art zu entmischen, und so zugleich sich selbst auf bestimmte Art zu regenerieren. Diese Ursache nun kann nicht wieder in den negativen Lebensprinzipien, nicht in einem Prinzip, das durch den Lebensprozeß selbst erst erzeugt oder zersetzt wird, also abermals nur in einem höheren Prinzip gesucht werden, das außerhalb der Sphäre des Lebensprozesses selbst liegt, und nur insofern die erste und absolute Ursache des Lebens ist.

Anmerk. Hier stehen wir also wieder an den Grenzen, über die wir mit der toten Chemie nicht hinaus können. – Welcher Physiologe von Anbeginn an ist stumpfsinnig genug gewesen, nicht einzusehen, daß der Assimilations- und Nutritionsprozeß im tierischen Körper auf chemische Art geschehe? Die unbeantwortete Frage war nur die: durch welche Ursache jener chemische Prozeß unterhalten, und durch welche Ursache er immerfort so ins Unendliche individualisiert werde, daß aus ihm die kontinuierliche Reproduktion aller einzelnen Teile (in beständig gleicher Mischung und Form) erfolgen könne. Jetzt treiben einige ein leeres Spiel mit ihnen selbst unverständlichen Worten: tierische Wahlanziehung, tierische Kristallisation usw., ein Spiel, das nur deswegen neu scheint, weil ältere Physiologen sich scheuten, Naturwirkungen, von denen niemand zweifelt, daß sie geschehen, deren Ursache aber ihnen[621] (sowie diesen neueren Physiologen) unbekannt war, als letzte Ursachen aufzustellen.

5. Wie wollen etwa jene Physiologen die Impetuosität der Naturtriebe erklären, die, wenn sie nicht befriedigt werden, den Menschen zu den rasendsten Handlungen und zum Wüten gegen sich selbst fortreißen? Haben sie Ugolinos und seiner Söhne Hungertod bei den Dichtern gelesen? – Oder wie wollen sie die schreckliche Kraft erklären, mit der die Natur, wenn etwa ein verborgenes Gift die erste Quelle des Lebens anzugreifen droht, diesen widerstrebenden Stoff den eigentümlichen Gesetzen der tierischen Organisation zu unterwerfen arbeitet? Viele Gifte dieser Art scheinen auf die tierischen Stoffe assimilierend zu wirken. Nach Gesetzen der toten Chemie müßte ein gemeinschaftliches Produkt aus beiden entstehen, mit welchem vielleicht das Leben nicht bestehen könnte, aber gegen welches tote Kräfte nicht mit Gewalt ankämpfen würden. Was tut hier die Natur? – Sie setzt alle Instrumente des Lebens in Bewegung, um die Assimilationskraft des Gifts zu unterdrücken und unter die assimilierenden Kräfte des Körpers zu zwingen. Nicht Wirkung des Giftes, sondern eine dem lebenden Körper eigne Kraft ist es, was diesen Kampf veranlaßt, der oft mit dem Tode, oft mit der Genesung endet. Es ist hieraus (so scheint mir) klar genug, daß die toten chemischen Kräfte, die im Assimilationsprozeß wirken, selbst eine höhere Ursache voraussetzen, von der sie regiert und in Bewegung gesetzt werden.


B.

Überhaupt scheint es mir, daß die meisten Naturforscher bis jetzt noch den wahren Sinn des Problems vom Ursprung organisierter Körper verfehlt haben.

Wenn ein Teil derselben eine besondere Lebenskraft annimmt, die als eine magische Gewalt alle Wirkungen der Naturgesetze im belebten Wesen aufhebt, so heben sie eben damit alle Möglichkeit die Organisation physikalisch zu erklären a priori auf.

Wenn dagegen andere den Ursprung aller Organisation aus toten chemischen Kräften erklären, so heben sie eben damit[622] alle Freiheit der Natur im Bilden und Organisieren auf. Beides aber soll vereinigt werden.

1. Die Natur soll in ihrer blinden Gesetzmäßigkeit frei: und umgekehrt in ihrer vollen Freiheit gesetzmäßig sein, in dieser Vereinigung allein liegt der Begriff der Organisation.

Die Natur soll weder schlechthin gesetzlos handeln (wie die Verteidiger der Lebenskraft, wenn sie konsequent sind, behaupten müssen), noch schlechthin gesetzmäßig (wie die chemischen Physiologen behaupten), sondern sie soll in ihrer Gesetzmäßigkeit gesetzlos, und in ihrer Gesetzlosigkeit gesetzmäßig sein.

Das aufzulösende Problem also ist dieses: wie die Natur in ihrer blinden Gesetzmäßigkeit einen Schein der Freiheit behaupten, und umgekehrt, indem sie frei zu wirken scheint, doch nur einer blinden Gesetzmäßigkeit gehorchen könne.

Für diese Vereinigung von Freiheit und Gesetzmäßigkeit haben wir nun keinen andern Begriff, als den Begriff Trieb. Anstatt also zu sagen, daß die Natur in ihren Bildungen zugleich gesetzmäßig und frei handle, können wir sagen, in der organischen Materie wirke ein ursprünglicher Bildungstrieb, kraft dessen sie eine bestimmte Gestalt annehme, erhalte und immerfort wiederherstelle.

2. Allein der Bildungstrieb ist nur ein Ausdruck jener ursprünglichen Vereinigung von Freiheit und Gesetzmäßigkeit in allen Naturbildungen, nicht aber ein Erklärungsgrund dieser Vereinigung selbst. Auf dem Boden der Naturwissenschaft (als Erklärungsgrund) ist er ein völlig fremder Begriff, der keiner Konstruktion fähig, wenn er konstitutive Bedeutung haben soll, nichts anderes als ein Schlagbaum für die forschende Vernunft, oder das Polster einer dunklen Qualität ist, um die Vernunft darauf zur Ruhe zu bringen.

Dieser Begriff setzt organische Materie schon voraus, denn jener Trieb soll und kann nur in der organischen Materie wirksam sein. Dieses Prinzip kann also nicht eine Ursache der Organisation anzeigen, vielmehr setzt dieser Begriff des[623] Bildungstriebs selbst eine höhere Ursache der Organisation voraus; indem man diesen Begriff aufstellt, postuliert man auch eine solche Ursache, weil dieser Trieb ohne organische Materie, und diese ohne eine Ursache aller Organisation selbst nicht denkbar ist.

