10

[322] Die Venezianer haben die Handschrift des sichtbaren Pinselstrichs entdeckt und als musikhaftes, raumschaffendes Motiv in die Ölmalerei eingeführt. Von den Florentiner Meistern war die antikisierende und doch dem gotischen Formgefühl dienende Manier, durch Glättung aller Übergänge reine, scharf umrissene, ruhende Farbflächen zu schaffen, nie angegriffen worden. Ihre Bilder haben etwas Seiendes, und zwar in deutlich gefühltem Gegensatz zu der heimlichen Bewegtheit der über die Alpen hereindringenden Ausdrucksmittel der Gotik. Der Farbenauftrag des 15. Jahrhunderts verneint Vergangenheit und Zukunft. Erst in der sichtbar bleibenden, gleichsam nie erstarrenden Arbeit des Pinsels kommt ein historisches Empfinden zum Vorschein. Man will im Werk des Malers nicht nur etwas sehen, das geworden ist, sondern auch etwas, das wird. Das gerade hatte die Renaissance vermeiden wollen. Ein Gewandstück des Perugino erzählt nichts von seiner künstlerischen Entstehung. Es ist [322] fertig, gegeben, schlechthin gegenwärtig. Die einzelnen Pinselstriche, die man als eine vollkommen neue Formensprache zuerst in den Alterswerken Tizians trifft, Akzente eines persönlichen Temperaments, charakteristisch wie die Orchesterfarben Monteverdis, ein melodisches Fluten wie im venezianischen Madrigal dieser Jahre, Streifen und Flecke, die unvermittelt nebeneinander stehen, sich kreuzen, decken, verwirren, bringen eine unendliche Bewegtheit in das farbige Element. Auch die gleichzeitige geometrische Analysis läßt ihre Objekte werden, nicht sein. Jedes Gemälde hat in seinem Duktus eine Geschichte und verschweigt sie nicht. Vor ihm fühlt der faustische Mensch, daß er eine seelische Entwicklung besitzt. Vor jeder großen Landschaft eines Barockmeisters darf man das Wort »historisch« aussprechen, um einen Sinn in ihr zu fühlen, der einer attischen Statue gänzlich fremd ist. Das ewige Werden, die gerichtete Zeit, das dynamische Weltenschicksal ruht auch in der Melodik dieser ruhelosen und grenzenlosen Striche. Malerischer und zeichnerischer Stil: das bedeutet, von dieser Seite gesehen, den Gegensatz von historischer und ahistorischer Form, von Betonung oder Verleugnung der inneren Entwicklung, von Ewigkeit und Augenblick. Ein antikes Kunstwerk ist ein Ereignis, ein abendländisches eine Tat. Das eine symbolisiert ein punktförmiges Jetzt, das andere einen organischen Verlauf. Die Physiognomik der Pinselführung, eine völlig neue, unendlich reiche und persönliche, keiner andern Kultur bekannte Art von Ornamentik ist rein musikalisch. Man kann das allegro feroce des Franz Hals dem andante con moto Van Dycks, das Moll Guercinos dem Dur des Velasquez gegenüberstellen. Von nun an gehört der Begriff des Tempo zum malerischen Vortrag und er erinnert daran, daß diese Kunst die einer Seele ist, die im Gegensatz zur antiken nichts vergißt und vergessen sehen will, was einmal war. Das luftige Gewebe der Pinselstriche löst zugleich die sinnliche Oberfläche der Dinge auf. Die Konturen verschwinden im Helldunkel. Der Betrachter muß weit zurücktreten, um aus farbigen Raumwerten körperhafte Eindrücke zu gewinnen. Und es ist immer die farbig bewegte Luft, welche die Dinge aus sich gebiert.

