2. Staatsdienst und Persönlichkeit

Ein Volk ist das, was man aus ihm macht. Für sich allein ist jedes Volk unfähig die Bedingungen zu erfüllen, welche die Weltlage seit Jahrhunderten stellt, wenn es sich durchsetzen oder auch nur behaupten will. Sein Schicksal hängt aber nicht von Ansichten ab, sondern von Menschen, also nicht von Theorien oder Beschlüssen darüber, wie dies oder jenes sein soll, sondern von Persönlichkeiten, die das tun und tun können, was getan werden muß. Ein leitender Typus ist notwendig, der die schöpferischen Eigenschaften des Volkes im Hinblick auf seine geschichtliche Lage zusammenfaßt und herausbildet. Die englischen Erfolge seit Cromwell beruhen im tiefsten Grunde nicht auf dem Hervortreten ganz großer Staatsmänner – sie sind doch ziemlich selten – sondern darauf, daß seit Zerstörung des old merry England durch den Puritanismus eine dauerhafte Schicht von sehr gleichförmiger Lebensauffassung und weniger glänzenden als praktisch wirksamen Eigenschaften entstanden ist, welche mit den führenden Männern kaum bewußt die Triebe und Ziele teilt. Ohne jene Schicht hätten diese nichts erreicht und mit ihr konnte England auch ohne geniale Führer jahrzehntelang fortbestehen. Der Puritanismus, welcher dem Einzelnen die sittliche Rechtfertigung vor sich selbst zuschiebt und ihm damit das großartige Sicherheitsgefühl gibt, daß das, was er will, das Richtige sein muß, weil Gott ihm sonst diesen Willen nicht eingegeben hätte; die kaufmännische Wirtschaftsgesinnung, welche dem Einzelnen völlig freie Bahn läßt, ihn dafür aber auch nicht stützt, wenn er versagt; endlich und nicht zum wenigsten der Sport, der im Gegensatz zu den unpersönlichen Turnidealen Jahns den Sieg von der[214] persönlichen Energie des Einzelnen abhängig macht, haben einen Menschentypus gezüchtet, dessen Zähigkeit bis jetzt wenigstens jeder Gefahr gewachsen war. In Frankreich ist der das ganze Volk zusammenfassende Typus nicht von Ludwig XIV. oder gar der Revolution, sondern von Napoleon geschaffen worden; der Franzose des 19. Jahrhunderts ist gegenüber dem des ancien régime ein neuer Mensch, und der Anstoß, den er durch das Vorbild des Kaisers erhielt, durch seinen Ehrgeiz und sein Erziehungssystem in Schule und Heer, hat ihn selbst im Weltkrieg noch einmal aufrechterhalten. Züchten in diesem Sinne kann nur ein gewaltiges seelisches Erlebnis oder eine große Persönlichkeit. Wir hatten keinen Typus, der in unserer Geschichte führte und feste Eigenschaften besaß. Es gibt nicht nur eine englische Gesellschaft, sondern auch »den Engländer«, aber es gibt bis jetzt keinen Deutschen, sondern nur Deutsche. Zweimal ist bis heute der Versuch gemacht worden, auf kleinerem Gebiet einen äußerst leistungsfähigen Typus heranzubilden, zuerst in der Schöpfung des preußischen Beamtenstandes durch Friedrich Wilhelm I., dann durch Moltke und seine Schöpfung des preußisch-deutschen Offiziers. Diesen beiden und ihnen allein verdanken wir, daß wir heute überhaupt wissen, worauf es ankommt.

