3. Die Erziehung – Zucht oder Bildung?

Es kann nicht meine Absicht sein, an dieser Stelle den Entwurf eines künftigen Erziehungswesens vorzulegen. Ich hoffe, das später einmal gründlich tun zu können und dann vielleicht nicht ohne praktischen Anlaß. Ich habe diesen Fragen selbst einige Jahre sehr nahe gestanden und glaube die tiefen Vorzüge und die ebenso großen Schwächen vor allem des Alters in dem damals Bestehenden zu kennen. Da Krieg und Revolution auch hier alles verwüstet und vergiftet haben, die Tradition, den Geist, die Menschen, die Methoden, so erzähle ich in einigen Worten, wie ich mir den Aufbau, den Neubau für spätere Zeiten denke; wie Deutschland sich künftig einmal einrichten muß, wenn es seine jungen Leute anders, sehender, klüger in die Welt senden will, als wir gesandt worden sind.

Was an der alten Schule, vor allem dem humanistischen Gymnasium, bedeutend war, läßt sich in zwei Worten nennen: Wilhelm von Humboldt und Klassizismus. Es steckten große Eigenschaften darin, eine schlichte Frömmigkeit, hohe sittliche Forderungen des einzelnen an sich selbst; eine lange und gewissenhafte formale Schulung, die mit dem Latein anfing[227] und endete. Die Gewöhnung an Pflichten, Fleiß, Wahrheit, Gründlichkeit wurde früh und für immer eingepflanzt. Eine stoische Weltauffassung herrschte, wie man sie bei Cicero las, eine Geringschätzung des Behagens, eine Verachtung kleiner persönlicher Vorteile. Aber diese öffentliche Schule hat doch der Hofmeistererziehung des 18. Jahrhunderts ein Ende gemacht, die, wie groß auch ihre Mängel waren, inmitten der Welt und mit heiterer Kenntnis der Welt, ihrer Lagen und Bedingungen stattfand. Ein grauer Ernst lag seitdem in den Klassen und Gängen, vor dem es nur ein Ausbrechen, bitteren Haß, innere Auflehnung oder dumpfes Sichfügen gab. Die Klosterschule, nicht die Pagenerziehung der Ritterzeit war das Vorbild. Der sittliche Imperativ war durchaus geistlicher, nicht kriegerischer Herkunft.

Und dieser Klassizismus war doch nur ein feiner, blutarmer, bürgerlicher Nachklang der Renaissance, der sich mehr und mehr in pedantischem Ästhetisieren und frostigem Formalismus verlor. Die Welt des Schulmeisters, dieses begeisterten Feldwebels der Grammatik, war die Welt überhaupt. Was draußen vor sich ging, zog den Schüler nur von Horaz und Livius ab. Und dieser Klassizismus war außerdem geschichtsfeindlich durch und durch. Nur zeitlose antike Fragen waren würdig lateinisch behandelt zu werden. Auch bei Cäsar war sein Gebrauch des Akkusativs cum infinitivo wichtiger als die Eroberung Galliens selbst. Kein Zeitereignis leuchtete herein, kein Zeitgedanke, kein großer Zeitgenosse. Nicht Abraham Lincoln, sondern Jugurtha, nicht der Panamakanal, sondern die Via Appia wurden genannt. Alle Bücher waren von Schulmeistern geschrieben, des Lernens wegen. Aus dem Gymnasium stammt die politische Weltfremdheit des 19. Jahrhunderts, die über Plutarch den amerikanischen Bürgerkrieg vergaß und römische Waffen besser kannte als die japanischen Weltmachtziele. Erzogen wurden wir für alles mögliche, für Theologie, Philologie und Philosophie, nur nicht für die Gefahren der Weltlage, die rings um uns her auf der Lauer lagen, denn von ihnen wußte der Lehrer selbst nichts. Und darüber ging der Schule zuletzt der Begriff von dem verloren, was Erziehung[228] sein sollte und was man überall gewußt hat, wo es eine echte Erziehung großen Stils gab: in altrömischen Senatorenfamilien, in höfischen Kreisen der Ritterzeit, im 18. Jahrhundert, in England zu Eton und in Oxford und heute noch in manchen Kreisen Deutschlands, die durch Rang und Beruf der großen Wirklichkeit nahestehen: das Lernen an den Tatsachen und nach dem lebendigen Vorbild, Bildung und Zucht, Kenntnisse und Takt, wissenschaftliche und gesellschaftliche Erfahrung. Die Art sich zu halten, sich öffentlich zu bewegen, zu urteilen, sich auszudrücken – das ist nicht Nebensache. Der echte Erzieher wirkt mehr durch das, was er ist, als was er sagt. Dadurch erzieht von jeher jede gute Gesellschaft. Und niemand hält schließlich auf seine Seele, der nicht auf sein Äußeres hält. Das Auge lernt schneller und tiefer als der bloße Verstand. Und endlich: das Äußere bedeutet doch auch eine Sicherheit des Auftretens in der Welt, von der unser Schicksal abhängt. Der geschulte Blick für Tatsachen, Lagen, Gefahren macht die bloßen Kenntnisse erst wertvoll. Erst Haltung und dann Wissen – aber wir hatten, als Nation, überhaupt keine Zucht und viel zu viel Bildung. Wir wurden vollgestopft mit lebensfremdem Wissen, unermüdlich, zwecklos, ziellos, von Lehrern, die keine andre Aufgabe kannten. Aber das eine ist Gelehrsamkeit, das andere ist Klugheit, Lebenserfahrung, Weltgewandtheit – und wo blieb die?

