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[172] Im siebenten Kapitel habe ich gezeigt, daß im Theoretischen das Ausgehn von Begriffen nur zu mittelmäßigen Leistungen hinreicht, die vortrefflichen hingegen das Schöpfen aus der Anschauung selbst, als der Urquelle aller Erkenntniß, erfordern. Im Praktischen verhält es sich nun aber umgekehrt: hier ist das Bestimmtwerden durch das Anschauliche die Weise des Thiers, des Menschen aber unwürdig, als welcher Begriffe hat, sein Handeln zu leiten, und dadurch emancipirt ist von der Macht der anschaulich vorliegenden Gegenwart, welcher das Thier unbedingt hingegeben ist. In dem Maaße, wie der Mensch dieses Vorrecht geltend macht, ist sein Handeln vernünftig zu nennen, und nur in diesem Sinne kann von praktischer Vernunft die Rede seyn, nicht im Kantischen, dessen Unstatthaftigkeit ich in der Preisschrift über das Fundament der Moral ausführlich dargethan habe.
Es ist aber nicht leicht, sich durch Begriffe allein bestimmen zu lassen: auch auf das stärkste Gemüth dringt die vorliegende nächste Außenwelt, mit ihrer anschaulichen Realität, gewaltsam ein. Aber eben in der Besiegung dieses Eindrucks, in der Vernichtung seines Gaukelspiels, zeigt der Menschengeist seine Würde und Größe. So, wenn die Reizungen zu Lust und Genuß ihn ungerührt lassen, oder das Drohen und Wüthen ergrimmter Feinde ihn nicht erschüttert, das Flehen irrender Freunde seinen Entschluß nicht wanken macht, die Truggestalten, mit denen verabredete Intriguen ihn umstellen, ihn unbewegt[172] lassen, der Hohn der Thoren und des Pöbels ihn nicht aus der Fassung bringt, noch irre macht an seinem eigenen Werth: dann scheint er unter dem Einfluß einer ihm allein sichtbaren Geisterwelt (und das ist die der Begriffe) zu stehn, vor welcher jene Allen offen daliegende, anschauliche Gegenwart wie ein Phantom zerfließt. – Was hingegen der Außenwelt und sichtbaren Realität ihre große Gewalt über das Gemüth ertheilt, ist die Nähe und Unmittelbarkeit derselben. Wie die Magnetnadel, welche durch die vereinte Wirkung weitvertheilter, die ganze Erde umfassender Naturkräfte in ihrer Richtung erhalten wird, dennoch durch ein kleines Stückchen Eisen, wenn es ihr nur recht nahe kommt, perturbirt und in heftige Schwankungen versetzt werden kann; so kann bisweilen selbst ein starker Geist durch geringfügige Begebenheiten und Menschen, wenn sie nur in großer Nähe auf ihn einwirken, aus der Fassung gebracht und perturbirt werden, und den überlegtesten Entschluß kann ein unbedeutendes, aber unmittelbar gegenwärtiges Gegenmotiv in momentanes Wanken versetzen. Denn der relative Einfluß der Motive steht unter einem Gesetz, welches dem, nach welchem die Gewichte auf den Waagebalken wirken, gerade entgegengesetzt ist, und in Folge dessen ein sehr kleines, aber sehr nahe liegendes Motiv ein an sich viel stärkeres, jedoch aus der Ferne wirkendes, überwiegen kann. Die Beschaffenheit des Gemüthes aber, vermöge deren es diesem Gesetze gemäß sich bestimmen läßt und nicht, kraft der wirklich praktischen Vernunft, sich ihm entzieht, ist es, was die Alten durch animi impotentia bezeichneten, welches eigentlich ratio regendae voluntatis impotens bedeutet. Jeder Affekt (animi perturbatio) entsteht eben dadurch, daß eine auf unsern Willen wirkende Vorstellung uns so übermäßig nahe tritt, daß sie uns alles Uebrige verdeckt, und wir nichts mehr als sie sehn können, wodurch wir, für den Augenblick, unfähig werden, das Anderweitige zu berücksichtigen. Ein gutes Mittel dagegen wäre, daß man sich dahin brächte, die Gegenwart unter der Einbildung anzusehn, sie sei Vergangenheit, mithin seiner Apperception den Briefstil der Römer angewöhnte. Vermögen wir doch sehr wohl, umgekehrt, das längst Vergangene so lebhaft als gegenwärtig anzusehn, daß alte, längst schlafende Affekte dadurch wieder zu vollem Toben erwachen. – Imgleichen[173] würde Niemand sich über einen Unfall, eine Widerwärtigkeit, entrüsten und aus der Fassung gerathen, wenn die Vernunft ihm stets gegenwärtig erhielte, was eigentlich der Mensch ist: das großen und kleinen Unfällen, ohne Zahl, täglich und stündlich Preis gegebene, hülfsbedürftigste Wesen, to deilotaton zôon, welches daher in beständiger Sorge und Furcht zu leben hat. Pan esti anthrôpos syphora (homo totus est calamitas) sagt schon Herodot.