In »Preußentum und Sozialismus« hatte ich gezeigt,1 wie sich an Stelle einer nach reich und arm gegliederten Gesellschaft auf der englischen Insel in der rings gefährdeten norddeutschen Ebene ein nach Befehl und Gehorsam gegliederter Staat entwickeln mußte. Für diesen Staat, ohne den wir als Volk nicht lebensfähig sind, schuf der Soldatenkönig als dessen lebendige Verkörperung »den Preußen«, den es bis dahin nicht gab, zunächst als Stand mit unerschütterlichem Ehr- und Pflichtgefühl, mit Gewissenhaftigkeit und Disziplin, für den selbstlose, harte, gründliche Arbeit selbstverständlich war und Lob nur sparsam erteilt und nie erwartet wurde. Friedrich der Große hat diesen Typus der Welt in einer unerhörten Leistung vorgestellt, aber ihn nicht[215] entwickelt; und in den Befreiungskriegen hatten wir weder einen allgemein deutschen Typus noch erhielten wir ihn. Das wäre der Sinn der Zeit gewesen, aber wir brauchten dazu einen Mann von überragender Größe und Vorbildlichkeit und fanden ihn nicht. Wir hatten Offiziere, aber nicht »den deutschen Offizier«, wie es seit Napoleon einen französischen Offizier gab; Staatsmänner, aber nicht »den Staatsmann« wie in England; Dichter und Denker, die jeder nur sich selbst ähnlich sahen; statt des französischen und des englischen Freiheitsbegriffes einen deutschen, der in jedem Kopfe anders aussah, und eine buntgesprenkelte Masse von Berufs-, Staats- und Lebensidealen.

Trotzdem besitzen wir ein sehr begabtes und bildungsfähiges Menschenmaterial. Wo jemand Zugriff, wie außer Friedrich Wilhelm und Moltke die Kirche in der Ausbildung ihres Priesterstandes oder Bebel bei der Organisation seiner Partei oder auch die Technik in ihren Industrien und Laboratorien, war das Ergebnis jedesmal außerordentlich.

Dann kam das Reich, die persönliche Schöpfung Bismarcks, der selbst eine späte Schöpfung des großen Preußenkönigs war, und stellte die führenden Männer vor die Aufgabe, für diese politisch und wirtschaftlich riesenhaft aufsteigende Weltmacht in ihrer nach allen Seiten gefährdeten Lage und für die zahllosen neuen Probleme den Typus zu finden und zu er ziehen, dem man die Zukunft in die Hände legen konnte. Bismarck und Moltke haben diese Aufgabe erkannt, aber grundsätzlich verschieden behandelt. Das Ergebnis liegt heute vor, und ich zweifle nicht, daß kommende Geschlechter in Moltke den Größeren erkennen werden, weil er weiter sah und weiter wirkte. Er wußte, daß er künftige Kriege nicht erleben werde und schuf deshalb im Großen Generalstab eine sich selbständig fortentwickelnde Tradition der Heereserziehung, die mit strengster Gewissenhaftigkeit jeden einzelnen Offizier nach Charakter, Lebensauffassung und Leistung ausbildete, vom Leutnant bis zu den Typen des Heerführers und des Generalstabschefs hinauf, und die dafür bürgen konnte, daß die Auslese der Begabungen hervorragend[216] blieb und die Methoden und Mittel sich stets auf der Höhe der Zeit hielten. Hier hatten wir einen deutschen Typus, der 1870 angelegt, 1914 voll entwickelt war; und da er der einzige blieb, so hat er das ganze Volk vorbildlich durchdrungen, etwas von seiner Haltung und Weltanschauung unbemerkt jedem einzelnen auf- und eingeprägt, auch der Arbeiterpartei Bebels: es ist das, was das Ausland den deutschen Militarismus nannte.