Zugleich erscheint von nun an ein Symbol höchsten Ranges im[323] abendländischen Gemälde, das »Atelierbraun«, und beginnt die Wirklichkeit aller Farben mehr und mehr zu dämpfen. Die älteren Florentiner kannten es noch nicht, so wenig wie die alten niederländischen und rheinischen Meister. Pacher, Dürer, Holbein sind, so leidenschaftlich ihre Tendenz zur räumlichen Tiefe erscheint, ganz frei davon. Erst das endende 16. Jahrhundert gehört ihm. Dies Braun verleugnet seine Herkunft aus dem »infinitesimalen« Grün der Hintergründe Lionardos, Schongauers und Grünewalds nicht, aber es besitzt die größere Macht über die Dinge. Es führt den Kampf des Raumes gegen das Stoffliche zu Ende. Es überwindet auch das primitivere Mittel der Linearperspektive mit ihrem an architektonische Bildmotive gebundenen Renaissancecharakter. Es steht mit der impressionistischen Technik der sichtbaren Pinselstriche dauernd in einer geheimnisvollen Verbindung. Beide lösen das greifbare Dasein der sinnlichen Welt – der Welt des Augenblicks und der Vordergründe – endgültig in atmosphärischen Schein auf. Die Linie verschwindet aus dem tonigen Bilde. Der magische Goldgrund hatte nur von einer rätselhaften Macht geträumt, welche die Gesetzlichkeit der Körperwelt in dieser Welthöhle beherrscht und durchbricht; das Braun dieser Gemälde öffnet den Blick in eine reine formvolle Unendlichkeit. Im Werden des abendländischen Stils bezeichnet seine Entdeckung einen Höhepunkt. Diese Farbe hat im Gegensatz zu dem vorhergehenden Grün etwas Protestantisches. Der nordische, im Grenzenlosen schweifende Pantheismus des 18. Jahrhunderts, wie ihn die Verse der Erzengel im Prolog von Goethes Faust ausdrücken, ist in ihm vorweggenommen. Die Atmosphäre des König Lear und Macbeth ist ihm verwandt. Das gleichzeitige Streben der instrumentalen Musik nach immer reicheren Enharmonien, bei de Rore und Luca Marenzio, die Herausbildung des Tonkörpers der Streicher und Bläserchöre entspricht durchaus der neuen Tendenz in der Ölmalerei, von den reinen Farben aus durch die Unzahl bräunlicher Schattierungen und die Kontrastwirkung unvermittelt nebeneinander gesetzter Farbenstriche eine malerische Chromatik zu schaffen. Beide Künste breiten nun durch ihre Ton- und Farbenwelten – Farbentöne und Tonfarben – eine Atmosphäre reinster Räumlichkeit aus,[324] die nicht mehr den Menschen als Gestalt, als Leib, sondern die hüllenlose Seele selbst umgibt und bedeutet. Eine Innerlichkeit wird erreicht, der in den tiefsten Werken Rembrandts und Beethovens kein Geheimnis sich mehr verschließt – eine Innerlichkeit allerdings, welche der apollinische Mensch durch seine streng somatische Kunst gerade hatte abwehren wollen.

Die alten Vordergrundfarben, Gelb und Rot – die antiken Töne-, werden von nun an seltener und immer als bewußte Kontraste zu Fernen und Tiefen gebraucht, die sie steigern und betonen sollen (außer bei Rembrandt vor allem bei Vermeer). Dies der Renaissance vollkommen fremde atmosphärische Braun ist die unwirklichste Farbe, die es gibt. Es ist die einzige »Grundfarbe«, die dem Regenbogen fehlt. Es gibt weißes, gelbes, grünes, rotes, blaues Licht von vollkommenster Reinheit. Ein reines braunes Licht liegt außerhalb der Möglichkeiten unsrer Natur. Alle die grünlichbraunen, silbrigen, feuchtbraunen, tiefgoldigen Töne, die bei Giorgione in prachtvollen Spielarten erscheinen, bei den großen Niederländern immer kühner werden und sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts verlieren, entkleiden die Natur ihrer greifbaren Wirklichkeit. Darin liegt beinahe ein religiöses Bekenntnis. Man spürt die Nähe der Geister von Port Royal, die Nähe von Leibniz. Bei Constable, dem Begründer einer zivilisierten Malweise, ist es ein andres Wollen, das nach Ausdruck sucht, und dasselbe Braun, das er bei den Holländern studiert hatte und das damals Schicksal, Gott, den Sinn des Lebens bedeutete, bedeutet nun ihm etwas andres, nämlich bloße Romantik, Empfindsamkeit, Sehnsucht nach etwas Entschwundenem, Erinnerung an die große Vergangenheit der sterbenden Ölmalerei. Auch den letzten deutschen Meistern, Lessing, Marees, Spitzweg, Diez, Leibl,31 deren verspätete Kunst ein Stück Romantik, ein Rückblick und Ausklang ist, erschien das tonige Braun als das kostbare Erbe der Vergangenheit, und sie setzten sich in Widerspruch zu den bewußten Tendenzen ihrer Generation – dem seelenlosen, entseelenden Freilicht der Generation Haeckels –, weil sie innerlich sich von[325] diesem letzten Zuge des großen Stils noch nicht trennen konnten. In diesem noch heute nicht verstandenen Kampf zwischen dem Rembrandtbraun der alten und dem Freilicht der neuen Schule erscheint der hoffnungslose Widerstand der Seele gegen den Intellekt, der Kultur gegen die Zivilisation, der Gegensatz von symbolisch notwendiger Kunst und weltstädtischem Kunstgewerbe, mag es bauen, malen, meißeln oder dichten. Von hier aus wird die Bedeutung dieses Braun, mit dem eine ganze Kunst stirbt, fühlbar.