Die Anwendung der Vernunft und das Praktische leistet zunächst dies, daß sie das Einseitige und Zerstückelte der bloß anschauenden Erkenntniß wieder zusammensetzt und die Gegensätze, welche diese darbietet, als Korrektionen zu einander gebraucht, wodurch das objektiv richtige Resultat gewonnen wird. Z.B. fassen wir die schlechte Handlung eines Menschen ins Auge, so werden wir ihn verdammen; hingegen, bloß die Noth, die ihn dazu bewogen, betrachtend, ihn bemitleiden: die Vernunft, mittelst ihrer Begriffe, erwägt Beides und führt zu dem Resultat, daß er durch angemessene Strafe gebändigt, eingeschränkt, gelenkt werden müsse.
Ich erinnere hier nochmals an Seneka's Ausspruch: Si vis tibi omnia subjicere, te subjice rationi. Weil nun aber, wie im vierten Buche dargethan wird, das Leiden positiver, der Genuß negativer Natur ist; so wird Der, welcher die abstrakte oder Vernunft-Erkenntniß zur Richtschnur seines Thuns nimmt und demnach dessen Folgen und die Zukunft allezeit bedenkt, das Sustine et abstine sehr häufig zu üben haben, indem er, um die möglichste Schmerzlosigkeit des Lebens zu erlangen, die lebhaften Freuden und Genüsse meistens zum Opfer bringt, eingedenk des Aristotelischen ho phronimos to alypon diôkei, ou to hêdy (quod dolore vacat, non quod suave est, persequitur vir prudens). Daher borgt bei ihm stets die Zukunft von der Gegenwart; statt daß beim leichtsinnigen Thoren die Gegenwart von der Zukunft borgt, welche, dadurch verarmt, nachher bankrott wird. Bei Jenem muß freilich die Vernunft meistens die Rolle eines grämlichen Mentors spielen und unablässig auf Entsagungen antragen, ohne dafür etwas Anderes versprechen zu können, als eine ziemlich schmerzlose[174] Existenz. Dies beruht darauf, daß die Vernunft, mittelst ihrer Begriffe, das Ganze des Lebens überblickt, dessen Ergebniß, im berechenbar glücklichsten Fall, kein anderes seyn kann, als das besagte.
Dieses Streben nach einer schmerzlosen Existenz, so weit sie, durch Anwendung und Befolgung vernünftiger Ueberlegung und erlangter Erkenntniß der wahren Beschaffenheit des Lebens, möglich seyn möchte, hat, als es mit strenger Konsequenz und bis zum äußersten Extrem durchgeführt wurde, den Kynismus erzeugt, aus welchem nachher der Stoicismus hervorgieng; wie ich Dies, zu festerer Begründung der unser erstes Buch beschließenden Darstellung, hier mit Wenigem ausführen will.