Bismarck dagegen ließ Regierung und Verwaltung, wie sie waren, und richtete nur sein eignes Amt für seine Arbeitsweise ein. Er hatte wie Napoleon und auch die Führer der heutigen deutschen Industrie das Bedürfnis, im Grunde alles selbst zu tun und sich nur mit Gehilfen zu umgeben, also Taten, nicht Menschen für künftige Taten zu schaffen, während englische Politiker und Industrielle – übrigens auch die Staatsmänner des 17. und 18. Jahrhunderts – sich frühzeitig Junioren als Stellvertreter und Nachfolger erziehen, so daß die Arbeit zuletzt von selbst ihren Weg geht und nur in den Kurven gesteuert werden muß. Bismarck entwickelte die Beamtenschaft nicht – quieta non movere! – sondern vermehrte sie nur, wie er auch die Schule in ihren Grundsätzen und Zielen nicht verändert und vor allem nicht für die politische Erziehung umgeschaffen hat. Es gab einen überragenden Diplomaten – das war er selbst – aber keine diplomatische Schule; es gab Minister, aber sie waren – außer Stephan – Verwalter, nicht Schöpfer; und als er ging, hinterließ er keinen Generalstab, keinen sich selbst fortentwickelnden Organismus, sondern eine führerlose Maschine, wie die Heere Napoleons kopflos waren, wenn er sie nicht selbst führte. Männer wie Krupp, Siemens, Borsig, Ballin, Stinnes hat dieser Riesenbetrieb trotz seiner großen Möglichkeiten nicht erzeugt, oder richtiger gesagt nicht zur Entdeckung kommen lassen. Dieser Beamtentypus, der nun 150 Jahre alt, für ein mittelgroßes Agrarland bestimmt und niemals ernstlich erneuert war, trug schon in Bismarcks Anfängen Züge, welche dem Zeitalter der ersten Dampferlinien und Eisenbahnnetze nicht mehr entsprachen; für das Reich von 1900[217] mit Welthandel, Weltindustrie, Weltverkehr und der wachsenden Macht großer Finanzvermögen begannen seine glänzenden Vorzüge unwirksam und seine Fehler eine wachsende Belastung zu werden. Die Unterschicht leistete nach wie vor hervorragende Arbeit, aber in der Oberschicht, die aus der hanseatischen Kaufmannschaft und der Industrie keine Blutauffrischung erhielt, gab es eine zunehmende Unkenntnis und Unterschätzung der damaligen weltwirtschaftlichen Formen und Mächte, von den weltpolitischen nicht zu reden. Auf den Krieg waren wir nur militärisch vorbereitet. Daß es andre Vorbereitungen gab, hat man nicht einmal geahnt. Die Verwaltung wurde vielfach Selbstzweck; sie versteinerte – das ist die Gefahr des Ordensstaates in friedlichen Zeiten–, sie erzog ein unselbständiges und doktrinäres Führermaterial, dessen Geist nach unten fortwirkte, so daß sie bei Ausbruch der Revolution ruhig fortarbeitete, während in England jeder Angestellte mit sicherem Instinkt sofort gestreikt und den Rätestaat damit außer Gefecht gesetzt hätte; sie ließ die starken Verwaltungstalente – andere Talente kamen nicht zur Entwicklung; sie erstickten oder gingen zur Industrie über – früh alt und förmlich werden, und auch diese kamen auf dem Wege der Anciennität viel zu spät zur Geltung. Und leider kam es endlich so, daß unser Volk vom Typus des Heeres mehr die Vorzüge, von dem der Verwaltung aber die Fehler annahm, weil es von jenem miterzogen wurde, von diesem sozusagen mitversorgt. Die ganz ungeheure Bedeutung der Erziehung des Beamtenstandes liegt in der Tatsache, daß fast ein Sechstel der Bevölkerung irgendwie dazu gehört, daß er allgemein geachtet, beneidet und nachgeahmt wird, so daß seine bewußte Ausbildung der des ganzen Volkes gleichkommt und vielleicht wirksamer ist als die der Schule, weil sie nicht das Wissen und Denken, sondern das Tun und Sichverhalten formt.