Die innerlichsten unter den großen Malern haben diese Farbe am besten verstanden, Rembrandt vor allem. Es ist dies rätselhafte Braun seiner entscheidenden Werke, das aus dem tiefen Leuchten mancher gotischen Kirchenfenster, aus der Dämmerung hochgewölbter Dome stammt. Der satte Goldton der großen Venezianer, Tizians, Veroneses, Palmas, Giorgiones, gemahnt immer wieder an jene alte, verschollene Kunst der nordischen Glasmalerei, von der sie kaum etwas wußten. Auch hier ist die Renaissance mit ihrer körperhaften Farbenwahl nur Episode, nur ein Ergebnis der Oberfläche, des Allzubewußten, nicht des Faustisch-Unbewußten in den Tiefen der abendländischen Seele. In diesem leuchtenden Goldbraun reichen sich in der venezianischen Malerei Gotik und Barock, die Kunst jener frühen Glasgemälde und die dunkle Musik Beethovens die Hand, gerade damals, als durch die Niederländer Willaert und de Rore und den älteren Gabrieli die Schule von Venedig den Barockstil der malerischen Musik begründete.

Braun war nunmehr die eigentliche Farbe der Seele, einer historisch gestimmten Seele geworden. Ich glaube, Nietzsche hat einmal von der braunen Musik Bizets gesprochen. Aber das Wort gilt eher von der Musik, die Beethoven für Streichinstrumente32 geschrieben[326] hat, und noch zuletzt von dem Orchesterklang Bruckners, der so oft den Raum mit einem bräunlichen Golde füllt. Alle andern Farben sind in eine dienende Rolle verwiesen, das helle Gelb und der Zinnober Vermeers, die mit wahrhaft metaphysischem Nachdruck wie aus einer andern Welt ins Räumliche hereinragen, und die gelbgrünen und blutroten Lichter, die bei Rembrandt mit der Symbolik des Raumes beinahe zu spielen scheinen. Bei Rubens, der ein glänzender Künstler, aber kein Denker war, ist das Braun fast ideenlos, eine Schattenfarbe. (Das »katholische« Blaugrün macht bei ihm und Watteau dem Braun den Rang streitig.) Man sieht, wie dasselbe Mittel, das in den Händen tiefer Menschen Symbol wird und dann die ungeheure Transzendenz der Landschaften Rembrandts hervorrufen kann, daneben großen Meistern als bloße technische Handhabe zu Gebote steht, daß also, wie wir eben sahen, die künstlerisch-technische »Form«, als Gegensatz zu einem »Inhalt« gedacht, nichts mit der wahren Form großer Werke zu tun hat.