Alle Moralsysteme des Alterthums, das Platonische allein ausgenommen, waren Anleitungen zu einem glücksäligen Leben: demnach hat, bei ihnen, die Tugend ihren Zweck durchaus nicht jenseit des Todes, sondern in dieser Welt. Denn sie ist ihnen eben nur der rechte Weg zum wahrhaft glücklichen Leben; deshalb erwählt sie der Weise. Daher eben stammen die, besonders von Cicero uns aufbehaltenen, weitläuftigen Debatten und scharfen, stets erneuerten Untersuchungen, ob auch wirklich die Tugend, ganz allein und für sich, zum glücklichen Leben hinreichend sei; oder ob es dazu noch irgend eines Aeußerlichen bedürfe; ob der Tugendhafte und Weise auch auf der Folter und dem Rade, oder im Stier des Phalaris, glücklich sei; oder ob es so weit doch nicht gehe. Denn freilich wäre dies der Probierstein einer Ethik dieser Art: beglücken müßte ihre Ausübung unmittelbar und unbedingt. Vermag sie das nicht; so leistet sie nicht, was sie soll, und ist zu verwerfen. So richtig, wie dem christlichen Standpunkt gemäß ist es mithin, daß Augustinus seiner Darlegung der Moralsysteme der Alten (De civ. Dei, Lib. XIX, c. 1) die Erklärung voranschickt: Exponenda sunt nobis argumenta mortalium, quibus sibi ipsi beatitudinem facere in hujus vitae infelicitate moliti sunt; ut ab eorum rebus vanis spes nostra quid differat clarescat. De finibus bonorum et malorum multa inter se philosophi disputarunt; quam quaestionem maxima intentione versantes, invenire conati sunt, quid efficiat hominem beatum: illud enim est finis bonorum.[175] Ich will den angegebenen, eudämonistischen Zweck der antiken Ethik durch einige ausdrückliche Aussprüche der Alten außer Zweifel setzen. Aristoteles sagt in der Eth. magna, I, 4: Hê eudaimonia en tô eu zên esti, to de eu zên en tô kata tas aretas zên. (Felicitas in bene vivendo posita est: verum bene vivere est in eo positum, ut secundum virtutem vivamus), womit zu vergleichen Eth. Nicom., I, 5. – Cic. Tusc., V, I: Nam, quum ea causa impulerit eos, qui primi se ad philosophiae studia contulerunt, ut, omnibus rebus posthabitis, totos se in optimo vitae statu exquirendo collocarent; profecto spe beate vivendi tantam in eo studio curam operamque posuerunt. – Nach Plutarch (De repugn. stoic., c. 18) hat Chrysippos gesagt: To kata kakian zên tô kakodaimonôs zên tauton esti. (Vitiose vivere idem est, quod vivere infeliciter.) – Ibid. c. 26: Hê phronêsis ouch heteron esti tês eudaimonias kath' heauto, all' eudaimonia. (Prudentia nihil differt a felicitate, estque ipsa adeo felicitas.) – Stob. Ed., Lib. II, c. 7. – Telos se phasin einai to eudaimonein, hou heneka panta prattetai. (Finem esse dicunt felicitatem, cujus causa fiunt omnia.) – Eudaimonian synônymein tô telei legousi. (Finem bonorum et felicitatem synonyma esse dicunt.) – Arrian. diss Epict., I, 4: Hê aretê tautên echei tên epangelian, eudaimonian poiêsai. (Virtus profitetur, se[176] felicitatem praestare.) – Sen. ep. 90: Ceterum (sapientia) ad beatum statum tendit, illo ducit, illo vias aperit. – Id. ep. 108: Illud admoneo, auditionem philosophorum, lectionemque, ad propositum beatae vitae trahendam.