Der größte Vorzug dieser Beamtenschaft alten Schlages lag in ihrer sittlichen Größe. In allen Ländern sonst ist Staatsdienst ein Beruf, ein Erwerb wie jeder andre. In Preußen bildet der Beamte seit Friedrich Wilhelm I. einen Stand wie der[218] Offizier und Richter. Seine Ehre ist nicht Berufs- oder bürgerliche sondern Standesehre. Das Ehrgefühl haftet nicht an der Arbeit wie in den alten Zünften, sondern an der Tatsache des Dienstes, des Dienens im germanischen Sinne einer stolzen Unterordnung. Der Beamte verkörpert in sich die Staatshoheit. Daraus ergeben sich stillschweigend seine Pflichten und Rechte, angefangen von der strengen äußeren Haltung und Führung bis in die kleinsten Züge des Gewissens und Privatlebens hinein und endend bei der schweigenden Aufopferung für eine Sache, der das Leben geweiht ist. Das alles war in einem erstaunlichen Maße verwirklicht worden und unterschied sich mit seinem »Dennoch!« in den härtesten Lagen sehr wesentlich vom Typus heutiger Minister, die sich ihre Privatstellung offenhalten lassen, mit einem »Dann eben nicht« im Augenblick der Gefahr. Es ist das Römische im Preußentum und gleicht dem Geist jenes Soldaten, der beim Vesuvausbruch am Stadttor von Pompeji auf seinem Posten starb. So war jedenfalls der Imperativ noch am Ende des vorigen Jahrhunderts. Harter Dienst, karge Bezahlung, sparsame Anerkennung – das hob aus der Masse derer heraus, die zunächst Verdienst und Bequemlichkeit suchten. Die gewissenhafteste Leistung war Regel. Niemand achtete darauf, denn es kam sich selbst nicht zum Bewußtsein.

Wir wollen uns nicht darüber täuschen, daß Revolution und Parlamentarismus auch das vernichtet haben. Seit es Gewerkschaften von Beamten gibt, Parteiminister und den Staat als Versorgungsanstalt für Parteimitglieder, seitdem oft genug nicht die Leistung den Aufstieg bestimmt, sondern der Eifer für eine Partei, fragt man sich nicht mehr wofür, sondern wovon man lebt, und der Dienst wird bequemer, die Aufsicht lässiger und lästiger, die Arbeit mittelmäßig und der Rest des Standes löst sich in einem Nachwuchs von Angestellten auf, der jenes Ethos gar nicht mehr kennt.

Aber ohne eine sittliche Idee ist der deutsche Beamte auch in Zukunft nicht denkbar, wenn er nicht zum bloßen Geldverdiener herabsinken soll. Ohne den Beamten als Stand ist das deutsche Volk nicht denkbar, weder als Rasse noch in[219] seiner gefährlichen Lage. Aus den Bedingungen des 20. Jahrhunderts muß wieder eine Idee des Staatsdienstes entwickelt werden, ein sittliches Standesgefühl, das den Staat in Zukunft zu tragen fähig ist. Wenn man auch weiß, daß ein Mann wie Friedrich Wilhelm oder Moltke dazu gehört, um gewollte Formen lebendig zu machen, Gedanken in Menschen zu verwandeln, so muß doch ein Ziel wenigstens gezeigt werden, und viele müssen es sehen.

