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[1] Das Problem der Technik und ihres Verhältnisses zu Kultur und Geschichte taucht erst im 19. Jahrhundert auf. Das achtzehnte hatte mit der gründlichen Skepsis, dem Zweifel, welcher der Verzweiflung gleichkommt, die Frage nach Sinn und Wert der Kultur gestellt – eine Frage, die zu weiteren, immer zersetzenderen Fragen führte und damit die Grundlagen der Möglichkeit schuf, im 20. Jahrhundert, heute, die Weltgeschichte überhaupt als Problem zu sehen.

Damals, im Zeitalter von Robinson und Rousseau, der englischen Parks und der Schäferpoesie, hatte man im »ursprünglichen« Menschen selbst eine Art von Schäflein gesehen, friedlich und tugendhaft und später nur durch die Kultur verdorben. Technisches übersah man vollständig und hielt es jedenfalls – moralischen Betrachtungen gegenüber – der Beachtung nicht für wert.

Aber die seit Napoleon ins Riesenhafte wachsende Maschinentechnik Westeuropas mit ihren Fabrikstädten, Eisenbahnen und Dampfschiffen zwang endlich dazu, das Problem ernstlich zu stellen.[1] Was bedeutet Technik? Welchen Sinn innerhalb der Geschichte, welchen Wert im Leben der Menschen, welchen sittlichen oder metaphysischen Rang hat sie? Es gab zahlreiche Antworten darauf, aber sie lassen sich im Grunde auf zwei zurückführen.

Auf der einen Seite waren es die Idealisten und Ideologen, die Nachzügler des humanistischen Klassizismus der Goethezeit, welche technische Dinge und Wirtschaftsfragen überhaupt als außerhalb und unterhalb der Kultur stehend verachteten. Goethe in seinem großen Sinn für alles Wirkliche hatte im zweiten Faust versucht, in die tiefsten Tiefen dieser neuen Tatsachenwelt einzudringen. Aber schon bei Wilhelm von Humboldt beginnt die wirklichkeitsfremde, philologische Ansicht der Geschichte, wonach man schließlich den Rang einer historischen Epoche an der Menge von Bildern und Büchern abzählte, die damals entstanden waren. Ein Herrscher besaß nur dann Bedeutung, wenn er sich als Mäzen bewährte. Was er sonst noch war, kam nicht in Betracht. Der Staat war eine beständige Störung der wahren Kultur, die in Hörsälen, Gelehrtenstuben und Ateliers vor sich ging, der Krieg eine unwahrscheinliche Barbarei aus vergangenen Zeiten und die Wirtschaft[2] irgend etwas Prosaisches und Dummes, über das man hinwegsah, obwohl man es täglich in Anspruch nahm. Einen großen Kaufmann oder Ingenieur neben Dichtern und Denkern zu nennen war beinahe Majestätsbeleidigung gegenüber der »wahren« Kultur. Man sehe sich daraufhin Jakob Burckhardts »Weltgeschichtliche Betrachtungen« an. Aber das war der Standpunkt der meisten Kathederphilosophen und selbst vieler Historiker bis herab zu den Literaten und Ästheten heutiger Großstädte, welche die Anfertigung eines Romans für wichtiger halten als die Konstruktion eines Flugzeugmotors.

Auf der andern Seite stand der Materialismus von wesentlich englischer Herkunft, die große Mode der Halbgebildeten in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, der liberalen Feuilletons und radikalen Volksversammlungen, der Marxisten und der sozialethischen Schriftsteller, die sich für Denker und Dichter hielten.