Weit entfernt also der Freiheit der Naturforschung Eintrag tun zu wollen, muß dieser Begriff sie vielmehr erweitern, weil er aussagt, daß der letzte Grund der Organisation, worauf man in der organischen Materie selbst kommt, organische Materie schon voraussetzt, also nicht die erste Ursache der Organisation sein kann, die eben deswegen, wenn sie aufgesucht werden soll, nur außer ihr aufgesucht werden kann.

Wenn der Bildungstrieb die organische Materie ins Unendliche fort schon voraussetzt, so sagt er als Prinzip nichts anderes, als, daß wenn man die erste Ursache der Organisation in der organisierten Materie selbst suchen wollte, diese Ursache in der Unendlichkeit liegen müßte. Eine Ursache aber, die in der Unendlichkeit liegt, ist soviel als eine Ursache, die nirgends liegt, sowie, wenn man sagt, der Punkt, wo zwei Parallellinien zusammentreffen, liege in der Unendlichkeit, dies ebensoviel heißt, als liege er nirgends. Also liegt in dem Begriffe des Bildungstriebs der Satz: daß die erste Ursache der Organisation in der organisierten Materie selbst ins Unendliche fort, d. h. überhaupt nicht zu finden sei, daß also eine solche Ursache, wenn sie gefunden werden solle (worauf die Naturwissenschaft nimmermehr Verzicht tut), außerhalb der organisierten Materie gesucht werden müsse, und so kann der Bildungstrieb in der Naturwissenschaft nie als Erklärungsgrund, sondern nur als Erinnerung an die Naturforscher dienen, eine erste Ursache der Organisation nicht in der organisierten Materie selbst (etwa in ihren toten, bildenden Kräften), sondern außer ihr aufzusuchen.


Anmerk. Daß der Urheber dieses Begriffs selbst dieses dabei gedacht, bin ich weit entfernt zu behaupten, genug wenn aus seinem Begriffe folgt, was ich daraus abgeleitet habe. – Dieser Begriff, an die Stelle der Evolutionstheorie gesetzt, hat[624] zuerst den Weg möglicher Erklärung, (den jene Theorie zum voraus abschnitt) geöffnet. Denn daß er diesen Weg aufs neue versperren und selbst als erster Erklärungsgrund habe dienen sollen, kann ich nicht glauben, obgleich manche (denen ein solcher Erklärungsgrund ganz bequem dünkt) es zu glauben scheinen. Diesen ist der Bildungstrieb letzte Ursache des Wachstums, der Reproduktion usw.; wenn aber jemand über diesen Begriff hinausgeht und fragt, durch welche Ursache denn der Bildungstrieb in der organisierten Materie selbst kontinuierlich unterhalten werde, so bekennen sie ihre Unwissenheit und verlangen, daß man mit ihnen unwissend bleibe. – Einige wollen sogar gefunden haben, daß selbst Kant in der Kritik der Urteilskraft einer solchen Bequemlichkeit der Erklärung Vorschub tue. Auf die Versicherungen übrigens, daß es unmöglich sei, über den Bildungsgrad hinauszugehen, antwortet man am besten dadurch, daß man darüber hinausgeht.

3. Ich bin vollkommen überzeugt, daß es möglich ist, die organisierenden Naturprozesse auch aus Naturprinzipien zu erklären. Die Bildung des tierischen Stoffs würde ohne Einfluß eines äußeren Prinzips nach toten chemischen Kräften geschehen, und bald einen Stillstand des Naturprozesses herbeiführen, wenn nicht ein äußeres, dem chemischen Prozeß nicht unterworfenes Prinzip kontinuierlich auf die tierische Materie einwirkte, den Naturprozeß immer neu anfachte, und die Bildung des tierischen Stoffs nach toten chemischen Gesetzen kontinuierlich störte; nun aber, wenn ein solches Prinzip vorausgesetzt wird, können wir erstens die blinde Gesetzmäßigkeit der Natur in allen Bildungen aus den dabei mitwirkenden chemischen Kräften der Materie, die Freiheit in diesen Bildungen aber oder das Zufällige in ihnen aus der in bezug auf den chemischen Prozeß selbst zufälligen Störung der eigentümlichen Bildungskräfte des tierischen Stoffs durch ein äußeres, vom chemischen Prozeß selbst unabhängiges Prinzip, wie mir scheint, vollkommen erklären.

4. Wäre der Bildungstrieb absoluter Grund der Assimilation des Wachstums, der Reproduktion usw., so müßte es unmöglich sein ihn weiter zu analysieren; er ist aber ein synthetischer[625] Begriff, der, wie alle Begriffe dieser Art, zwei Faktoren hat, einen positiven (das Naturprinzip, durch welches die tote Kristallisation der tierischen Materie kontinuierlich gestört wird), und einen negativen (die chemischen Kräfte der tierischen Materie). Aus diesen Faktoren allein ist der Bildungstrieb konstruierbar. – Wär' er aber ein absoluter Grund, der selbst keiner weitem Erklärung fähig wäre, so müßte er der organisierten Materie überhaupt, als solcher, beiwohnen, und in allen Organisationen sich mit gleicher Kraft äußern, so wie die Schwere als Grundeigenschaft allen Körpern gleich zukommt. Nun zeigt sich aber doch z.B. in Ansehung der Reproduktionskraft verschiedener Organisationen die größte Verschiedenheit, zum Beweis, daß dieser Trieb selbst von zufälligen Bedingungen abhängig (also nicht absoluter Grund) ist.

5. Das gleichförmige Wachstum des ganzen Körpers kann nicht erklärt werden, ohne jedem Organ eine eigentümliche (spezifische) Assimilationskraft zuzuschreiben; diese selbst aber ist abermals eine Qualitas occulta, wenn nicht eine erhaltende Ursache derselben außer der Organisation angenommen wird. Nun kann man als Gesetz aufstellen, daß ein Organ um so schwerer wieder erstattet wird, je mehr es spezifische Assimilationskraft hatte. Wäre der Bildungstrieb absoluter Grund der Reproduktion, so ließe sich kein Grund dieser verschiedenen Leichtigkeit angeben, mit der ein Organ vor dem andern wiederhergestellt wird. Wenn aber dieser Trieb einerseits von dem kontinuierlichen Einfluß eines positiven Naturprinzips auf die Organisation, andererseits von den chemischen Eigenschaften der organischen Materie abhängig ist, so sieht man ein, daß, je eigentümlicher und individueller die (chemische) Mischung und die Form eines Organs ist, desto schwieriger auch die Wiedererstattung sein muß. Daher verrät die Erstattungskraft nicht sowohl große Vollkommenheit als Unvollkommenheit einer Organisation. Wäre der Bildungstrieb absolut, so müßte die Reproduktion in allen ihren Formen allgemeine Eigenschaft organischer Teile sein, und in der angezeigten Form nicht nur die Eigenschaft solcher Organisationen, in welchen[626] keine hervorstechende Individualität der Organe (der Qualität und Form nach) anzutreffen ist33.