Aber dazu hat man die Fehler der alten Form aufzusuchen, die neben den in der ganzen Welt bewunderten Vorzügen vorhanden waren, die sich vielleicht erst spät, aber dann um so folgenschwerer entwickelten. Es war ein Unglück, daß der Staat mit der Prüfung eines Kandidaten tatsächlich die Verpflichtung zu dessen lebenslänglicher Versorgung übernahm. Von da an kamen die Anstellung, das Aufrücken nach der Altersstufe, Gehaltserhöhungen und Titel, alles in genau vorauszusehendem Abstand. Eine Beförderung außer der Reihe, ein Verabschieden ungeeigneter Elemente ohne Zögern wie beim Heere gab es nicht. Es geschah im Gegenteil, daß in der letzten Zeit manchmal die Zahl der Stellen vermehrt wurde, weil die Zahl der »Anwärter« zu groß geworden war. Aber kein Mensch erträgt es, daß ihm mit 25 Jahren der Kampf ums Dasein abgenommen wird. Man muß es gesehen haben, wie sie als Studenten waren, energisch, beweglich, selbständig, den Kopf voller Pläne, und wie sie mit 35 aussahen: ohne Unternehmungsgeist, methodisch, unpersönlich, schwerfällig, an der Form als Form haftend. Gab es einen Beamten, der Sport trieb? In England tun sie es alle, und sie bleiben jung dabei. Ein Sechstel der Bevölkerung vom Kampf ums Dasein befreit! Das hat einen schlimmen Zug deutschen Wesens unterstützt. Der Hang zu sorglosem Schlendern und Träumen jenseits aller Wirklichkeit verwandelte sich in den Trieb zur Staatskrippe, zur Pensionsberechtigung, der ein spießbürgerliches Glück im Winkel außerhalb aller Konflikte des Lebens und der Weltlage möglich machte; und aus diesem Mangel an persönlichem Kampf und echter Sorge wuchs das Micheltum zur Riesengröße, mit seiner Ahnungslosigkeit[220] gegenüber den politischen Gefahren der Vorkriegslage und seiner harmlosen Verwechslung von Politik mit dem Bekritteln der Regierung durch die Zeitung »der« Partei. Aber dazu kam nun eine Ausbildung, die ganz im Gegensatz zum Heere vorher in einer Belastung mit allem möglichen Hochschulwissen, vor allem des römischen Rechts, bestand und nachher im Dienst, wo sie hätte anfangen sollen, tatsächlich sofort aufhörte. Eine frühe persönliche und praktische Kenntnis unserer Schiffahrt, Hüttenwerke, Banken oder des Auslands wurde weder erwartet noch geschätzt, und dennoch wäre sie für alle Zweige der Verwaltung, nicht nur des Verkehrs und der Finanzen, wichtiger gewesen als Jura und Philosophie. Die Weltfremdheit und das Ungeschick gerade der großen Verwaltungskörper den plötzlichen Aufgaben des Krieges gegenüber war unwahrscheinlich groß, und es läßt sich daraus auf den Weltblick des ohne alle Aufklärung gebliebenen mittleren Beamten schließen, etwa im Vergleich mit dem unbefangenen Tatsachenblick ganz ungelehrter aber gescheiter englischer Bankbeamten. Dazu kommt nun das Kollegialsystem des 18. Jahrhunderts, das sich nicht mehr mit modernen Aufgaben verträgt und trotzdem die staatliche Geschäftsführung völlig beherrschte. Es nahm dem Einzelnen zur äußeren Sorge auch die persönliche Verantwortung. Nichts hat mehr auf die innere Unselbständigkeit des Beamten, auf seinen Hang in der Herde mitzulaufen, den Entschluß der andern abzuwarten und sich ihm anzuschließen, eingewirkt als die frühe und zur Regel gewordene Tätigkeit in einer anonymen Mehrzahl, in welcher Urteil, Wille, Entschluß und Haftung des einzelnen verschwand. Auch hier erzog das Heer den Offizier zur frühen Selbständigkeit und Verantwortung. Nicht »die Heeresleitung« gewinnt Schlachten, sondern der General. Jeden Offizier erwartete der Abschied, wenn er sich den Anforderungen nicht persönlich gewachsen zeigte. Aber im Gerichtsverfahren fällte nicht der Richter X. wie in England das Urteil, sondern »der Gerichtshof«. Für große Aufgaben wurde kein Kommissar ernannt, sondern eine Kommission. Entscheidungen gab nicht ein Mann kraft[221] seiner Stellung, sondern die Eisenbahndirektion, das Finanzamt, das Ministerium. Statt rascher Entschlüsse gab es unendliche Sitzungen und Ausschüsse, statt eines Telegramms, das befahl, einen Instanzenweg, statt einer Besprechung von zwei Minuten Verhandlungen über eine gemeinsame Tagung zweier Behörden. Der Mensch verschwand hinter dem Amt. Und so entwickelte sich der Dienst zur Erledigung von Diensteingängen, der Reihe nach, nach festen Regeln; der mechanische Instanzenweg herrschte, die Überverwaltung, das Schema – hier war kein Feld für die freie Persönlichkeit und den schöpferischen Ehrgeiz. Wer nicht als namenloses Glied im Ganzen aufging, war unbequem. Men no measures – das ist germanisch! – war hier ins Gegenteil verkehrt. Noch einmal: die großen Vorzüge des Standes in Ehren, aber diese Fehler sind ihm und uns verhängnisvoll geworden, und heute, wo wir auch hier von vorn anfangen müssen, kann es sich nur darum handeln, die Grundgedanken der Erziehung des Heeres durch Moltke auf den künftigen Staatsdienst zu übertragen.