Diesen Zweck des glücklichsten Lebens also setzte sich ebenfalls die Ethik der Kyniker; wie der Kaiser Julian ausdrücklich bezeugt: Orat. VI: Tês Kynikês de philosophias skopos men esti kai telos, hôsper dê kai pasês philosophias, to eudaimonein; to de eudaimonein en tô zên kata physin, alla mê pros tas tôn pollôn doxas. (Cynicae philosophiae, ut etiam omnis philosophiae, scopus et finis est feliciter vivere: felicitas vitae autem in eo posita est, ut secundum naturam vivatur, nec vero secundum opiniones multitudinis.) Nur aber schlugen die Kyniker zu diesem Ziel einen ganz besondern Weg ein, einen dem gewöhnlichen gerade entgegengesetzten: den der möglichst weitgetriebenen Entbehrung. Sie giengen nämlich von der Einsicht aus, daß die Bewegungen, in welche den Willen die ihn reizenden und anregenden Objekte versetzen, und das mühevolle, meistens vereitelte Streben diese zu erlangen, oder, wenn sie erlangt sind, die Furcht sie zu verlieren, endlich gar der Verlust selbst, viel größere Schmerzen erzeugen, als die Entbehrung aller jener Objekte irgend vermag. Darum wählten sie, um zum schmerzlosesten Leben zu gelangen, den Weg der größtmöglichen Entbehrung, und flohen alle Genüsse, als Fallstricke, durch die man nochmals dem Schmerz überliefert würde. Danach aber konnten sie dem Glück, und seinen Launen kühn Trotz bieten. Dies ist der Geist des Kynismus: deutlich spricht ihn Seneka aus, im achten Kapitel De tranquillitate animi: cogitandum est, quanto levior dolor sit, non habere, quam perdere: et intelligemus, paupertati eo minorem tormentorum, quo minorem damnorum esse materiam.[177] Sodann: Tolerabilius est, faciliusque, non acquirere, quam amittere. – – – Diogenes effecit, ne quid sibi eripi posset, – – – qui se fortuitis omnibus exuit. – – – Videtur mihi dixisse: age tuum negotium, fortuna: nihil apud Diogenem jam tuum est. Zu diesem letzteren Satz ist die Parallelstelle die Anführung des Stobäos (Ed., II, 7): Diogenês ephê nomizein horan tên Tychên enorôsan auton kai legousan; touton d' ou dynamai baleein kyna lyssêtêra. (Diogenes credere se dixit, videre Fortunam, ipsum intuentem, ac dicentem: ast hunc non potui tetigisse canem rabiosum). Den selben Geist des Kynismus bezeugt auch die Grabschrift des Diogenes, bei Suidas, voce Philiskos, und bei Diogenes Laertius, VI, 2:
Gêraskei men chalkos hypo chronou; alla son outi
Kydos ho pas aiôn, Diogenes, kathelei;
Mounos epei biotês autarkea doxan edeixas
Thnêtois, kai zôês oimon elaphrotatên.
(Aera quidem absumit tempus, sed tempore numquam
Interitura tua est gloria, Diogenes:
Quandoquidem ad vitam miseris mortalibus aequam
Monstrata est facilis, te duce, et ampla via.)
Der Grundgedanke des Kynismus ist demnach, daß das Leben in seiner einfachsten und nacktesten Gestalt, mit den ihm von der[178] Natur beigegebenen Beschwerden, das erträglichste, mithin zu erwählen sei; weil jede Hülfe, Bequemlichkeit, Ergötzlichkeit und Genuß, dadurch man es angenehmer machen möchte, nur neue und größere Plagen herbeizöge, als die demselben ursprünglich eigenen. Daher ist als der Kernausdruck seiner Lehre der Satz anzusehn: Diogenês eboa pollakis legôn, ton tôn anthrôpôn bion radion hypo tôn theôn dedosthai, apokekryphthai de auton zêtountôn melipêkta kai myra kai ta paraplêsia. (Diogenes clamabat saepius, hominum vitam facilem a diis dari, verum occultari illam quaerentibus mellita cibaria, unguenta, et his similia. – Diog. Laert., VI, 2.) Ferner auch: Deon, anti tôn achrêstôn ponôn, taus kata physin helomenous, zên eudaimonôs para tên anoian kakodaimonousi. – – – ton auton charaktêra tou biou legôn diexagein, honper kai Hêraklês, mêden eleuthêrias prokrinôn. (Quum igitur, repudiatis inutilibus laboribus, naturales insequi, ac vivere beate