9

[517] Der antike Polytheismus besitzt demnach einen Stil, der ihn von jeder andern, äußerlich noch so verwandten Fassung eines Weltgefühls streng abhebt. Diese Art, Götter, keine Gottheit zu besitzen, war nur einmal da, eben in der einzigen Kultur, welche die Statue des nackten Menschen als den Inbegriff aller Kunst empfand. Die Natur, wie sie der antike Mensch um sich fühlte und erkannte, eine Summe wohlgestalteter körperlicher Dinge, konnte in keiner andern Form vergöttlicht werden. Der Römer fand in dem Anspruch Jahwes, allein anerkannt zu werden, etwas Atheistisches. Ein Gott war für ihn kein Gott. Von hierher schreibt sich die starke Abneigung des gesamten griechisch-römischen Volksbewußtseins gegen die Philosophen, soweit sie Pantheisten, mithin gottlos waren. Götter sind Körper, somata der vollkommensten Art, und zum soma im mathematischen wie im physikalischen, rechtlichen und dichterischen Sprachgebrauch gehört die Vielzahl. Der Begriff ζῷον πολιτικόν gilt auch von Göttern; nichts ist ihnen so fremd wie die Einsamkeit, das Allein- und Fürsichsein. Um so entschiedener haftet an ihrem Dasein das Merkmal einer beständigen Nähe. Es ist von[517] höchster Bedeutung, daß gerade in Hellas die Gestirngötter, als numina der Ferne, fehlen. Helios hatte nur auf dem halb orientalischen Rhodos, Selene überhaupt keinen Kult. Beide sind lediglich, wie schon in der höfischen Poesie Homers, künstlerische Ausdrucksmittel, nach römischer Bezeichnung Elemente des genus mythicum, nicht des genus civile. Die altrömische Religion, in der das antike Weltgefühl in besonderer Reinheit zum Ausdruck kommt, kennt weder Sonne noch Mond, weder Sturm noch Wolken als Gottheiten. Waldesrauschen und Waldeinsamkeit, Gewitter und Meeresbrandung, die das Naturgefühl des faustischen Menschen, schon das des Kelten und Germanen, völlig beherrschen und seinen mythischen Schöpfungen den eigentümlichen Charakter geben, lassen das des antiken Menschen unberührt. Nur Konkreta, Herd und Tür, der einzelne Wald und das einzelne Feld, dieser Fluß und jener Berg, verdichten sich ihm zu Wesen. Man bemerkt, daß alles, was Ferne hat, alles, was grenzenlos und unkörperlich wirkt und deshalb den Raum als seiend, als göttlich in die gefühlte Natur ziehen würde, vom Mythos ausgeschlossen bleibt, wie denn auch Wolken und Horizonte, die dem Landschaftsgemälde des Barock erst Sinn und Seele geben, im antiken hintergrundlosen Fresko völlig fehlen. Die unbegrenzte Menge antiker Götter – jeder Baum, jede Quelle, jedes Haus, jeder Teil des Hauses sogar ist Gott – bedeutet, daß jedes greifbare Ding ein für sich bestehendes Wesen, keines also dem andern funktional untergeordnet ist.