Ich hatte das Braun eine historische Farbe genannt. Es macht die Atmosphäre des Bildraumes zu einem Zeichen des Gerichtetseins, der Zukunft. Es übertönt die Sprache des Augenblicklichen in der Darstellung. Diese Bedeutung erstreckt sich auch auf die übrigen Farben der Ferne und führt zu einer weiteren, sehr bizarren Bereicherung der abendländischen Symbolik. Die Hellenen hatten die oft noch vergoldete Bronze zuletzt dem bemalten Marmor vorgezogen, um durch das Strahlende der Erscheinung unter tiefblauem Himmel die Idee der Einzigkeit alles Körperhaften zum Ausdruck zu bringen.33 Die Renaissance grub diese Statuen aus, von einer vielhundertjährigen Patina überzogen, schwarz und grün; sie genoß das Historische des Eindrucks voller Ehrfurcht und Sehnsucht – und unser Formgefühl hat seitdem dieses »ferne« Schwarz und Grün heilig gesprochen. Es ist heute für den Eindruck der Bronze auf unser Auge unentbehrlich, wie um die Tatsache schalkhaft zu illustrieren, daß diese ganze Kunstgattung uns nichts mehr angeht. Was[327] bedeutet uns eine Domkuppel, ein Bronzefigur ohne Patina, die das nahe Glänzen in den Ton des Dort und Einst verwandelt? Sind wir nicht endlich dahin gekommen, diese Patina künstlich zu erzeugen? Aber in der Erhebung des Edelrostes zu einem Kunstmittel von selbständiger Bedeutung liegt viel mehr. Man frage sich, ob ein Grieche die Bildung der Patina nicht als Zerstörung des Kunstwerkes empfunden hätte. Es ist nicht die Farbe allein, das raumferne Grün, das er aus seelischen Gründen vermied; die Patina ist ein Symbol der Vergänglichkeit und sie erhält damit eine merkwürdige Beziehung zu den Symbolen der Uhr und der Bestattungsform. Es war an einer früheren Stelle die Rede von der Sehnsucht der faustischen Seele nach Ruinen und den Zeugnissen einer fernen Vergangenheit, einem Hange, wie er im Sammeln von Altertümern, Handschriften, Münzen, den Pilgerfahrten nach dem Forum Romanum und Pompeji, in Ausgrabungen und philologischen Studien schon zur Zeit Petrarcas zutage tritt. Wann wäre es je einem Griechen eingefallen, sich um die Ruinen von Knossos und Tiryns zu kümmern? Jeder kannte die Ilias, aber nicht einem kam der Gedanke, den Hügel von Troja aufzugraben. Die Aquädukte der Campagna, die etruskischen Gräber, die Ruinen von Luxor und Karnak, zerfallende Burgen am Rhein, der römische Limes, Hersfeld und Paulinzella werden mit einer geheimen Ehrfurcht vor dem Trümmerhaften erhalten – als Ruinen, denn man hat ein dunkles Gefühl davon, daß bei einem Wiederaufbau etwas schwer in Worte zu Fassendes, Unwiederbringliches verloren ginge. Nichts lag dem antiken Menschen ferner als diese Ehrfurcht vor verwitterten Zeugen eines Einst und Ehemals. Man räumte aus den Augen, was nicht mehr von der Gegenwart sprach. Nie wurde das Alte erhalten, weil es alt war. Als die Perser Athen zerstört hatten, warf man Säulen, Statuen, Reliefs, ob zertrümmert oder nicht, von der Akropolis herunter, um von vorn anzufangen, und diese Schutthalde ist unsre reichste Fundgrube für die Kunst des 6. Jahrhunderts geworden. Das entsprach dem Stil einer Kultur, welche die Leichenverbrennung zum Symbol erhob und die Bindung des täglichen Lebens an eine Zeitrechnung verschmähte. Wir haben auch hier das Gegenteil gewählt. Die heroische[328] Landschaft im Stile Lorrains ist ohne Ruinen nicht denkbar, und der englische Park mit seinen atmosphärischen Stimmungen, der den französischen um 1750 verdrängte und dessen großgedachte Perspektive zugunsten der empfindsamen »Natur« Addisons und Popes aufgab, fügte noch das Motiv der künstlichen Ruine hinzu, die das Landschaftsbild historisch vertieft.34 Etwas Bizarreres ist kaum je ersonnen worden. Die ägyptische Kultur restaurierte die Bauten der Frühzeit, aber sie würde niemals den Bau von Ruinen als Symbolen der Vergangenheit gewagt haben. Aber wir lieben eigentlich auch nicht die antike Statue, sondern den antiken Torso. Er hat ein Schicksal gehabt; etwas in die Ferne Weisendes umgibt ihn, und das Auge sucht gern den leeren Raum der fehlenden Glieder mit dem Takt und Rhythmus unsichtbarer Linien zu erfüllen. Eine gute Ergänzung – und der geheimnisvolle Zauber unendlicher Möglichkeiten ist zu Ende. Ich wage zu behaupten, daß die Reste der antiken Skulptur erst durch diese Transposition ins Musikalische uns nähertreten konnten. Die grüne Bronze, der geschwärzte Marmor, die zertrümmerten Glieder einer Figur heben für unser inneres Auge die Schranken von Ort und Zeit auf. Man hat das malerisch genannt – »fertige« Statuen, Bauten, nicht verwilderte Parks sind unmalerisch – und in der Tat entspricht es der tieferen Bedeutung des Atelierbrauns,35 aber man meinte im letzten Grunde den Geist der instrumentalen Musik. Man frage sich, ob der Doryphoros Polyklets, in funkelnder Bronze vor uns stehend, mit Emailaugen und vergoldetem Haar, dieselbe Wirkung tun könnte wie der vom Alter geschwärzte, ob der vatikanische Torso des Herakles nicht seinen mächtigen Eindruck einbüßte, wenn eines Tages die fehlenden Glieder gefunden würden, ob die Türme und Kuppeln unsrer alten[329] Städte nicht ihren tiefen metaphysischen Reiz verlören, wenn man sie mit neuem Kupfer beschlüge. Das Alter adelt für uns wie für die Ägypter alle Dinge. Für den antiken Menschen entwertet es sie.