debeamus, per summam dementiam infelices sumus. – – – – eandem vitae formam, quam Hercules, se vivere affirmans, nihil libertati praeferens. – Ibid.) Demnach hatten die alten, ächten Kyniker, Antisthenes, Diogenes, Krates und ihre Jünger, ein für alle Mal jedem Besitz, allen Bequemlichkeiten und Genüssen entsagt, um der Mühe und Sorge, der Abhängigkeit und den Schmerzen, die unvermeidlich damit verknüpft sind und nicht dadurch aufgewogen werden, für immer zu entgehn. Durch nothdürftige Befriedigung der dringendesten Bedürfnisse und Entbehrung alles Ueberflüssigen gedachten sie leichtesten Kaufes davonzukommen. Sonach begnügten sie sich mit Dem, was in Athen und Korinth so ziemlich umsonst zu haben war, wie Lupinen, Wasser, ein schlechtes Tribonion, Schnappsack und Knittel, bettelten gelegentlich, so weit es hiezu nöthig war, arbeiteten aber nicht. Sie nahmen jedoch durchaus nichts an, was über obige Bedürfnisse hinausgieng. Unabhängigkeit, im weitesten Sinn, war ihre[179] Absicht. Ihre Zeit brachten sie zu mit Ruhen, Umhergehn, Reden mit allen Menschen, viel Spotten, Lachen und Scherzen: ihr Charakter war Sorglosigkeit und große Heiterkeit. Da sie nun, bei dieser Lebensweise, kein eigenes Trachten, keine Absichten und Zwecke zu verfolgen hatten, also über das menschliche Treiben selbst hinausgehoben waren, dabei auch stets voller Muße genossen, eigneten sie, als Männer von erprobter Geistesstärke, sich trefflich, die Berather und Ermahner der Uebrigen zu werden. Daher sagt Apulejus (Florid., IV): Crates, ut lar familiaris apud homines suae aetatis cultus est. Nulla domus ei unquam clausa erat: nec erat patrisfamilias tam absconditum secretum, quin eo tempestive Crates interveniret, litium omnium et jurgiorum inter propinquos disceptator et arbiter. Auch hierin also, wie in so vielem Andern, zeigen sie große Aehnlichkeit mit den Bettelmönchen der neuen Zeit, d.h. mit den besseren und ächten unter diesen, deren Ideal man sich an dem Kapuziner Christoph, in Manzoni's berühmtem Roman, vergegenwärtigen mag. Jedoch liegt diese Aehnlichkeit nur in den Wirkungen, nicht in der Ursache. Sie treffen im Resultat zusammen; aber der Grundgedanke Beider ist ganz verschieden: bei den Mönchen ist er, wie bei den ihnen verwandten Saniassis, ein über das Leben hinausgestecktes Ziel; bei den Kynikern aber nur die Überzeugung, daß es leichter sei, seine Wünsche und Bedürfnisse auf das Minimum herabzusetzen, als in ihrer Befriedigung das Maximum zu erreichen, welches sogar unmöglich ist, da mit der Befriedigung die Wünsche und Bedürfnisse ins Unendliche wachsen; daher sie, um das Ziel aller antiken Ethik, möglichste Glücksäligkeit in diesem Leben, zu erreichen, den Weg der Entsagung einschlugen, als den kürzesten und leichtesten: hothen kai ton Kynismon eirêkasin syntomon ep' aretên hodon (unde et Cynismum dixere compendiosam ad virtutem viam. Diog. Laert., VI 9). – Die Grundverschiedenheit des Geistes des Kynismus von dem der Askese tritt augenfällig[180] hervor an der Demuth, als welche der Askese wesentlich, dem Kynismus aber so fremd ist, daß er, im Gegentheil, den Stolz und die Verachtung aller Uebrigen im Schilde führt:
Sapiens uno minor est Jove, dives,
Liber, honoratus, pulcher, rex denique regum.
Hor.
Hingegen trifft, dem Geiste der Sache nach, die Lebensansicht der Kyniker mit der des J. J. Rousseau, wie er sie im Discours sur l'origine de 1'inégalité darlegt, zusammen; da auch er uns zum rohen Naturzustande zurückführen möchte und das Herabsetzen unserer Bedürfnisse auf ihr Minimum als den sichersten Weg zur Glücksäligkeit betrachtet. – Uebrigens waren die Kyniker ausschließlich praktische Philosophen: wenigstens ist mir keine Nachricht von ihrer theoretischen Philosophie bekannt.