Für diesen Neubau aber hat sich in aller Stille schon ein neuer deutscher Typus gebildet, der mit dem Sport der letzten Jahrzehnte und dem langsamen geistigen Übergewicht industrieller und kaufmännischer Stellen über die staatlichen aufkam, das Beste, was die Zeit des wirtschaftlichen Aufstiegs nach Bismarck an lebendigem Material hervorgebracht hat. Es hat in den jungen Freiwilligen von 1914 den ersten prachtvollen Ausdruck gefunden. Diese »fixen Jungen«, um eine Bezeichnung zu gebrauchen, sind unsere Zukunft, als Charakter, als angelegter Typus, als Möglichkeit, wenn jemand versteht etwas daraus zu machen. Sehr selbständig, Durchgänger, von praktischem Griff, rasch entschlossen, gern mit Verantwortung beladen und allein auf einen Posten gestellt, zu intelligentem Gehorsam bereit, dessen Zweck sie mit einem Blick übersehen, zur Zusammenarbeit fähig nicht durch das Schema einer Dienstverordnung, sondern durch ein instinktives Gefühl dafür, was jetzt kommen muß, sind sie eine Generation, die etwas verspricht. Man findet sie nicht in philosophischen Seminaren und nicht im Literatur- oder[222] Kunstbetrieb. Weltanschauung ist für sie kein Problem und keine Unterhaltung. Sie sind in Masse an der Front gefallen, aber sie wachsen nach, und für dieses jüngste Deutschland möchte ich wohl ein Bild zeichnen, wie ich mir die Staatsverwaltung mit ihnen und durch sie vorstelle, so wie sie sind, klug, stolz, persönlich und innerlich frei, Träger eines deutschen Ethos aus altgermanischer Zeit, das erst jetzt wieder aufgewacht ist als bestes Erbe aus den Jahren des Reichsaufstieges.

Also keine Versorgungsanstalt, keine Anwärter, kein Recht auf den Staatsdienst außer durch Bewährung, kein Anspruch infolge irgendwelcher gelehrten Vorbildung; auch der Doctor juris soll das Getriebe von unten auf kennen lernen. Daß in den oberen Stellen ein hohes Maß von Bildung, gleichviel woher, vorausgesetzt werden muß, versteht sich von selbst. Eine scharfe Intelligenzprüfung überall am Anfang, nach Bedarf, durch Sachverständige, mehr eine Probe auf praktische Anlagen als Feststellung theoretischer Kenntnisse, dann fünf Jahre Arbeit auf Kündigung wie in der Privatwirtschaft, mit Verabschiedung ungeeigneter Elemente ohne Zögern; dann die »Majorsecke« mit strenger Auslese und Vertrag auf fünf Jahre, dann auf zehn Jahre mit stillschweigender Verlängerung; Pensionsanspruch, und zwar bedeutend bei langer und guter Leistung, aber Übertragen der Angehörigenfürsorge auf die Privatversicherung.

Große und wachsende Forderungen an Charakter, Intelligenz, Arbeitskraft, Entschlossenheit, Auffassungsgabe. Frühzeitig selbständige Ausführung von Sonderaufträgen (Situationsberichte, Ordnung und Ergänzung von Material, rasche Organisation für Ausnahmefälle und Ähnliches) mit Pauschalzulagen zum Grundgehalt. Jeder Einzelne beachtet und in seinen Anlagen entwickelt; fortlaufende ganz persönliche Durchbildung seitens eines Vorgesetzten, durch Beispiel, Kritik, Instruktion; nach freiwilliger Meldung wechselnde persönliche Missionen, Abkommandieren an andere Stellen, um alle Zweige des Betriebes, die kaufmännischen, technischen, juristischen, kennen zu lernen. Statt wiederholter[223] Prüfungen scharfe Proben, etwa selbständige Organisation des Dienstes bei Kongressen oder in Ausnahmelagen, plötzliche Stellvertretung von Vorgesetzten, Hinzuziehen zu Besprechungen, Inspektionsreisen mit Bericht.