Fehlte es jenen an Sinn für die Wirklichkeit, so diesen in bestürzendem Grade an Tiefe. Das Ideal war ausschließlich der Nutzen. Was der »Menschheit« nützlich war, gehörte zur Kultur, war Kultur. Das andre war Luxus, Aberglaube oder Barbarei.[3]

Aber nützlich war, was dem »Glück der Meisten« diente. Und Glück bestand im Nichtstun. Das ist im letzten Grunde die Lehre von Bentham, Mill und Spencer. Das Ziel der Menschheit bestand darin, dem einzelnen einen möglichst großen Teil der Arbeit abzunehmen und der Maschine aufzubürden. Freiheit vom »Elend der Lohnsklaverei« und Gleichheit im Amüsement, Behagen und »Kunstgenuß«: das »panem et circenses« der späten Weltstädte meldet sich an. Die Fortschrittsphilister begeisterten sich über jeden Druckknopf, der eine Vorrichtung in Bewegung setzte, die – angeblich – menschliche Arbeit ersparte. An Stelle der echten Religion früher Zeiten tritt die platte Schwärmerei für die »Errungenschaften der Menschheit«, worunter lediglich Fortschritte der arbeitersparenden und amüsierenden Technik verstanden wurden. Von der Seele war nicht die Rede.

Das ist nicht der Geschmack der großen Erfinder selbst, mit wenigen Ausnahmen, und auch nicht der Kenner technischer Probleme, sondern ihrer Zuschauer, die selbst nichts erfinden können und jedenfalls nichts davon verstanden, die aber dabei etwas für sich witterten. Und mit dem ganzen Mangel an Einbildungskraft, der den Materialismus aller Zivilisationen kennzeichnet, wird nun[4] ein Bild der Zukunft entworfen, die ewige Seligkeit auf Erden, ein Endziel und Dauerzustand unter Voraussetzung der technischen Tendenzen etwa der achtziger Jahre – in bedenklichem Widerspruch zum Begriff des Fortschrittes, der den »Zustand« ausschließt: Bücher wie »Der alte und neue Glaube« von Strauß, Bellamys »Rückblick aus dem Jahre 2000« und Bebels »Die Frau und der Sozialismus«. Kein Krieg mehr, kein Unterschied mehr von Rassen, Völkern, Staaten, Religionen, keine Verbrecher und Abenteurer, keine Konflikte infolge von Überlegenheit und Anderssein, kein Haß, keine Rache mehr, nur unendliches Behagen durch alle Jahrtausende hin. Solche Albernheiten lassen heute noch, wo wir die Endphasen dieses trivialen Optimismus erleben, mit Grauen an die entsetzliche Langeweile denken – das taedium vitae der römischen Kaiserzeit – die sich beim bloßen Lesen solcher Idyllen über die Seele breitet und in Wirklichkeit bei auch nur teilweiser Verwirklichung zu massenhaftem Mord und Selbstmord führen würde.

Beide Ansichten sind heute veraltet. Das 20. Jahrhundert ist endlich reif geworden, um in den letzten Sinn der Tatsachen einzudringen, aus deren Gesamtheit die wirkliche Weltgeschichte[5] besteht. Es handelt sich nicht mehr darum, nach dem privaten Geschmack einzelner und ganzer Massen die Dinge und Ereignisse im Hinblick auf eine rationalistische Tendenz, auf eigne Wünsche oder Hoffnungen hin zu deuten. An Stelle des »So soll es sein« oder »So sollte es sein« tritt das unerbittliche: So ist es und so wird es sein. Eine stolze Skepsis macht den Sentimentalitäten des vorigen Jahrhunderts Platz. Wir haben gelernt, daß Geschichte etwas ist, das nicht im geringsten auf unsere Erwartungen Rücksicht nimmt.

Der physiognomische Takt, wie ich das bezeichnet habe,1 was allein zum Eindringen in den Sinn alles Geschehens befähigt, der Blick Goethes, der Blick geborener Menschenkenner, Lebenskenner, Geschichtskenner über die Zeiten hin erschließt im einzelnen dessen tiefere Bedeutung.

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Untergang des Abendlandes Bd. I Kap. II.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. München 1931, S. 1-6.
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