Aus ihnen giengen nun die Stoiker dadurch hervor, daß sie das Praktische in ein Theoretisches verwandelten. Sie meinten, das wirkliche Entbehren alles irgend Entbehrlichen sei nicht erfordert, sondern es reiche hin, daß man Besitz und Genuß beständig als entbehrlich und als in der Hand des Zufalls stehend betrachte: da würde denn die wirkliche Entbehrung, wenn sie etwan eintrete, weder unerwartet seyn, noch schwer fallen. Man könne immerhin Alles haben und genießen; nur müsse man die Ueberzeugung von der Werthlosigkeit und Entbehrlichkeit solcher Güter einerseits, und von ihrer Unsicherheit und Hinfälligkeit andererseits stets gegenwärtig erhalten, mithin sie alle ganz gering schätzen, und allezeit bereit seyn, sie aufzugeben. Ja, wer, um nicht durch jene Dinge bewegt zu werden, sie wirklich entbehren müsse, zeige dadurch an, daß er, in seinem Herzen, sie für wahre Güter halte, die man, um nicht danach lüstern zu werden, ganz aus seinem Gesichtskreis entfernen müsse. Der Weise hingegen erkenne, daß sie gar keine Güter seien, vielmehr ganz gleichgültige Dinge, adiaphora, allenfalls proêgmena. Daher wird er sie, wenn sie sich darbieten, annehmen, ist jedoch stets bereit, sie mit größter Gleichgültigkeit wieder fahren zu lassen, wenn der Zufall, dem sie angehören, sie zurückfordert; weil sie tôn ouk eph'hêmin[181] sind. In diesem Sinne sagt Epiktet, Kap. 7, der Weise werde, gleich Einem, der vom Schiffe ans Land gestiegen u.s.w., sich auch ein Weibchen, oder Knäbchen gefallen lassen, dabei jedoch stets bereit seyn, sobald der Schiffer ruft, sie wieder gehn zu lassen. – So vervollkommneten die Stoiker die Theorie des Gleichmuths und der Unabhängigkeit, auf Kosten der Praxis, indem sie Alles auf einen mentalen Proceß zurückführten und durch Argumente, wie sie das erste Kapitel des Epiktet darbietet, sich alle Bequemlichkeiten des Lebens heransophisticirten. Sie hatten aber dabei außer Acht gelassen, daß alles Gewohnte zum Bedürfniß wird und daher nur mit Schmerz entbehrt werden kann; daß der Wille nicht mit sich spielen läßt, nicht genießen kann, ohne die Genüsse zu lieben; daß ein Hund nicht gleichgültig bleibt, indem man ihm ein Stück Braten durchs Maul zieht, und ein Weiser, wenn er hungerig ist, auch nicht; und daß es zwischen Begehren und Entsagen kein Mittleres giebt. Sie aber glaubten sich dadurch mit ihren Grundsätzen abzufinden, daß sie, an einer luxuriösen Römischen Tafel sitzend, kein Gericht ungekostet ließen, jedoch dabei versicherten, Das wären sammt und sonders bloße proêgmena, keine agatha; oder, Deutsch zu reden, daß sie aßen, tranken und sich einen guten Tag machten, dabei aber dem lieben Gott keinen Dank dafür wußten, vielmehr fastidiöse Gesichter schnitten und nur immer brav versicherten, sie machten sich den Teufel etwas aus der ganzen Fresserei. Dies war das Auskunftsmittel der Stoiker: sie waren demnach bloße Maulhelden, und zu den Kynikern verhalten sie sich ungefähr, wie wohlgemästete Benediktiner und Augustiner zu Franziskanern und Kapuzinern. Je mehr sie nun die Praxis vernachlässigten, desto feiner spitzten sie die Theorie zu. Der am Schlusse unsers ersten Buches gegebenen Auseinandersetzung derselben will ich hier noch einige einzelne Belege und Ergänzungen beifügen.