Dem apollinischen und dem faustischen Naturbilde liegen überall die entgegengesetzten Symbole des Einzeldinges und des einen Raumes zugrunde. Olymp und Unterwelt sind von scharfer sinnlicher Bestimmtheit; die Reiche der Zwerge, Elben, Kobolde, Walhall und Niflheim – das alles ist irgendwo im Weltraum verloren. In der altrömischen Religion ist Tellus mater nicht die »Urmutter«, sondern der handgreifliche Acker selbst. Faunus ist der Wald, Volturnus der Fluß; die Saat heißt Ceres, die Ernte heißt Consus. Sub Jove frigido heißt bei Horaz echt römisch: unter kaltem Himmel. Hier wird nicht einmal der Versuch einer bildlichen Wiedergabe an der Stätte der Verehrung gemacht, denn das hieße den Gott verdoppeln.[518] Noch sehr spät lehnt sich nicht nur der römische, sondern auch der griechische Instinkt gegen Götterbilder auf; das beweisen der immer profaner werdenden Plastik gegenüber der Volksglaube und die fromme Philosophie.37 Im Hause ist Janus die Tür als Gott, Vesta der Herd als Göttin; die beiden Funktionen des Hauses sind in ihrem Gegenstand Wesen, Gott geworden. Hellenische Flußgötter wie Acheloos, der als Stier erscheint, sind deutlich als der Fluß selbst, nicht etwa als im Flusse wohnend bezeichnet. Die Pane und Satyrn sind die als Wesen empfundenen, wohlbegrenzten Felder und Triften am Mittag. Dryaden und Hamadryaden sind Bäume. An vielen Stellen wurden einzelne, besonders wohlgewachsene Bäume an sich, ohne Namengebung verehrt, indem man sie mit Binden und Weihgeschenken schmückte. Dagegen besitzen die Mahre, Wichte, Zwerge, Hexen, Valkyren und die ihnen verwandten, schweifenden Heere der abgeschiedenen Seelen, die nachts umgehen, nichts von dieser ortsgebundenen Stofflichkeit. Najaden sind Quellen. Nixen und Alrunen aber, Holzgeister und Eiben sind Seelen, die in Quellen, Bäume, Häuser nur gebannt sind und erlöst sein, wieder frei herumschweifen wollen. Das ist das vollkommene Gegenteil einer plastischen Naturempfindung. Die Dinge werden hier nur als Räume andrer Art erlebt. Eine Nymphe, eine Quelle also, nimmt wohl menschliche Gestalt an, wenn sie einen schönen Hirten besuchen will; eine Nixe aber ist eine verwunschene Prinzessin, mit Wasserrosen im Haar, die in Mitternächten aus dem See steigt, in dessen Tiefe sie wohnt. Kaiser Rotbart sitzt im Kyffhäuser und Frau Venus im Hörselberg. Es ist, als ob es nichts Stoffliches, Undurchdringliches im faustischen Weltall gäbe. In den Dingen ahnt man andre Welten; ihre Dichte, ihre Härte ist Schein, und – ein Zug, der im antiken Mythos gar nicht vorkommen könnte, der ihn aufheben würde – bevorzugten Sterblichen wird die Gabe verliehen, durch Felsen und Berge in die Tiefe zu schauen. Aber ist das nicht auch die geheime Meinung unserer physikalischen Theorie? Ist eine neue Hypothese nicht immer eine Art Springwurzel? Keine andre Kultur kennt so viele Sagen von Schätzen, die in Bergen und Seen[519] ruhen, von geheimnisvollen unterirdischen Reichen, Palästen, Gärten, in denen andre Wesen wohnen. Die ganze Substanz der sichtbaren Welt wird vom faustischen Naturgefühl verleugnet. Es gibt nichts Erdhaftes mehr; nur der Raum ist wirklich. Das Märchen löst die Materie der Natur auf, wie der gotische Stil die steinerne Masse seiner Dome, die in einer Fülle von Formen und Linien geisterhaft verschwebt, denen keine Schwere mehr anhaftet, die keine Grenze mehr kennen.