Die Züchtung des Beamtenmaterials muß für führende und ausführende Stellen grundverschieden sein. Die Grenze zwischen Ober- und Unterschicht darf nicht wie heute durch Gymnasialbildung hergestellt oder durch automatisches Aufrücken verwischt werden. Es gibt oben ganz andere Aufgaben, andere Eigenschaften, andere Ziele.

Die Eigenschaften der Unterschicht können nicht richtiger bestimmt werden, als sie Friedrich Wilhelm I. bei der Schöpfung seines Beamtenstandes unbewußt empfand. Eine vorbildliche Haltung der Vorgesetzten, vorbildlicher Geist der Ämter; Pflege des Ehrgeizes durch Lob und Tadel, Auszeichnung durch Aufträge, intelligente Disziplin, geistige Selbständigkeit, innerliche Freiheit. Die äußere Haltung ist nicht Nebensache. Wir sind, als Volk, formlos und ohne Manieren; der Staatsdienst sollte hierin über die Ämter hinaus erzieherisch wirken. Sauberkeit, Pünktlichkeit, Strammheit im Dienst. Auf die Dienstuniform sollte man nicht eitel, sondern stolz sein. Sie betont das Standesgefühl, das Selbstverständliche hervorragender Leistungen und gewissenhaftester Pflichterfüllung. Auch Titel sind nicht Nebensache, aber sie sollten sparsam, als Auszeichnung verliehen werden, ein Leben voller Arbeit und Erfolge herausheben. Titel, die jeder ersitzen kann, wie unsere zwölf Dutzend klangvollen Bezeichnungen für den Unterschied der Stühle im Amtszimmer, sind lächerlich. Endlich Auszeichnung durch Studienreisen, schon früh, auch ins Ausland, Entsendung zu Kongressen, zur Unterstützung sehr hoher Chefs. Und zuletzt: Pflege des Sports in der Beamtenschaft, ganz offiziell; frische Luft, Gesundheit, »Schneid«, Stolz auf körperliche Kraft und Geschicklichkeit. Der Aktenstaub auf der Seele muß einmal eine unwahrscheinliche Legende geworden sein. Die Beamtenschaft soll innerlich jung bleiben.

Der Aufbau der Oberleitung sollte so sein, wie es die großen Praktiker stets gemacht haben, Moltke im Heer, die erfolgreichsten[224] Führer in der Privatwirtschaft. Eine dünne, elastische Spitze von äußerster Leistungsfähigkeit. Die hohen Ämter sind bei uns viel zu dicht und schwerfällig aufgebaut; die Hälfte der Beamten müßte bei größter Selbständigkeit das Doppelte leisten. Für die Chefs sollte es keine festen Stellen in einer starren Dienstordnung geben, sondern persönliche Vollmachten von Fall zu Fall. Übergabe des Betriebes mit einem Dispositionsfonds und unbedingter Freiheit in Organisations- und Personalfragen. Bildung eines persönlichen Stabes von Mitarbeitern, beratenden Sachverständigen, Stellvertretern. Kein Aufrücken nach dem Dienstalter. Der jüngste Kassenbote sollte mit einem Sprung zum Privatsekretär eines Generaldirektors aufrücken dürfen, wenn dieser ihm das zutraut und die Verantwortung dafür wagt. Übernahme besonders geeigneter Leute aus Privatbetrieben sollte nicht ausgeschlossen sein. Die großen Begabungen ganz frei schalten lassen mit der Grenze, welche das Taktgefühl für den allgemeinen Gang der Geschäfte zieht! Weitgehende Dezentralisation; Aufteilung der großen Ämter in sehr selbständige Posten mit abgestufter Vollmacht und entsprechender persönlicher Haftung. Nur so entdeckt und züchtet man große Talente. Persönliche Beziehungen und mündliche Verständigung zwischen den Chefs statt Instanzenweg und Aktenverkehr der »Stellen«; überhaupt alles auf große Erfahrung, schnellen persönlichen Entschluß und überlegene Auffassungsgabe bei den ausführenden Organen eingerichtet. Ausbildung einer hohen, durchgeistigten, energischen Tradition des geschäftlichen Verkehrs und mehr noch der Erziehung einer tüchtigen Nachfolgerschaft.