Man betrachte den Körper der Polypen. Der ganze Körper dieser wegen ihrer unzerstörbaren Reproduktionskraft so berühmten Geschöpfe ist beinahe durchgängig homogen; hier sticht kein Organ vor dem andern hervor; hier ist keine prononzierte Gestalt; der ganze Polyp scheint ein Klumpen zusammengeronnener Gallerte zu sein; seine ganze Textur besteht bloß aus gallertigen Körnchen, die durch eine zartere gemeinschaftliche, abermals gallertige Grundlage zusammengehalten werden (s. Blumenbach über den Bildungstrieb S. 88). Eben diese Polypen, wenn sie einen Teil des Körpers (denn kaum kann man bei ihnen von Organ reden) wiedererstatten, nehmen den Stoff dazu aus der Materie ihres ganzen übrigen Körpers, zum Beweis, daß ihre Reproduktionsfähigkeit von der Homogeneität der Materie abhängt, aus welcher ihr ganzer Körper besteht. »Man kann dabei sehr deutlich bemerken, daß die neuergänzten Polypen bei allem reichlichen Futter doch weit kleiner sind als vorher, und ein verstümmelter Rumpf, sowie er die verlorenen Teile wieder hervortreibt, auch in gleichem Maße einzukriechen und kürzer und dünner zu werden scheint« (Blumenbach S. 29).

Welche hervorstechende Individualität der Organe dagegen bei all denen Organisationen, die verlorene Glieder nicht wiederersetzen! Und nimmt nicht auffallend die Fähigkeit der Wiederergänzung ab, wie die Individualität der Organe (und also auch die Heterogeneität ihrer Mischung und daraus resultierende Verschiedenheit ihrer Gestalt) ins Unendliche zunimmt? Ja sehen wir nicht, wie in einer und derselben Organisation die Stärke der Reproduktionskraft abnimmt, wie die Individualität[627] und Festigkeit der Organe allmählich zunimmt? Daß (nach Blumenbach) die Stärke des Bildungstriebs im umgekehrten Verhältnis mit dem Alter abnimmt, läßt sich nicht anders erklären, als weil mit dem Alter zugleich jedes Organ immer mehr individualisiert wird; denn erfolgt nicht der Tod vor Alter allein wegen der zunehmenden Starrheit der Organe, welche die Kontinuität der Lebensfunktionen unterbricht, und indem sie das Leben vereinzelt, das Leben des Ganzen unmöglich macht? –

Sehen wir nicht endlich, daß die Organe, denen wir wegen der Wichtigkeit ihrer Funktionen auch die vollkommenste und unzerstörbarste Individualität zu schreiben müssen, wie das Gehirn, von der Natur bei der ersten Formation schon am bestimmtesten vor allen andern ausgezeichnet werden, und daß eben diese Organe am wenigsten der Wiedererstattung fähig sind? Nach Haller bemerkt man, sobald man etwas am Embryo unterscheiden kann, daß der Kopf und vorzüglich die zerebrösen Teile desselben verhältnismäßig am größten, der Körper und die einzelnen Glieder klein sind. Am Gehirn bemerkt man endlich die konstanteste Bildung, an allen andern weniger individualisierten Teilen weit häufigere und auffallendere Varietäten. (Vergl. Blumenbach S. 107.) Aus all diesem nun ist (so scheint mir) klar, daß die Reproduktionskraft überhaupt nicht eine absolute, sondern eine von veränderlichen Bedingungen abhängige Kraft sei, also ohne Zweifel selbst ein materielles Prinzip als ihre erste Ursache voraussetze.


C.

Sehen wir nicht offenbar, daß alle Operationen der Natur in der organischen Welt ein beständiges Individualisieren der Materie sind? – Die gewöhnlich vorgegebene allmähliche Veredlung und Läuterung der Nahrungssäfte in den Pflanzen ist nicht anderes als ein solches fortschreitendes Individualisieren. Je reichlichere und rohere Säfte der Pflanze zuströmen, desto üppiger und ausgebreiteter ist ihr Wachstum; dieses Wachstum ist nicht Zweck der Natur, es ist nur Mittel, um die höheren Entwicklungen vorzubereiten.[628]

1. Sobald der Samen sich entwickelt, sehen wir erst die Pflanze in Blätter und Stengel sich ausbreiten, und je reichere Nahrungssäfte ihr zugeführt werden, desto länger kann man sie bei diesem Wachstum erhalten, und den Gang der Natur, welche auf das endliche Individualisieren aller Nahrungssäfte, wenn sie nicht gestört wird, unaufhaltsam hinarbeitet, hemmen. Wenn erst die Säfte hinlänglich verbreitet sind, so sehen wir die Pflanze im Kelch sich zusammenziehen, darauf sich in den Blumenblättern wieder ausbreiten. Endlich erreicht die Natur die größte Individualisierung, welche in Einem Pflanzenindividuum möglich ist, durch die Bildung entgegengesetzter Geschlechtsteile. Denn mit der letzten Stufe, welche die Natur abermals durch einen Wechsel von Ausdehnung und Zusammenziehung endlich in der Frucht und dem Samen erreicht, ist schon der Grund eines neuen Individuums gelegt, an welchem die Natur ihr Werk von vorne wiederholt. »So vollendet sie in kontinuierlichem Wechsel von Ausdehnung und Zusammenziehung das ewige Werk der Fortpflanzung durch zwei Geschlechter« (J. W. v. Goethes Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären. 1790).