Wenn wir in den uns hinterbliebenen Schriften der Stoiker, die alle unsystematisch abgefaßt sind, nach dem letzten Grunde jenes uns unablässig zugemutheten, unerschütterlichen Gleichmuthes forschen; so finden wir keinen andern, als die Erkenntniß der gänzlichen Unabhängigkeit des Weltlaufs von unserm Willen und folglich der Unvermeidlichkeit der uns treffenden Uebel. Haben wir nach einer richtigen Einsicht hierin unsere Ansprüche[182] regulirt; so ist Trauern, Jubeln, Fürchten und Hoffen eine Thorheit, deren wir nicht mehr fähig sind. Dabei wird, besonders in den Kommentarien des Arrians, die Subreption begangen, daß Alles was ouk eph' hêmin ist (d.h. nicht von uns abhängt), sofort auch ou pros hêmas wäre (d.h. uns nichts angienge). Doch bleibt wahr, daß alle Güter des Lebens in der Macht des Zufalls stehn, mithin sobald er, diese Macht übend, sie uns entreißt, wir unglücklich sind, wenn wir unser Glück. darin gesetzt haben. Diesem unwürdigen Schicksal soll uns der richtige Gebrauch der Vernunft entziehn, vermöge dessen wir alle jene Güter nie als die unserigen betrachten, sondern nur als auf unbestimmte Zeit uns geliehen: nur so können wir sie eigentlich nie verlieren. Daher sagt Seneka (Ep. 98): Si, quid humanarum rerum varietas possit, cogitaverit, ante quam senserit, und Diogenes Laërtius (VII, I, 87): Ison de esti to kat' aretên zên tô kat' empeirian tôn physei symbainontôn zên. (Secundum virtutem vivere idem est, quod secundum experientiam eorum, quae secundum naturam accidunt, vivere.) Hieher gehört besonders die Stelle in Arrians Epiktetäischen Abhandlungen, B. III, Kap. 24, 84-89; und speciell, als Beleg des § 16 des ersten Bandes in dieser Hinsicht von mir Gesagten, die Stelle: Touto gar esti to aition tois anthrôpois pantôn tôn kakôn, to tas prolêpseis tas koinas mê dynasthai epharmozein tois epi merous, ibid. IV, 1. 42. (Haec enim causa est hominibus omnium malorum, quod anticipationes generales rebus singularibus accommodare non possunt.) Desgleichen die Stelle im Antoninus (IV, 29): Ei xenos kosmou ho mê gnôrizôn ta en autô onta, ouch hêtton xenos kai ho mê gnôrizôn ta giginomena, d.h.: »Wenn Der ein Fremdling in der Welt ist, welcher nicht weiß, was es darin giebt; so ist es nicht weniger Der, welcher nicht weiß, wie es darin hergeht.« Auch Seneka's elftes Kapitel De tranquillitate animi ist ein vollkommender Beleg dieser Ansicht. Die Meinung der Stoiker geht im Ganzen dahin, daß wenn der Mensch dem Gaukelspiel des[183] Glückes eine Weile zugesehn hat und nun seine Vernunft gebraucht, er sowohl den schnellen Wechsel der Würfel, als die innere Werthlosigkeit der Rechenpfennige erkennen und daher fortan unbewegt bleiben müsse. Ueberhaupt läßt die Stoische Ansicht sich auch so ausdrücken: Unser Leiden entspringt allemal aus dem Mißverhältniß zwischen unsern Wünschen und dem Weltlauf. Daher muß Eines dieser Beiden geändert und dem Andern angepaßt werden. Da nun der Lauf der Dinge nicht in unserer Macht steht (ouch eph' hêmin); so müssen wir unser Wollen und Wünschen dem Lauf der Dinge gemäß einrichten: denn der Wille allein ist eph' hêmin. Dieses Anpassen des Wollens zum Laufe der Außenwelt, also zur Natur der Dinge, wird sehr oft unter dem vieldeutigen kata physin zên verstanden. Man sehe Arriani Diss., II, 17, 21, 22. Ferner bezeichnet diese Ansicht Seneka (Ep. 119), indem er sagt: Nihil interest, utrum non desideres, an habeas. Summa rei in utroque est eadem: non torqueberis. Auch Cicero (Tusc., IV, 26), durch die Worte: Solum habere velle, summa dementia est. Desgleichen Arrian (IV, I, 1751) Ou gar ekplêrôsei tôn epithymoumenôn eleutheria paraskeuazetai, alla anaskeuê tês epithymias. (Non enim explendis desideriis libertas comparatur, sed tollenda cupiditate.)
