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[37] Wie lange das Zeitalter der bewaffneten Hand dauerte, das heißt, seit wann es den Menschen gibt, wissen wir nicht. Die Zahl von Jahren ist auch belanglos, obwohl sie heute noch viel zu hoch angenommen wird. Es handelt sich nicht um Millionen, nicht einmal um mehrere Jahrhunderttausende; immerhin muß eine beträchtliche Zahl von Jahrtausenden verflossen sein.

Nun aber tritt eine zweite Wandlung ein, die Epoche macht, ebenso jäh und gewaltig, das Menschenschicksal von Grund aus umformend wie die erste, wieder eine echte Mutation in dem eben erörterten Sinne. Die prähistorische Forschung hat das längst bemerkt. In der Tat zeigen die Dinge, die in unsern Museen liegen, plötzlich ein anderes Gesicht. Tongefäße treten auf, Spuren von »Ackerbau« und »Viehzucht«, wie man es sorglos genug und viel zu modern genannt hat, Hüttenbau, Gräber, Andeutungen des Verkehrs. Eine neue Welt des technischen Denkens und Verfahrens meldet sich an. Vom Museumsstandpunkt aus, viel zu flach und auf die bloße Anordnung von Funden[37] versessen, hat man ältere und jüngere Steinzeit, Paläolithikum und Neolithikum, getrennt. Aber diese Einteilung des vorigen Jahrhunderts erweckt längst Unbehagen, und man versucht seit Jahrzehnten, sie durch etwas anderes zu ersetzen. Ausdrücke wie Mesolithikum, Mio-, Mixoneolithikum beweisen indessen, daß man immer noch an einer bloßen Ordnung der Objekte haftet und deshalb nicht weiter kommt. Was sich verwandelt, sind aber nicht die Geräte, sondern der Mensch. Noch einmal: Nur von der Seele aus läßt sich die Geschichte des Menschen erschließen.

Diese Mutation läßt sich ziemlich genau festlegen, etwa ins fünfte Jahrtausend v. Chr.1 Längstens zwei Jahrtausende später beginnen schon die Hochkulturen in Ägypten und Mesopotamien. Man sieht, das Tempo der Geschichte nimmt tragische Maße an. Vorher spielten Jahrtausende kaum eine Rolle, jetzt wird jedes Jahrhundert wichtig. Der rollende Stein nähert sich in rasenden Sprüngen dem Abgrund.

Aber was ist geschehen? Dringt man tiefer in diese neue Formenwelt menschlicher Taten ein, so sieht man bald sehr verwirrte und komplizierte[38] Zusammenhänge. All diese Techniken setzen sich gegenseitig voraus. Die Haltung von gezähmten Tieren fordert das Anpflanzen von Futtermitteln, die Saat und Ernte von Nahrungspflanzen das Vorhandensein von Zug- und Lasttieren, diese wieder den Bau von Gehegen, jede Art von Bauten die Herstellung und den Transport von Baustoffen, der Verkehr die Straße, das Saumtier und das Schiff.

Was ist das seelisch Umwälzende an alledem? Ich gebe die Antwort: Das planmäßige Tun zu mehreren. Bis dahin lebt jeder Mensch sein eigenes Leben, stellt selbst seine Waffe her, führt allein seine Taktik im täglichen Kampfe durch. Keiner braucht den anderen. Das ändert sich plötzlich. Diese neuen Verfahren dehnen sich über lange Zeiträume, unter Umständen über Jahre aus – man denke an den Weg vom Fällen der Bäume bis zur Abfahrt des mit ihnen gebauten Schiffes –und ebenso über weite Strecken. Sie zerfallen in Reihen von genau geordneten Einzelakten und in Gruppen von nebeneinander durchgeführten Handlungen. Diese Gesamtverfahren aber setzen als unentbehrliches Mittel die Wortsprache voraus.

Das Sprechen in Sätzen und Worten kann nicht früher oder später, es muß damals entstanden sein,[39] rasch wie alles Entscheidende, und zwar in engem Zusammenhang mit der neuen Art menschlicher Verfahren. Das läßt sich beweisen.

Was ist »Sprechen«?2 Ohne Zweifel ein Verfahren zum Zweck von Mitteilungen, eine Tätigkeit, die von zahlreichen Menschen fortgesetzt untereinander ausgeübt wird. »Sprache« ist nur eine Abstraktion davon, die innere – grammatische – Form des Sprechens einschließlich der Wortformen. Diese Form muß verbreitet sein und eine gewisse Dauer haben, wenn Mitteilungen wirklich stattfinden sollen. Ich hatte früher3 gezeigt, daß dem Sprechen in Sätzen einfachere Formen der Mitteilung vorausgehen – Zeichen fürs Auge, Signale, Gesten, Warnungs- und Drohrufe – die sämtlich zur Unterstützung des Sprechens in Sätzen fortbestehen, auch heute noch, als Sprechmelodie, Betonung, Mienenspiel, Handbewegungen, in der heutigen Schrift als Interpunktion.