2. Es kann also als Gesetz aufgestellt werden, daß das letzte Ziel der Natur in jeder Organisation das allmähliche Individualisieren ist (was in diesem fortschreitenden Individualisieren gleichsam beiläufig entsteht, ist in bezug auf diesen Zweck der Natur schlechthin zufällig); denn sobald in einer Organisation die höchste Individualisierung erreicht ist, muß sie nach einem notwendigen Gesetz ihre Existenz einem neuen Individuum übertragen, und umgekehrt, die Natur läßt es in der Pflanze nicht zur Fortpflanzung kommen, ehe sie in ihr die höchste Individualisierung erreicht hat. Daher ist das allmählich fortschreitende Wachstum, da die sprossende Pflanze von Knoten zu Knoten, von Blatt zu Blatt sich fortsetzt, nichts anderes als das Phänomen der allmählichen Individualisierung, und insofern eine und dieselbe Naturoperation mit der Fortpflanzung selbst. (Vergl. Goethe § 113.)

3. Hier sehen wir also die Kontinuität des Zusammenhangs zwischen Wachstum und Fortpflanzung aller Organisationen. Da[629] wir in der Entwicklung belebter Organisationen eben dieselbe Ordnung der Natur erkennen (denn die Ausbildung der Geschlechtsteile und der Zeugungskraft ist der Zeitpunkt des stillstehenden Wachstums; die Tiere, die mit Pflanzen am meisten Ähnlichkeit haben, z.B. die Insekten, die wie die Pflanzen erst durch Metamorphosen ihre Zeugungsteile erhalten, sterben ab, wie die Blume, sobald das Zeugungsgeschäft vollbracht ist): so müssen wir es als allgemeines Naturgesetz ansehen, daß das Wachstum aller Organisationen nur ein fortschreitendes Individualisieren ist, dessen Gipfel in der ausgebildeten Zeugungskraft entgegengesetzter Geschlechter erreicht wird.

4. Es ist eine und dieselbe Entwicklung, wodurch beide Geschlechter entspringen: dies ist bei den Pflanzen in die Augen fallend. Die Trennung in zwei Geschlechter geschieht nur auf verschiedenen Stufen der Entwicklung. Je höher die Individualität ist, zu der der Keim der künftigen Pflanze hinaufgebildet ist, desto früher trennen sich die Geschlechter (an zwei Stämme verteilt). Bei andern wird der Grad der Individualisierung, bei welchem entgegengesetzte Geschlechter entstehen, später erreicht, doch noch ehe der Kelch zur Blume sich entfaltet; die beiden Geschlechter sind dann auf verschiedenen Blumen, doch in Einem Individuum vereinigt. Endlich auf der letzten (obersten) Stufe ist die Trennung der Geschlechter mit der Entfaltung der Blume gleichzeitig, und bestätigt der einfache Entwicklungsgang jeder Pflanze, daß Wachstum und Fortpflanzung beide nur die Phänomene eines unaufhaltsamen Naturtriebs sind, die Organisation ins Unendliche zu individualsieren, womit die allgemeine Beobachtung übereinstimmt, daß in denjenigen Organisationen, die die hervorstechendste Individualität haben, das Geschlecht am spätesten ausgebildet wird, und umgekehrt, daß die frühere Ausbildung des Geschlechts auf Kosten der Individualität geschieht.

5. Wenn wir nun auf die Ursachen dieser allmählichen Entwicklung seilen, so ist klar, daß z.B. die Pflanze auf jeder höheren Stufe der Entwicklung sich auf einem höheren Grade[630] der Reduktion (oder Desoxydation) befindet, den sie endlich mit der Ausbildung der Frucht gleichzeitig erreicht. Vorerst breitet sich die werdende Pflanze in Blätter aus, das erste Triebwerk der Ausbauchung, denn durch die Blätter allein eigentlich verdünstet die Lebensluft; das Produkt der Reduktion offenbart sich auf der ersten Stufe an der Blume (die ihre Farbe dem Sauerstoff verdankt, und indem sie kontinuierlich verderbliche Luft aushaucht, verrät, daß sie jenen belebenden Stoff in sich zurückhält), endlich auf der höchsten Stufe in der Frucht, welche, nachdem sie alle Nahrungssäfte aus der Pflanze angezogen, die Pflanze selbst völlig desoxydiert zurückläßt.


Anmerk. Die Knospe schon, sobald sie gebildet ist, kann als ein von der Mutterpflanze ganz und gar verschiedenes und für sich bestehendes Individuum angesehen werden, wie Darwin in seiner Zoonomie (über setzt von Brandis, S. 182) sehr schön bewiesen hat. So viel Knospen auf dem Bäume, so viel neue Individuen. – Daß übrigens die Natur erst mit der Knospe die erste Stufe der Individualität erreicht, erhellt aus den Phänomenen der Inokulation, da die Beschaffenheit des Stamms für die Bildung der Frucht ganz gleichgültig erscheint. Die verschiedene Beschaffenheit der Frucht ist ganz und gar von dem verschiedenen Grad des Reduktionsprozesses, der ihrer Bildung voranging, abhängig, was man z.B. daraus sieht, daß durch Zusatz von Sauerstoff eine vegetabilische Säure in die andere verwandelt wird. – Die Pflanzen selbst unterscheiden sich nur durch den verschiedenen Grad der Reduktion des Nahrungswassers in ihnen. Man muß bemerken, daß es unendliche Grade der Desoxydation gibt und daß kein Grad der äußerste ist. Die verbrennlichsten dunkelfarbigen Gewächse sind, wie die Tiere von dunklerer Farbe, den heißen Klimaten eigen; die aromatischen Gewächse, welche in unserm Himmelsstrich gedeihen, lieben die Hitze des sandigen Erdreichs. Der Ölbaum wächst am besten auf trockenem und steinigem Boden, die edelste Rebe auf felsigem Grund, zum Beweis, daß die Veredlung der Pflanzensäfte allein vom Grade des Reduktionsprozesses in der Pflanze abhängt.