Als Belege dessen, was ich am angeführten Orte über das homologoumenôs zên der Stoiker gesagt habe, kann man die in der Historia philosophiae Graeco-Romanae von Ritter und Preller, § 398, zusammengestellten Anführungen betrachten; desgleichen den Ausspruch des Seneka (Ep. 31 und nochmals Ep. 74): Perfecta virtus est aequalitas et tenor vitae per omnia consonans sibi. Den Geist der Stoa überhaupt bezeichnet deutlich diese Stelle des Seneka (Ep. 92): Quid est beata vita? Securitas et perpetua tranquillitas. Hanc dabit animi magnitudo, dabit constantia bene judicati tenax.[184] Ein zusammenhängendes Studium der Stoiker wird Jeden überzeugen, daß der Zweck ihrer Ethik, eben wie der des Kynismus, aus welchem sie entsprungen, durchaus kein anderer ist, als ein möglichst schmerzloses und dadurch möglichst glückliches Leben; woraus folgt, daß die Stoische Moral nur eine besondere Art des Eudämonismus ist. Sie hat nicht, wie die Indische, die Christliche, selbst die Platonische Ethik, eine metaphysische Tendenz, einen transscendenten Zweck, sondern einen völlig immanenten, in diesem Leben erreichbaren: die Unerschütterlichkeit (ataraxia) und ungetrübte Glücksäligkeit des Weisen, den nichts anfechten kann. Doch ist nicht zu leugnen, daß die späteren Stoiker, namentlich Arrian, bisweilen diesen Zweck aus den Augen verlieren und eine wirklich asketische Tendenz verrathen, welches dem damals schon sich verbreitenden Christlichen und überhaupt orientalischen Geiste zuzuschreiben ist. – Wenn wir das Ziel des Stoicismus, jene ataraxia, in der Nähe und ernstlich betrachten; so finden wir in ihr eine bloße Abhärtung und Unempfindlichkeit gegen die Streiche des Schicksals, dadurch erlangt, daß man die Kürze des Lebens, die Leerheit der Genüsse, den Unbestand des Glücks sich stets gegenwärtig erhält, auch eingesehn hat, daß zwischen Glück und Unglück der Unterschied sehr viel kleiner ist, als unsere Anticipation Beider ihn uns vorzuspiegeln pflegt. Dies ist aber noch kein glücklicher Zustand, sondern nur das gelassene Ertragen der Leiden, die man als unvermeidlich vorhergesehn hat. Doch liegt Geistesgröße und Würde darin, daß man schweigend und gelassen das Unvermeidliche trägt, in melancholischer Ruhe, sich gleich bleibend, während Andere vom Jubel zur Verzweiflung und von dieser zu jenem übergehn. – Man kann demnach den Stoicismus auch auffassen als eine geistige Diätetik, welcher gemäß, wie man den Leib gegen Einflüsse des Windes und Wetters, gegen Ungemach und Anstrengung abhärtet, man auch sein Gemüth abzuhärten hat gegen Unglück, Gefahr, Verlust, Ungerechtigkeit, Tücke, Verrath, Hochmuth und Narrheit der Menschen.
Ich bemerke noch, daß die kathêkonta der Stoiker, welche Cicero officia übersetzt, ungefähr bedeuten Obliegenheiten, oder Das, was zu thun der Sache angemessen ist. Englisch incumbencies,[185] Italiänisch quel che tocca a me di fare, o di lasciare, also überhaupt was einem vernünftigen Menschen zu thun zukommt. Man sehe Diog. Laert., VII, I. 109. – Endlich den Pantheismus der Stoiker, wie er ganz und gar nicht zu so manchen Kapuzinaden Arrians paßt, spricht auf das deutlichste Seneka aus: Quid est Deus? Mens universi. Quid est Deus? Quod vides totum, et quod non vides totum. Sic demum magnitudo sua illi redditur, qua nihil majus excogitari potest: si solus est omnia, opus suum et extra et intra tenet. (Quaest. natur. I, praefatio, 12.)
15 | Dieses Kapitel bezieht sich auf § 16 des ersten Bandes. |
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