Das Eintreten in diesen höheren Kreis sollte ein Wagnis sein und stets zurückgenommen werden dürfen, aber auch dem geringsten Beamten offenstehen. Kein mechanisches Aufrücken, sondern freiwillige Meldung dafür ohne Rücksicht auf Alter und bisherige Verwendung. Keine feste Hierarchie von hohen Stellen und Titeln. Statt des Titels die Bezeichnung »Beauftragt mit –«, also Abkommandieren für große Aufgaben und zwangloses Zurücktreten in den ursprünglichen Rang, wenn[225] der Versuch mißlingt. Fortlaufendes Grundgehalt nach dem Dienstalter, aber sehr hohe Zulagen für diese Kommandos, nach Höhe und Umfang der Vollmacht und Verantwortlichkeit, und nur für deren Dauer. Jugend sollte niemals ein Einwand sein, im Gegenteil. Wir müssen dahin kommen, daß ein Telegraphenbote in drei Jahren Staatssekretär werden kann und daß Minister von 25 Jahren möglich sind wie Pitt in England und die Bonapartes in Frankreich. Erst wenn jeder junge Mann den Marschallstab im Tornister fühlt und es für geniale Menschen überhaupt keine Hindernisse des Alters, der Stellung und des Tempo der Beförderung mehr gibt, kommen wir zur restlosen Ausschöpfung der Begabungen, die heute in Deutschland unentdeckt bleiben und verloren gehen, weil sie in einem System mit vorzeitig alt und starr gewordenen »Funktionären« unbequem sind.

Das Ziel der Züchtung ist hier eine Schicht von Befehlshabern ersten Ranges. Die Führereigenschaften müssen durch den Gang der Geschäfte und die große persönliche Freiheit entdeckt, entwickelt, bis zur Vollendung herausgebildet werden. Das Standesgefühl ist hier Distanzgefühl, ein hohes Bewußtsein geistiger und geschäftlicher Überlegenheit. Zum Staat, wie wir ihn brauchen, gehört eine Beamtenaristokratie, die heute nicht mehr auf Herkunft, Vorbildung und Titeln, sondern tatsächlich allein auf großen Eigenschaften beruhen darf. Das Bewußtsein davon, der Stolz auf Meisterleistungen, die Regel sind, das Gefühl des Rechts auf Herrschaft durch die Fähigkeit dazu, verpflichtet nun aber zu einer Haltung, welche den inneren Rang im äußeren Leben repräsentiert. Diese Schicht sollte in Deutschland gesellschaftlich – und durch ihr Ethos – führend sein, hochgeachtet, vorbildlich in jedem Sinne. Dazu gehört eine Unabhängigkeit und Weite der Lebensführung, welche durch entsprechende Einkünfte gesichert sein muß. Der subalterne Geist hoher Stellen war bis jetzt auch eine Folge des Mangels an finanzieller Bewegungsfreiheit. Wer 20 Jahre lang gewöhnt ist, Akten mit der Hand zu schreiben, weil er keinen Fonds hat, um jederzeit zu einer mündlichen Besprechung von zwei[226] Minuten zu fahren, der denkt auch so. So hat unsere ganze Verwaltung gedacht.

Aber hier wird die Staatshoheit selbst in ihren höchsten Vertretern mit Glanz umgeben. Ich halte es nicht nur für richtig, an das Ende einer langen und außergewöhnlich erfolgreichen Laufbahn eine Dotation – ein Schloß mit einem Titel – zu setzen, sondern den Führern auch während dieser Laufbahn eine Lebenshaltung zu ermöglichen, welche derjenigen der großen wirtschaftlichen Führer ebenbürtig ist. Das ist, bei der beständigen Fühlung zwischen Verwaltung und Privatwirtschaft, auch auf den Erfolg der Geschäfte von Einfluß.

1

S. 26 ff.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 214-227.
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