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[572] Das Wachsein besteht aus Empfinden und Verstehen, deren gemeinsames Wesen eine fortdauernde Orientierung über das Verhältnis zum Makrokosmos ist. Insofern ist Wachsein gleichbedeutend mit »Feststellen«, ob es sich nun um das Tasten eines Infusors oder um menschliches Denken vom höchsten Range handelt. Das sich selbst betastende Wachsein gelangt also zuerst zum Erkenntnisproblem. Was heißt Erkennen? Was heißt Erkenntnis des Erkennens? Und wie verhält sich das, was man ursprünglich damit meinte, zu dem, was man nachher in Worte gefaßt hat? – Wachsein und Schlaf wechseln wie Tag und Nacht mit dem Gang der Gestirne. Das Erkennen wechselt ebenso mit dem Träumen ab. Wie unterscheiden sich beide?

Wachsein, und zwar sowohl empfindendes wie verstehendes, ist aber auch gleichbedeutend mit dem Bestehen von Gegensätzen, etwa zwischen Erkennen und Erkanntem, oder Ding und Eigenschaft, oder Gegenstand und Ereignis. Worin besteht das Wesen dieser Gegensätze? – Hier erscheint als zweites das Kausalproblem. Es werden zwei sinnliche Elemente als Ursache und Wirkung oder zwei geistige als Grund und Folge bezeichnet: das ist die Feststellung eines Macht- und Rangverhältnisses. Wenn das eine da ist, muß das andere auch da sein. Die Zeit bleibt dabei ganz aus dem Spiele. Es handelt sich nicht um Tatsachen des Schicksals, sondern um kausale Wahrheiten, nicht um ein Wann, sondern um eine gesetzliche Abhängigkeit. Dies ist ohne Zweifel die hoffnungsvollste Tätigkeit des Verstehens. Der Mensch verdankt solchen Funden vielleicht seine glücklichsten Augenblicke. Und so geht er von den Gegensätzen, die ihn in unmittelbarer alltäglicher Nähe und Gegenwart berühren, nach beiden Seiten in endlosen Schlußreihen fort zu ersten und letzten Ursachen im Gefüge der Natur, die er Gott und den Sinn der Welt nennt. Er sammelt, ordnet und überblickt sein System, sein[572] Dogma von gesetzlichen Zusammenhängen und findet in ihm eine Zuflucht vor dem Unvorhergesehenen. Wer beweisen kann, fürchtet sich nicht mehr. – Aber worin besteht das Wesen der Kausalität? Liegt sie im Erkennen oder im Erkannten oder in der Einheit von beiden?

Die Welt der Spannungen müßte an sich starr und tot sein, nämlich »ewige Wahrheit«, etwas jenseits aller Zeit, ein reiner Zustand. Die wirkliche Welt des Wachseins ist aber voller Veränderungen. Ein Tier erstaunt darüber nicht, das Denken des Denkers jedoch wird ratlos: Ruhe und Bewegung, Dauer und Änderung, Gewordenes und Werden – bezeichnen diese Gegensätze nicht bereits etwas, das über die Möglichkeit des Verstehens hinausgeht und eben deshalb einen Widersinn enthalten muß? Sind das Tatsachen, die sich nicht mehr in Form von Wahrheiten von der Sinnenwelt abziehen lassen? Da liegt etwas Zeithaftes in der zeitlos erkannten Welt; Spannungen erscheinen als Takt, zur Ausdehnung tritt die Richtung. Alles Fragwürdige des verstehenden Wachseins sammelt sich im letzten und schwersten, im Bewegungsproblem, und an ihm scheitert das freigewordene Denken. Hier verrät es sich, daß das Mikrokosmische heute und immer vom Kosmischen abhängig ist, wie es schon in den Uranfängen jedes neuen Wesens das äußere Keimblatt als die bloße Hülle eines Leibes beweist. Das Leben kann ohne Denken bestehen, das Denken aber ist nur eine Art des Lebens. Das Denken mag sich selbst noch so gewaltige Ziele setzen, in Wirklichkeit bedient sich das Leben des Denkens zu seinem Zwecke und gibt ihm ein lebendiges Ziel ganz unabhängig von der Lösung abstrakter Aufgaben. Für das Denken sind Lösungen von Problemen richtig oder falsch, für das Leben sind sie wertvoll oder wertlos. Wenn das Erkennenwollen am Bewegungsproblem scheitert, so ist die Absicht des Lebens vielleicht eben damit erreicht. Trotzdem und eben deshalb bleibt dieses Problem der Mittelpunkt alles höheren Denkens. Alle Mythologie und alle Naturwissenschaft sind aus dem Staunen über das Geheimnis der Bewegung entstanden.