6. Die Trennung in zwei Geschlechter ist in der Natur ebenso [631] notwendig als das Wachstum, denn sie ist nur der letzte Schritt zur Individualisierung; da ein und dasselbe bisher homogene Prinzip in zwei entgegengesetzte Prinzipien auseinander geht. Wir können uns nicht erwehren, auch die Trennung in zwei Geschlechter nach den allgemeinen Grundsätzen des Dualismus zu erklären. Wo die Natur das Extrem der Heterogeneität (des gestörten Gleichgewichts) erreicht hat, kehrt sie nach einem notwendigen Gesetze zur Homogeneität (zur Wiederherstellung des Gleichgewichts) zurück. Nachdem die Prinzipien des Lebens in einzelnen Wesen bis zur Entgegensetzung individualisiert sind, eilt die Natur durch Vereinigung beider Geschlechter die Homogeneität wiederherzustellen. – Das Gesetz, nach welchem der Staubbeutel der Blume sich der weiblichen Narbe nähert und nach vollbrachter Befruchtung von ihr zurückgestoßen wird, ist nur eine Modifikation des allgemeinen Naturgesetzes, nach welchem auch entgegengesetzt-elektrische Körperchen erst sich anziehen, und nachdem sie homogene Elektrizitäten ineinander erweckt haben, sich fliehen. Selbst das Insekt, das von der einsamen männlichen Blüte den befruchtenden Staub zur weiblichen trägt, folgt hierbei nur einem notwendigen Trieb, der es von der einen zur andern führt. Wenn wir auch die Prinzipien, die in entgegengesetzten Geschlechtern sich trennen, nicht materiell angeben können, oder wenn selbst unsere Einbildungskraft dieser ins Unendliche gehenden Individualisierung der Prinzipien nicht zu folgen vermag, so liegt doch ein solcher Dualismus in den ersten Prinzipien der Naturphilosophie; denn daß nur Wesen, welche zu Einer physischen Gattung gehören, miteinander fruchtbar sind, und umgekehrt, welcher Grundsatz das oberste Prinzip aller Naturgeschichte ist (s. Girtanner über das Kantische Prinzip der Naturgeschichte, S. 4 ff.) folgt nur aus dem allgemeinen Grundsatz des Dualismus (der in der organischen wie in der anorgischen Natur sich bestätigt), daß nur zwischen Prinzipien Einer Art reelle Entgegensetzung ist. Wo keine Einheit der Art ist, ist auch keine reelle Entgegensetzung, und wo keine reelle Entgegensetzung ist, keine zeugende Kraft. Da übrigens die Natur in der organischen Welt keine Neutralisierung[632] duldet, so wird durch Vereinigung entgegengesetzter Prinzipien ihr individualisierender Trieb rege; indem sie das Verhältnis beider Prinzipien stört (durch welche Mittel es nun geschehe), entsteht ihr34 ein neues Individuum; welches Prinzip in dieser Operation das Übergewicht erlange, erscheint uns als zufällig, als notwendig aber, daß das Übergewicht eines Prinzips über das andere sich durch eine verschiedene Bildung verrate, welches ohne Zweifel ebenso natürlich ist, als daß auf dem mit Bernsteinpulver bestreuten Harzkuchen andere Figuren mit positiver, andere mit negativer Elektrizität gezeichnet werden.


6.

Jede Bildung in der organischen wie in der anorgischen Natur geschieht durch einen Übergang der Materie aus flüssigem in festen Zustand. Dieser Übergang heißt vorzugsweise bei tierischen Flüssigkeiten – Gerinnung. Es ist merkwürdig, daß im Blut (der unmittelbaren Quelle aller Nahrungssäfte) schon gleichsam der Dualismus der Hauptorgane des tierischen Körpers erkennbar ist. Das Blut, sobald es aus den Gefäßen geflossen ist, trennt sich freiwillig in zwei verschiedene Bestandteile, den Blutkuchen und das Blutwasser. Es scheint ausgemacht, daß der erstere die Bestandteile des Muskelfleisches enthält. Die Meinung, als ob das Blut außer dem Körper durch Verlust der Wärme gerinne, ist schon von Hewson und später von Parmentier und Deyeux widerlegt worden. (Man s. in Reils Archiv für die Physiologie Band 1 Heft 2, ihre Abhandlung über das Blut, S. 125.) Die letztgenannten Schriftsteller behaupten, daß die Entweichung eines eigentümlichen Lebensprinzips die Ursache der Gerinnung sei.

Die gewisseste Ursache der Gerinnung ist wohl das Oxygene. Denn es ist allgemein bekannt, daß alle tierischen Flüssigkeiten, z.B. die Milch, mit Säuren behandelt gerinnen; die Butter sondert sich von der Milch nur durch Wirkung des atmosphärischen Oxygenes ab. Der Nasenschleim erlangt durch Einfluß des in der Luft konzentrierten Oxygenes Festigkeit, und ist so die Ursache[633] des Schnupfens, den man auch durch Einatmen der Dämpfe von oxygenierter Salzsäure künstlich hervorbringen kann. (S. eine Abhandlung von Fourcroy und Vauquelin a. a. O. drittes Heft, S. 48 ff.) Auch die Tränen gerinnen durch Behandlung mit oxygenierter Salzsäure, durch Behandlung mit Alkalien werden sie flüssiger. Mit der Gerinnung ist immer zugleich die Scheidung des Blutkuchens vom Blutwasser verbunden. Es scheint, daß durch Berührung des Oxygenes das Neutralitätsverhältnis dieser beiden Substanzen im Blut aufgehoben wird, und daß nun die Gerinnung des roten und fadenartigen Teils erfolgt. Denn so viel ist ausgemacht, daß alle, vorzüglich Mineralsäuren, die Gerinnung des Bluts befördern. Dagegen wird das Blut durch Berührung sauerstoffleerer Medien, z.B. von Hydrogenegas, flüssiger und weniger gerinnbar (Hamilton annales de chimie T. V.).

Das Merkwürdigste aber ist, daß Neutralsalze die Gerinnung des Bluts völlig verhindern, so daß es alsdann durch kein Mittel weiter zum Gerinnen zu bringen ist. Aus dieser Tatsache erhellt, daß der Gerinnung des Bluts eine Scheidung der beiden Bestandteile (des Blutkuchens und des Blutwassers) vorangehen muß. Das letztere enthält reines, freies Alkali, denn es färbt den Veilchensirup grün (Reils Archiv a. a. O. S. III). Daraus erhellt meines Erachtens, daß im Blut des lebenden Körpers Sauerstoff und Alkali sich das Gleichgewicht halten, und daß jedes Gerinnen oder Anschießen zu festen Teilen mit einer Störung dieses Gleichgewichts verbunden ist. – Ich betrachte diese Idee als die erste Grundlage einer Theorie des Nutritionsprozesses. Wenn der rote Teil des Bluts die Elemente der Muskeln enthält, so ist wahrscheinlich jedes Anschießen fester Teile im Muskel mit Entwicklung von Sauerstoff verbunden, wodurch die erste Anlage zur Irritabilität gemacht wird. Die Grundlage aller weißen Organe des tierischen Körpers, also vorzüglich der Nerven, ist Gallerte. Der fadenartige Teil des Bluts nun enthält nach Parmentier, Deyuex, Fourcroy (a. a. O. S. 116) keine Gallerte. Die Elemente der Nervenfieber müssen also in einem andern Teil des Bluts, im sogenannten Blutwasser enthalten sein. So ist es auch, die Gallerte ist allein dem Blutwasser eigentümlich. In demselben ist sie mit Alkali[634] verbunden, und verliert durch sich als Gallerte zu zeigen35. Die Entmischung des Bluts in entgegengesetzte Bestandteile, die kontinuierliche Zusammenziehung und damit verbundene des Lebens (der Muskeln und Nerven) ist sonach ohne Zweifel ein und derselbe Prozeß36.