Hiermit hängt endlich die Tatsache zusammen, daß die abendländische Tragödie »historische«, nicht etwa nachweisbar wirkliche oder mögliche – das ist nicht der eigentliche Sinn des Wortes – sondern entfernte, patinierte Stoffe aus demselben Gefühl vorzog: daß nämlich ein Ereignis von reinem Augenblicksgehalt, ohne Raum- und Zeitferne, ein antikes tragisches Faktum, ein zeitloser Mythos nicht das ausdrücken könne, was die faustische Seele ausdrücken wollte und mußte. Wir haben also Tragödien der Vergangenheit und Tragödien der Zukunft – zu letzteren, in denen der kommende Mensch Träger eines Schicksals ist, gehören in einem gewissen Sinne Faust, Peer Gynt, die Götterdämmerung –, aber Tragödien der Gegenwart besitzen wir nicht, wenn man von der belanglosen Sozialdramatik des 19. Jahrhunderts absieht. Shakespeare wählte, wenn er einmal in Gegenwärtigem Bedeutendes ausdrücken wollte, immer wenigstens fremde Länder, in denen er nie gewesen war, am liebsten Italien; deutsche Dichter gern England und Frankreich – alles das aus einer Abweisung der örtlichen und zeitlichen Nähe, welche das attische Drama selbst im Mythos noch betonte.

31

Sein Bildnis der Frau Gedon, ganz in Braun getaucht, ist das letzte altmeisterliche Porträt des Abendlandes, vollkommen im Stile der Vergangenheit gemalt.

32

Der Streichkörper repräsentiert im Orchesterklang die Farben der Ferne. Das bläuliche Grün Watteaus findet sich schon im bei canto der Neapolitaner um 1700, bei Couperin, bei Mozart und Haydn, das Bräunliche der Holländer bei Corelli, Händel und Beethoven. Auch die Holzbläser rufen helle Fernen herauf. Gelb und Rot dagegen, die Farben der Nähe, die populären Farben, gehören zum Klang der Blechinstrumente, der körperhaft bis zum Ordinären wirkt. Der Ton einer alten Geige ist vollkommen körperlos. Es verdient bemerkt zu werden, daß die hellenische Musik, so unbedeutend sie ist, von der dorischen Lyra zur ionischen Flöte – Aulos und Syrinx – überging und daß die strengen Dorer diese Tendenz zum Weichlichen und Niedrigen noch zur Zeit des Perikles getadelt haben.

33

Man verwechsle die Tendenz, welche dem Goldglanz eines auf freiem Platze stehenden Körpers zugrunde liegt, nicht mit der des flimmernden arabischen Goldgrundes, der in dämmernden Innenräumen hinter den Figuren abschließt.

34

Home, ein englischer Philosoph des 18. Jahrhunderts, erklärt in einer Betrachtung über englische Parkanlagen, daß gotische Ruinen den Triumph der Zeit über die Kraft, griechische den der Barbarei über den Geschmack darstellen. Damals erst wurde die Schönheit des Rheins mit seinen Ruinen entdeckt. Er war von nun an der historische Strom der Deutschen.

35

Das Nachdunkeln alter Gemälde erhöht für unser Gefühl deren Gehalt, mag der Kunstverstand tausendmal dagegen sprechen. Hätten die verwendeten Öle die Bilder zufällig blasser werden lassen, so wäre das als Zerstörung empfunden worden.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 322-330.
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