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[33] Unter dem gewaltigen Eindruck der freien, bewußten Einzeltat, die sich aus dem gleichförmigen, triebhaften, massenhaften »Tun der Gattung« heraushebt, hat sich nun die eigentliche Menschenseele gestaltet, sehr einsam selbst im Vergleich zu anderen Raubtierseelen, mit dem stolzen und schwermütigen Blick des Wissenden über sein eignes Schicksal hin, dem unbändigen Machtgefühl in der tatgewohnten Faust, jedermanns Feind, tötend, hassend, zu Sieg oder Sterben entschlossen. Diese Seele ist tiefer und leidenvoller als die irgendeines Tieres. Sie steht in unversöhnlichem Gegensatz zur gesamten Welt, von der sie durch ihr eigenes Schöpfertum getrennt ist. Es ist die Seele eines Empörers.

Der früheste Mensch horstet einsam wie ein Raubvogel. Wenn sich auch einige »Familien« zu einem Rudel zusammentun, so geschieht das in losester Form. Noch ist von Stämmen keine Rede, geschweige denn von Völkern. Das Rudel ist eine zufällige Sammlung von ein paar Männern, die sich gerade einmal nicht bekämpfen, mit ihren[33] Weibern und deren Kindern, ohne Gemeingefühl, in vollkommener Freiheit, kein »Wir« wie eine Herde von bloßen Gattungsexemplaren.

Die Seele dieser starken Einsamen ist durch und durch kriegerisch, mißtrauisch, eifersüchtig auf die eigene Macht und Beute. Sie kennt das Pathos nicht nur des »Ich«, sondern auch des »Mein«. Sie kennt den Rausch des Gefühls, wenn das Messer in den feindlichen Leib schneidet, wenn Blutgeruch und Stöhnen zu den triumphierenden Sinnen dringen. Jeder wirkliche »Mann« noch in den Städten später Kulturen fühlt zuweilen die schlafende Glut dieses Urseelentums in sich. Nichts von der jämmerlichen Feststellung, daß irgend etwas »nützlich« ist, daß es »Arbeit erspart«. Noch weniger von den zahnlosen Gefühlen des Mitleids, der Versöhnung, der Sehnsucht nach Ruhe. Dafür aber der volle Stolz darauf, weithin seiner Stärke und seines Glücks wegen gefürchtet, bewundert, gehaßt zu sein, und der Drang nach Rache an allem, seien es lebende Wesen oder Dinge, was diesen Stolz auch nur durch sein Dasein verletzt.

Und diese Seele schreitet fort in wachsender Entfremdung gegenüber der ganzen Natur. Die Waffen aller Raubtiere sind natürlich, nur die bewaffnete Faust des Menschen, mit der künstlich[34] hergestellten, durchdachten, gewählten Waffe, ist es nicht. Hier beginnt »Kunst« als Gegenbegriff zur Natur. Jedes technische Verfahren des Menschen ist eine Kunst und ist immer so genannt worden, die Kunst des Bogenschießens und Reitens wie die Kriegskunst, die Künste des Bauens, des Regierens, des Opferns und Wahrsagens, des Malens und Versemachens, des wissenschaftlichen Experimentierens. Künstlich, widernatürlich ist jedes menschliche Werk vom Anzünden des Feuers bis zu den Leistungen, die wir in hohen Kulturen als eigentlich künstlerische bezeichnen. Der Natur wird das Vorrecht des Schöpfertums entrissen. Der »freie Wille« schon ist ein Akt der Empörung, nichts anderes. Der schöpferische Mensch ist aus dem Verbände der Natur herausgetreten, und mit jeder neuen Schöpfung entfernt er sich weiter und feindseliger von ihr. Das ist seine »Weltgeschichte«, die Geschichte einer unaufhaltsam fortschreitenden, verhängnisvollen Entzweiung zwischen Menschenwelt und Weltall, die Geschichte eines Empörers, der dem Schöße seiner Mutter entwachsen die Hand gegen sie erhebt.

Die Tragödie des Menschen beginnt, denn die Natur ist stärker. Der Mensch bleibt abhängig[35] von ihr, die trotz allem auch ihn selbst, ihr Geschöpf, umfaßt. Alle großen Kulturen sind ebensoviele Niederlagen. Ganze Rassen bleiben, innerlich zerstört, gebrochen, der Unfruchtbarkeit und geistigen Zerrüttung verfallen, als Opfer auf dem Platze. Der Kampf gegen die Natur ist hoffnungslos, und trotzdem wird er bis zum Ende geführt werden.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. München 1931, S. 33-36.
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