7.

Da (dem Bisherigen zufolge) in jeder Organisation der Lebensprozeß einen Ansatz toter Masse, als Caput mortuum, zurückläßt, so kann die Natur dem Lebensprozeß nicht Permanenz geben, als insofern sie ihn immer von vorne wiederholt, d.h. durch stete Zersetzung und Wiederersetzung der Materie. Es mußte also in jedem belebten Körper ein steter Wechsel der Materie unterhalten werden, wenn auch nicht die tote Masse an sich schon einer beständigen Zersetzbarkeit unterworfen wäre, da sie sich in einem gezwungenen Zustand befindet, den sie, wenigstens sobald das Leben erloschen ist, freiwillig verläßt. Es gehört also zur Möglichkeit des Lebens eine stete Aufeinanderfolge zersetzender und wiederersetzender Prozesse, worin die tierische Materie doch nicht den blinden Gesetzen der chemischen Verwandtschaft allein, sondern dem Einfluß der positiven Ursache des Lebens gehorcht, die es im lebenden Körper nicht zur totalen Auflösung kommen läßt. Daß aber auch aus Erfahrungsgründen ein solcher kontinuierlicher Wechsel der tierischen Materie angenommen werden muß, ist in dem Versuch über die Lebenskraft von Brandis evident erwiesen.


8.

Nun ist ohne Zweifel mit jedem Anschießen fester Teile (welches durch Gerinnung geschieht) Entwicklung von Oxygene verbunden, mit dem das Blut durch die Respiration versehen[635] wird. Wo nun auch dieses aus dem Blut entwickelte Oxygene hinkomme, so müßten die Organe, welche es durchdringt, endlich damit überladen (suroxydés) werden, und das Anschießen fester Teile, d.h. der Ernährungsprozeß müßte endlich ganz stillstehen, wenn nicht durch einen umgekehrten Prozeß das Oxygene wieder ausgeführt und die Kapazität der Organe wiederhergestellt würde. Also können wir a priori beweisen, daß dem Oxydationsprozeß, welcher im tierischen Körper beständig im Gange ist, ein beständiger Desoxydationsprozeß entgegengesetzt sein müsse, wodurch wir endlich auf eine höhere Bestimmung des Begriffs von Leben kommen, welches diesem nach in einer Aufeinanderfolge einzelner Prozesse besteht, deren jeder der umgekehrte oder negative des vorhergehenden ist.

Es fragt sich jetzt nur, ob sich wirklich ein solcher beständiger Desoxydationsprozeß im lebenden Körper a posteriori auffinden läßt?


9.

Die Erfahrung scheint freiwillig uns entgegenzukommen. Man hat schon lange davon geredet, und man kann es als ausgemacht ansehen, daß das Oxygene bei der Irritabilität eine bedeutende Rolle spielt. Man wußte nur nicht anzugeben, wie das Oxygene dabei wirksam sei. Nach unsrer Vorstellungsart hat es dabei eine bloß sekundäre Rolle. Jede Zusammenziehung ist eine Desoxydation; wir können uns vorerst vorstellen, daß durch jede Desoxydation das Volum des Organs, in welchem sie vorgeht, vermindert werde, um zu begreifen, wie ein solcher Prozeß eine Zusammenziehung bewirken könne.


10.

Es soll in alle Funktionen des Lebens Kontinuität gebracht werden, eine Funktion soll in die andere eingreifen, eine die andere kontinuierlich reproduzieren. – Wie das Gehen ein beständig verhindertes Fallen, so das Leben ein beständig verhindertes Erlöschen des Lebensprozesses. Die tierischen Funktionen müssen in bezug aufeinander wechselseitig positiv und negativ sein. So ist uns Irritabilität vorerst nichts anderes als der negative Nutritionsprozeß. Nur insofern die Irritabilität[636] der umgekehrte Prozeß der Nutrition ist, ist sie im System des animalischen Lebens notwendig, und als solche konnten wir sie a priori ableiten. Unmittelbare Beweise für unsere Behauptung aber sind folgende:

a) Je mehr Reizbarkeit in einem lebenden Wesen, desto mehr Bedürfnis der Nahrung. Ein Tier, das viele Bewegung hat, hat viel Appetit und bleibt dabei mager. Zugleich ist in ihm der Atem schneller, das Blut kehrt öfter zu den Lungen zurück, um sich mit dem Oxygene zu beladen, das es dem ganzen Körper mitteilt; in eben dem Verhältnis aber wird auch das Bedürfnis der Nahrung größer (man s. Brandis über die Lebenskraft § 16). Man sieht also, daß durch Irritabilität die Wirkung der Nutrition aufgehoben wird, und umgekehrt.

b) Die Muskeln selbst bilden sich erst allmählich durch viele Bewegung. Was als halbflüssige Lymphe um alle Organe ausgegossen ist, scheint durch häufige Übung der Muskeln (die regelmäßig mit Desoxydation verbunden ist), sich immer mehr in festes derbes Muskelfleisch zusammenziehen, wodurch der ausgearbeitete Körper und das prononzierte Muskelsystem entsteht, das wir zum Teil an den männlichen Figuren der Alten bewundern. Wo also viel Muskelbewegung ist, nährt sich der Muskel stärker, wie es unsern Prinzipien nach sein muß, wenn die Nutrition der umgekehrte Prozeß der Irritabilität ist.