Trotzdem ist das »fließende« Sprechen dem Gehalt nach etwas ganz Neues. Seit Hamann und Herder hat man sich denn auch immer wieder die Frage nach seiner Entstehung vorgelegt. Wenn alle[40] Antworten bis zum heutigen Tage uns unbefriedigt lassen, so liegt das daran, daß die Frage falsch gemeint war. Denn der Ursprung des Sprechens in Worten kann nicht in der Tätigkeit des Sprechens selbst gesucht werden. So dachten die Romantiker, wirklichkeitsfremd wie immer, welche die Sprache aus der »Urpoesie der Menschheit« ableiteten – nein, mehr noch: die Sprache war die Urdichtung des Menschen; sie war Mythus, Lyrik, Gebet zugleich, und Prosa war nur die spätere Herabwürdigung zum gemeinen Gebrauch des Tages. Aber dann müßte die innere Form der Sprache, die Grammatik, der logische Aufbau der Sätze ganz anders aussehen. Gerade urwüchsige Sprachen wie die der Bantu- und der Turkstämme zeigen die Tendenz besonders deutlich, ganz klare, scharfe, unmißverständliche Unterscheidungen zu treffen.4

Aber das führt zum Grundfehler der Feinde aller Romantik, der Rationalisten. Sie laufen stets der Meinung nach, daß der Satz ein Urteil oder einen Gedanken ausdrücke. Sie sitzen an ihrem[41] Schreibtisch voller Bücher und grübeln über ihr eigenes Denken und Schreiben nach. Da scheint ihnen der »Gedanke« der Zweck des Sprechens zu sein. Weil sie allein zu sitzen pflegen, vergessen sie über dem Sprechen das Hören, über der Frage die Antwort, über dem Ich das Du. Sie sagen »Sprache« und meinen die Rede, den Vortrag, die Abhandlung. Ihre Ansicht vom Entstehen der Sprache ist monologisch und deshalb falsch.

Die richtig gestellte Frage lautet nicht: Wie, sondern wann entsteht das Sprechen in Worten? Und dann wird sehr bald alles klar. Der meist mißverstandene oder übersehene Zweck des Sprechens in Sätzen ergibt sich aus der Zeit, seit welcher so, nämlich fließend gesprochen wird. Und der Zweck liegt in der Form der Satzbildung klar zutage. Das Sprechen erfolgt nicht monologisch, sondern dialogisch, die Satzreihen folgen nicht als Rede, sondern zwischen mehreren Menschen als Unterredung. Der Zweck ist nicht ein Verstehen aus dem Nachdenken heraus, sondern eine wechselseitige Verständigung durch Frage und Antwort. Welches sind denn die ursprünglichen Formen des Sprechens? Nicht das Urteil, die Aussage, sondern der Befehl, der Ausdruck des Gehorsams, die Feststellung, die Frage, die Bejahung,[42] die Verneinung. Es sind Sätze, die sich stets an einen anderen wenden, ursprünglich, sicher ganz kurz: Tu das! Fertig? Ja! Anfangen! Die Worte als Begriffsbezeichnung5 folgen erst aus dem Zweck der Sätze, so daß von Anfang an der Wortschatz eines Jägerstammes ganz anders ist als der eines Dorfes von Viehzüchtern oder einer seefahrenden Küstenbevölkerung. Ursprünglich war die Sprache eine schwierige Tätigkeit,6 und man sprach gewiß nur das Notwendigste. Noch heute ist der Bauer schweigsam im Verhältnis zum Städter, der infolge seiner Sprachgewöhnung den Mund nicht halten kann und aus Langerweile schwatzt und Konversation macht, sobald er nichts zu tun hat, und ob er etwas zu sagen hat oder nicht.

Der ursprüngliche Zweck des Sprechens ist die Durchführung einer Tat nach Absicht, Zeit, Ort, Mitteln. Die klare, eindeutige Fassung derselben ist das Erste, und aus der Schwierigkeit, sich verständlich zu machen, den eigenen Willen anderen aufzuerlegen, ergibt sich die Technik der[43] Grammatik, die Technik der Bildung von Sätzen und Satzarten, des richtigen Befehlens, Fragens, Antwortens, der Ausbildung von Wortklassen auf Grund der praktischen, nicht der theoretischen Absichten und Ziele. Das theoretische Nachdenken hat am Entstehen des Sprechens in Sätzen so gut wie gar keinen Anteil. Alles Sprechen ist praktischer Natur und geht vom »Denken der Hand« aus.

1

Auf Grund der Forschungen de Geers am schwedischen Bänderton: Reallex. d. Vorgeschichte, Bd. II (Diluvialchronologie).

2

Zum folgenden Untergang des Abendlandes Bd. II Kap. II, 1: Völker, Rassen, Sprachen.

3

Ebenda.

4

Bis zu dem Grade, daß in manchen Sprachen der »Satz« ein einziges Wortungeheuer ist, in dem durch klassifizierende Vor- und Nachsilben in gesetzmäßiger Ordnung alles ausgedrückt wird, was gesagt werden soll.

5

Der Begriff ist die Einordnung von Dingen, Lagen, Tätigkeiten in Klassen von praktischer Allgemeinheit. Der Pferdebesitzer sagt nicht »Pferd«, sondern Schimmelstute oder Rappfohlen, der Jäger nicht »Wildschwein«, sondern Keiler, Bache, Frischling.

6

Und sicher lernten erst Erwachsene fließend sprechen, wie noch viel später schreiben.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. München 1931, S. 37-44.
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