Das Bewegungsproblem rührt bereits an die Geheimnisse des Daseins, die dem Wachsein fremd sind und deren Druck es sich dennoch[573] nicht entziehen kann. Es ist ein Verstehenwollen des Niezuverstehenden, des Wann und Warum, des Schicksals, des Blutes, alles dessen, was wir in der Tiefe fühlen und ahnen und was wir, zum Sehen geboren, darum auch vor uns im Lichte sehen wollen, um es im eigentlichen Sinne des Wortes zu begreifen, uns seiner durch Tasten zu versichern.

Denn das ist die entscheidende Tatsache, deren sich der Betrachtende nicht bewußt ist: sein ganzes Suchen richtet sich nicht auf das Leben, sondern das Leben-sehen, und nicht auf den Tod, sondern das Sterben-sehen. Wir suchen das Kosmische so zu begreifen, wie es dem Mikrokosmos im Makrokosmos erscheint, als das Leben eines Leibes im Lichtraum, zwischen Geburt und Tod, zwischen Zeugung und Verwesung, und mit jener Unterscheidung von Leib und Seele, die mit innerster Notwendigkeit aus dem Erlebnis des Innerlich-Eigenen als eines Sinnlich-Fremden folgt.

Daß wir nicht nur leben, sondern um das »Leben« wissen, ist das Ergebnis jener Betrachtung unseres leibhaften Wesens im Licht. Aber das Tier kennt nur das Leben, nicht den Tod. Wären wir rein pflanzenhafte Wesen, so würden wir sterben, ohne es je zu bemerken, denn den Tod fühlen und sterben wäre eins. Aber auch Tiere hören den Todesschrei, sie erblicken den Leichnam, sie wittern die Verwesung; sie sehen das Sterben, aber sie verstehen es nicht. Erst mit dem reinen Verstehen, das sich durch die Sprache vom Wachsein des Auges abgelöst hat, taucht für den Menschen der Tod rings in der Lichtwelt als das große Rätsel auf.

Erst von nun an ist Leben die kurze Spanne Zeit zwischen Geburt und Sterben. Erst im Hinblick auf den Tod wird uns die Zeugung zum anderen Geheimnis. Erst jetzt wird die Weltangst des Tieres zur menschlichen Angst vor dem Tode und diese ist es, welche die Liebe zwischen Mann und Weib, das Verhältnis der Mutter zum Sohn, die Reihe der Ahnen bis zu den Enkeln herab und darüber hinaus die Familie, das Volk und zuletzt die Geschichte der Menschen überhaupt als Fragen und Tatsachen des Schicksals von unermeßlicher Tiefe erstehen läßt. An den Tod, den jeder zum Licht geborene Mensch erleiden muß, knüpfen sich die Ideen von Schuld[574] und Strafe, vom Dasein als einer Buße, von einem neuen Leben jenseits der belichteten Welt und von einer Erlösung, die aller Todesangst ein Ende macht. Erst aus der Erkenntnis des Todes stammt das, was wir Menschen im Unterschiede von den Tieren als Weltanschauung besitzen.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 572-575.
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Der Untergang des Abendlandes, II.