c) Hinwiederum, wo wenig Muskelbewegung und Reizbarkeit ist, wird der Körper mit Oxygene überladen, ein Zustand, der sich durch das Fettwerden ankündigt. Jedermann weiß, daß Ruhe bei häufiger Nahrung fett macht, und daß gewöhnlich mit zunehmendem Fett die Reizbarkeit abnimmt. Das tierische Fett aber ist nichts anderes als eine Art von ölichter Materie, die sich an den Endungen der Schlagadern, so weit als möglich vom Mittelpunkt der Bewegung entfernt, durch einen beträchtlichen Zusatz von Sauerstoff zu Fett bildet (s. Fourcroys chemische Philosophie, übersetzt von Gehler, S. 156). Daß zur Bildung des Fetts der Sauerstoff verwendet werde, sieht man auch daraus, daß das Organ, welches bestimmt ist, das Fett aus dem Blute abzusondern, bei Neugeborenen, die durch willkürliche Bewegung keine Oxygene zersetzen konnten, unverhältnismäßig[637] groß ist, und daß man dieselbe Beschaffenheit dieses Organs bei Tieren findet, die bei der Eingeschränktheit ihrer Respiration träg, empfindlich und fast leblos sind (s. Vauquelin über die Leber des Rochen in den Ann. de Chim. Vol. X. und in Reils Archiv Bd. I, Heft 3, S. 54). Es ist hier nicht der Ort, weiter auszuführen, welche Folgen aus dieser Vorstellungsart in Ansehung des Ursprungs mancher Krankheiten gezogen werden können; ich begnüge mich hier, bewiesen zu haben, daß die Irritabilität ursprünglich nichts anderes als der umgekehrte Prozeß der Nutrition ist.

Anmerk. Es erhellt aus dem Bisherigen, daß es falsch ist, wenn Girtanner ganz allgemein sagt: Was die Quantität des Oxygenes im Körper vermehrt, vermehrt die Irritabilität, da vielmehr umgekehrt, was die Irritabilität vermehrt, das Oxygene im Körper vermindert (mager macht), und was die Irritabilität vermindert, das Oxygene im Körper anhäuft (fett macht). Hätte Girtanner dies bemerkt, so hätte er auch weiter geschlossen, daß das Oxygene nicht einziger Grund, oder gar die erste Ursache der Irritabilität sein könne, da, anstatt daß die Irritabilität von der Quantität des Oxygenes im Körper abhängig ist, umgekehrt vielmehr die Quantität des Oxygenes im Körper von der Quantität der Irritabilität abhängt. Ich gestehe, daß mir die von Hrn. Girtanner angestellten Versuche nichts weniger als beweisend (für seine Hypothese) vorkommen; desto beweisender aber für einen Anteil des Oxygenes an dem Phänomen der Irritabilität ist die Menge von Tatsachen aus der gemeinen Erfahrung, die er in seiner Abhandlung gesammelt hat. Dieser Tatsachen sind wirklich (noch außer denen von Girtanner angeführten) so viele, daß man Mühe hat, eine Auswahl zu treffen.

Ich will hier nur an die außerordentlich schnelle und von auffallenden Symptomen begleitete Erschöpfung aller Muskelkräfte auf einer Höhe von 1400-1500 Toisen über der Meeresfläche erinnern. Eine solche hatte Bouguer schon auf den Cordilleren empfunden, sie aber für eine gewöhnliche Folge der Ermüdung gehalten; allein Saussüre (Voy. d. l. A. Vol. II, § 559) hat unwidersprechlich bewiesen, daß diese Erschöpfung ganz eigner[638] Art – eine absolute Unmöglichkeit sich zu bewegen ist, die doch (wie das bei der Ermüdung nicht geschieht) durch kurze Ruhe auf einige Augenblicke wieder aufgehoben wird. Dieser Zustand ist wohl nicht allein, wie Saussüre meint, aus der Erschlaffung des Gefäßsystems – (womit sich die gleichzeitig eintretende Tätigkeit der Arterien, und der ungewöhnlich schnelle Blutumlauf ebensowenig als die schnelle Wiederherstellung der Muskelkraft durch kurze Ruhe verträgt) – oder aus dem verminderten Druck der äußern Luft, die den ausbreitenden Kräften des Körpers das Gleichgewicht nicht zu halten vermag, sondern weit eher aus dem Mangel des Sauerstoffs in jenen Höhen zu erklären, da die Luft daselbst nicht nur verdünnt, sondern auch durch das von stehendem Gewässer immer aufsteigende entzündliche Gas verdorben ist. (Man vergl. Volta Lettere sull' aria inflammabile nativa della palludi, Como 1777). Wirklich hat Saussüre durch eudiometrische, auf dem Gipfel der höchsten Alpen angestellte Versuche gefunden, daß auf ihnen die Luft bei weitem weniger rein ist als auf den mittleren Höhen.


11.

Hier haben wir nun zuerst eine ganze bestimmte Aktion, die aus den negativen Lebensprinzipien nicht mehr erklärbar ist, nämlich eine Ursache, durch welche der umgekehrte Prozeß der Oxydation im lebenden Körper kontinuierlich unterhalten wird, und die also nicht im Oxygene oder irgend einem andern sekundären Prinzip gesucht werden kann. Hätte der Physiolog, der zuerst das Oxygene als Lebensprinzip nannte, die Frage sich aufgeworfen, wie das Oxygene Ursache der Irritabilität sein könne, so hätte ihn die Untersuchung von selbst auf die Entdeckung geführt, daß das Oxygene nur das negative Prinzip der Irritabilität sein könne, und also eine positive, höhere Ursache dieses Phänomens selbst voraussetze. – Indes kann weder die plebejische Art, wie einige Hasser des Neuen jene Hypothese angegriffen, noch der vornehme Ton, den einige andere, ohne daß sie etwas Besseres an ihre Stelle zu setzen wüßten, und während sie blind herumtappen, ob etwa der glückliche Zufall eines Versuchs ihnen die Wahrheit in die Hand[639] spielen werde, gegen jene keck entworfene Hypothese angenommen haben, ihr den Ruhm rauben, wenigstens der erste Versuch einer Anreihung dieses Naturphänomens an chemische Verhältnisse gewesen zu sein.