Der mit steigendem Nachdruck auf somatische Vereinzelung gerichtete antike Polytheismus verdeutlicht sich am schärfsten vielleicht in der Haltung »fremden Göttern« gegenüber. Für den antiken Menschen waren die Götter der Ägypter, Phöniker, Germanen, soweit sich mit ihnen eine bildhafte Vorstellung verbinden ließ, ebenfalls wirkliche Götter. Die Rede, daß sie »nicht existieren«, hat innerhalb dieses Weltgefühls keinen Sinn. Der Grieche verehrt sie, wenn er mit ihrem Lande in Berührung kommt. Die Götter sind wie eine Statue, eine Polis, ein euklidischer Körper an den Ort gebunden. Sie sind Wesen der Nähe, nicht des allgemeinen Raumes. So gut Zeus und Apollo zurücktreten, wenn man sich etwa in Babylon aufhält, so gut hat man die dort heimischen Götter nun besonders zu achten. Diese Bedeutung haben die Altäre mit der Aufschrift »Den unbekannten Göttern« –, welcher Paulus in der Apostelgeschichte eine so bezeichnend mißverständliche, magisch-monotheistische Deutung gibt. Es sind die Götter, welche der Grieche dem Namen nach nicht kennt, die aber von den Fremden in den großen Häfen, im Piräus oder in Korinth etwa, verehrt werden und denen er deshalb Achtung zollt. Mit klassischer Deutlichkeit offenbart dies das römische Sakralrecht und die streng bewahrten Anrufungsformeln z.B. der generalis invocatio.38 Da das Universum die Summe der Dinge ist und Götter Dinge sind, so werden auch alle die Götter als solche anerkannt, mit denen der Römer praktisch-historisch noch nicht in Beziehung getreten ist. Er kennt sie nicht oder sie sind die Götter seiner Feinde, aber sie sind Götter, weil das Gegenteil nicht vorstellbar ist. Das ist der Sinn jener sakralen Wendung bei Livius[520] (VIII, 9, 6): di quibus est potestas nostrorum hostiumque. Das römische Volk gesteht, daß der Kreis seiner Götter nur augenblicklich begrenzt ist, und will durch diese Formel am Ende des Gebets, nachdem die eigenen Götter mit Namen aufgezählt sind, den Rechten der andern nicht zu nahe treten. Nach dem Sakralrecht geht mit der Besitzergreifung fremden Landes die ganze Summe religiöser Verpflichtungen, die an diesem Gebiet und dessen Gottheiten haftet, auf die Stadt Rom über –, das ist die logische Konsequenz des additiven antiken Gottgefühls. Daß mit der Anerkennung der Gottheit die der Formen ihres Kultus durchaus nicht gleichbedeutend war, beweist der Fall der Magna Mater von Pessinus, die im zweiten Punischen Kriege auf Grund einer sibyllinischen Weissagung in Rom rezipiert wurde, während ihr höchst unantik gefärbter Kultus – der von miteingewanderten Priestern aus ihrer Heimat ausgeübt wurde – unter strenger polizeilicher Aufsicht stand, und nicht nur römischen Bürgern, sondern selbst deren Sklaven der Eintritt in die Priesterschaft bei Strafe untersagt war. Mit der Aufnahme der Göttin war dem antiken Weltgefühl Genüge getan, mit der persönlichen Ausübung ihres dem Römer verächtlichen Kultus wäre es aber verletzt worden. Das Verhalten des Senats ist in solchen Fällen entscheidend, während das Volk bei der zunehmenden Vermischung mit östlichen Völkerschaften an diesen Kulten Geschmack fand und die römischen Heere der Kaiserzeit infolge ihrer Zusammensetzung sogar einer der wichtigsten Träger des magischen Weltgefühls geworden sind.

Von hier aus wird der Kult vergötterter Menschen als ein notwendiges Element innerhalb dieser religiösen Formenwelt verständlich. Aber man hat scharf zwischen antiken und den oberflächlich ähnlichen orientalischen Erscheinungen zu unterscheiden. Der römische Kaiserkult, d.h. die Verehrung des Genius des lebenden Prinzeps und die der verstorbenen Vorgänger als Divi, ist bisher mit der zeremoniellen Verehrung des Herrschers in vorderasiatischen Reichen, vor allem in Persien,39 und noch mehr mit der späteren ganz[521] anders gemeinten Vergötterung der Kalifen, die schon bei Diokletian und Konstantin in voller Ausbildung erscheint, vermengt worden. In der Tat handelt es sich hier um sehr verschiedene Dinge. Mag im Osten die Verschmelzung dieser symbolischen Formen dreier Kulturen einen hohen Grad erreicht haben, in Rom ist der antike Typus unzweideutig und rein verwirklicht worden. Schon einige Griechen wie Sophokles und Lysander, vor allem Alexander, wurden nicht nur von Schmeichlern als Götter ausgerufen, sondern vom Volkstum in einem ganz bestimmten Sinn als solche empfunden. Von der Göttlichkeit eines Dinges, eines Hains, einer Quelle, endlich einer Statue, die den Gott repräsentiert, bis zu der eines hervorragenden Menschen, der erst Heros und dann Gott wird, ist nur ein Schritt. Man verehrte im einen wie im andern die vollkommene Gestalt, in der die Weltsubstanz, das an sich Nichtgöttliche, sich verwirklicht hatte. Eine Vorstufe war der Konsul am Tage seines Triumphes. Er trug hier die Rüstung des kapitolinischen Jupiter, und in der älteren Zeit waren Gesicht und Arme mit roter Farbe bestrichen, um die Ähnlichkeit mit der Terrakottastatue des Gottes, dessen numen sich in diesem Augenblick in ihm verkörperte, zu erhöhen.

37

Vgl. Bd. I, S. 343 f.

38

Wissowa, Religion und Kultus der Römer (1912), S. 38.

39

In Ägypten hat erst Ptolemäus Philadelphus den Herrscherkult eingeführt. Die Verehrung der Pharaonen hatte eine ganz andre Bedeutung.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 517-522.
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