Es ergeben sich nun aus unsern bisherigen Untersuchungen von selbst folgende Hauptsätze:

a) Der Begriff des Lebens (und also auch der Irritabilität) ist nur aus entgegengesetzten Prinzipien konstruierbar. Dieser Satz ist a priori gewiß (oben II. c). Hieraus folgt

aa) für jene Hypothese, daß allerdings ein eigentümliches negatives Prinzip der Irritabilität angenommen werden muß, wofür nun noch andere aus der Erfahrung hergenommene Gründe sprechen, welche Pfaff in seiner vortrefflichen Untersuchung über die Reizbarkeit (in der Schrift über tierische Elektrizität, S. 279 ff.) angeführt hat;

bb) gegen jene Hypothese, daß ein negatives Prinzip der Irritabilität allein nicht hinreicht, dieses Phänomen zu erklären.

b) Die Irritabilität ist im System des Lebens nur insofern notwendig, als sie in einem Desoxydationsprozeß besteht (ich bediene mich indes des kurzem Ausdrucks, ihn näher zu bestimmen wird tiefer unten der Ort sein); woraus denn abermals folgt

aa) für jene Hypothese, daß das Oxygene bei der Irritabilität allerdings eine Rolle spielt, wofür noch andere Gründe sprechen, die Pfaff a. a. O. angeführt hat, und die hauptsächlich folgende sind:


α die Menge von Blutgefäßen, die in den Muskeln sich verbreiten, und deren Stelle bei den Pflanzen die Luftgefäße vertreten;


β die Lähmung, welche im Muskel, wenn man seine Arterie unterbindet, ebensogut, als wenn man seine Nerven durchschneidet, erfolgt;


γ die Zerstörung der Reizbarkeit durch starke (allgemeine oder örtliche) Verblutung, sowohl als durch Einspritzen mephitischer Luftarten (vorzüglich solcher, die das Oxygene absorbieren, wie die Salpeterluft) ins Blut.[640]

Dies alles beweist, daß in den Tieren durch das Blut (das in den Lungen die Luft berührt), in den Pflanzen durch die Luftgefäße ein Prinzip herbeigeführt werden muß, das zur Irritabilität notwendig ist, und das sonach kein anderes sein kann als das atmosphärische Oxygene.

Anmerk. Sonderbarer37 hat leicht niemand diese Theorie bestritten, als der gelehrte Hr. Reil in Halle. »Wenn wir«, sagt er in seinem Archiv I. Bd., 3. Heft, S. 173, »irgend einen körperlichen Stoff als Prinzip der Kontraktilität annehmen, so sollte doch wohl derselbe die Erscheinungen, die man ihm zuschreibt, auch dann, wenn er für sich und abgesondert ist, in vollem Maße besitzen.- Allein wir finden in der Natur keinen Stoff, der für sich und abgesondert die Phänomene, die wir tierische Kontraktilität nennen, hervorbrächte. Der Sauerstoff hat für sich weder Irritabilität noch Kontraktilität« – welche Argumentation ohne Zweifel ebenso scharfsinnig ist, als wenn man dem Antiphlogistiker einwenden wollte: »Wenn wir irgend einen körperlichen Stoff als Prinzip des Verbrennens annehmen wollten, so sollte doch wohl derselbe die Erscheinungen der Brennbarkeit auch dann, wenn er für sich und abgesondert ist, besitzen. – Allein der Sauerstoff zeigt an sich und abgesondert die Eigenschaft der Brennbarkeit ganz und gar nicht, also kann er auch nicht Prinzip des Verbrennens sein«. – Diese Physiologen werden nicht müde zu wiederholen, daß alle Veränderungen im lebenden Körper von Mischungsveränderungen abhängen: gleichwohl wollen sie nicht, daß man diese Mischungsveränderungen bestimmt angebe, sondern daß man unter vagen und allgemeinen Begriffen, die sie aus der Chemie entlehnen, ohne sie erklären zu können, herumtappe, oder mit leertönenden Worten sich begnüge. Einigermaßen indes trifft jener Einwurf die voreiligen Erklärer, die das Oxygene als alleinige Ursache der Irritabilität (ohne das Wie dabei erklären zu können) angeben. Unsere Erklärungsart entgeht diesen Einwendungen.

bb) gegen jene Hypothese, daß das Oxygene bei der Irritabilität[641] nur eine sekundäre Rolle spielt, da die Irritabilität ein desoxydierender Prozeß ist; daher die eigentliche Ursache (das positive Prinzip) der Irritabilität nicht Oxygene, sondern ein demselben gerade entgegengesetztes Prinzip sein muß.


* * *


Es war bisher einzig darum zu tun, zu beweisen, daß was man bis jetzt für Prinzip des Lebens ausgegeben, nur zu den negativen Bedingungen des Lebens gehöre. Wir haben durch eine vollständige Induktion gezeigt, daß die chemisch-physiologischen Vorstellungsarten immer noch das positive Prinzip und die eigentliche Ursache des Lebens unbestimmt lassen. Es liegt uns jetzt ob zu zeigen, daß mit der Annahme eines solchen Prinzips erst alle animalischen Prozesse vollständig erklärbar werden, und so können wir, indem wir das positive Prinzip des Lebens in seinen verschiedenen Funktionen betrachten, durch allmähliche Approximation dahin gelangen, zu bestimmen, welches seine Natur, und welches sein Ursprung sei?

32

Hier standen in der ersten Ausgabe noch folgende Sätze: »Die Natur allein erteilt ihren Produkten Unzerstörbarkeit, oder was dasselbe ist, Zerstörbarkeit ins Unendliche. (Es liegt in den Tiefen des menschlichen Geistes der Grund, warum alles Unendliche, da eine absolute Unendlichkeit in uns und außer uns nie wirklich sein kann, als eine empirische Unendlichkeit, als Unendlichkeit in der Zeit konstruiert werden muß).«

33

Der letzte Periode lautet in der ersten Ausgabe: »Die Reproduktionskraft ist daher keine allgemeine Eigenschaft der organisierten Materie, wie man gewöhnlich annimmt, und wie man annehmen müßte, wenn der Bildungstrieb absolut (nicht von Bedingungen abhängig) wäre; sie ist nur die Eigenschaft solcher Organisationen, in welchen keine hervorstehende Individualität der Organe (der Qualität und Form nach) anzutreffen ist; sie äußert sich nur da, wo sie in der Beschaffenheit der Organisation selbst keinen Widerstand findet.«

34

»– zufällig und unter der Hand gleichsam (so muß es dem Begriff der Organisation nach sein).« Zusatz der ersten Auflage.

35

»Wo sie also als Gallerte sich zeigt (in der Nervenfiber), muß Alkali frei werden.« Zusatz der ersten Auflage.

36

»Wer sich an die von Humboldt entdeckte Wirkung der Säuren und Alkalien auf Muskeln und Nerven bei den galvanischen Versuchen erinnert, wird diese Vermutung vielleicht nicht ganz uninteressant finden.« Zusatz d. ersten Aufl.

37

Erste Ausgabe: »Scharfsinniger«.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 603-642.
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