Der Typus des Lehrers! Den alten, längst veralteten haben wir nicht mehr und den neuen noch nicht. Aber etwas muß da sein, eine vorbildliche Erscheinung, ein Stück bedeutender und überlegener Wirklichkeit, das den Schüler packt und mit sich zieht. Der selige Magister im abgeschabten Rock, den Kopf voller Horazverse, konnte Ehrfurcht einflößen – aber in einer Zeit, als es noch keine Autos und Flugzeuge gab. Es geht viel verloren, wenn man in jungen Jahren seine Erzieher innerlich nicht achten kann, sich ihnen überlegen fühlt, sie auslacht. Aber ein begabter Knabe hungert eben nach der Wirklichkeit seiner eigenen Jahre, und er ahnt wie sie aussieht. Wir brauchen Erzieher, die sich früh in den Kreisen[229] der großen Praxis umgesehen haben und zu Hause fühlen, die aufzutreten wissen, die gesellschaftlich gereift sind, die Welt kennen, Sport treiben, bei denen der Schüler das Gefühl hat, den Tatsachen der Zeit persönlich näher zu kommen. Seminar und Hochschule reichen bei weitem nicht mehr aus, um auf diese Aufgabe vorzubereiten, die durch das Schülermaterial der Zeit, seine in der Zeit liegende Lebensrichtung und die langsam aufwachenden immer neuen Lebensziele und -formen gestellt wird. Es ist nötig und ausreichend, ein Fach bis zur Beherrschung kennen zu lernen – daneben zwei oder drei andere zu kennen –, aber nicht ausschließlich im Hörsaal. Wir müssen den Lehrer von Klosteridealen freimachen, wenn er den Schüler davon befreien soll. Wir dürfen nicht zusehen, wie ein begabter Mensch daran gewöhnt wird, Homerverse zu skandieren, während das Land zusammenbricht. Wer englisch unterrichten will, sollte ein Jahr in einer englischen Firma gearbeitet haben. Da und nicht bei Shakespeare lernt man den Engländer, seine Lebensauffassung und sein politisches Denken kennen. Und das ist doch der Zweck eines ernsthaften englischen Unterrichts: mit der Sprache einen Begriff vom Charakter und der heutigen geschichtlichen Lage dieses Volkes und seines Weltreiches zu erhalten. Das beste Lesebuch sind die Times, auch sprachlich, vorausgesetzt, daß der Lehrer drüben gelernt hat, wie man sie zwischen den Zeilen liest. Die Dichter kann jeder auch zu Hause lesen, und Shakespeare ist zu gut für ein Zerpflücken im Chorus zur Gewinnung von Aufsatzstoffen.

Wer Physik und Chemie lehrt, sollte eine Zeitlang in einem Hüttenwerk gewesen sein, denn die junge Generation muß außer den Formeln auch einen Blick dafür erhalten, wie deutsche Willenskraft und Organisationsgabe aus gelehrten Erkenntnissen eine Industrie aufgebaut haben, ohne welche die Hälfte unseres Volkes nicht leben könnte. Die Namen Borsig, Siemens, Krupp, Ehrhardt sollten zu einem inneren Erlebnis ihrer Arbeit werden. In großen Umrissen müßte die Bedeutung von Schiffbau und Schiffahrt auftauchen, das Zukunftsproblem der Aufschließung der Kohle, die politische Bedeutung[230] des Besitzes von Eisenerzlagern und unsere Erzverluste durch den Versailler Vertrag, der Gedanke von Stinnes, die in der Bearbeitung eines Produkts sich ablösenden Industrien in eine Hand zu legen, um den Weg vom Rohstoff zum Fertigfabrikat so einfach und billig als möglich zu machen, die Bedeutung der intensiven Landwirtschaft als einer chemischen Behandlung des Bodens. Was haben wir von all diesen Dingen gewußt, als der Krieg ausbrach, als er um dieser Dinge willen ausbrach? Denn es geschah aus Neid auf Leistungen, von denen man in der Schule nichts erfuhr.

Und wer Geschichte studiert, auch griechische oder römische, sollte die diplomatischen Akten des letzten Jahrhunderts gründlich kennen und als Sekretär bei einer Gesandtschaft oder einem Generalkonsulat einmal aus der Nähe gefühlt haben, wie Geschichte gemacht wird. Er kann dann seine Schüler lehren, daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als die Schulweisheit unserer Historiker sich träumen ließ. Die Staatsprüfung kann durch eine Diplomprüfung in den einzelnen Fächern ersetzt werden. Das pädagogische Handwerk lernt man doch erst am lebenden Gegenstand, und das Diplom würde den Übergang in einen andern Beruf (Ingenieur, Dolmetscher, Privatsekretär) freihalten, wenn jemand erkennt, daß er sich mit dem ersten vergriffen hat.

Dann der Sinn des höheren Unterrichts selbst! Ist er sich überhaupt noch einer klaren Aufgabe bewußt, wie zur Zeit Humboldts, oder zerfällt er in ein Bündel von Fächern, die als Selbstzweck mit Ressortpatriotismus betrieben werden? Soll er der Hochschule nur ein Stück Vorarbeit abnehmen, oder jenes Halbwissen auf allen Gebieten erzeugen, das man bei uns Bildung nennt? Seit die humanistischen Ideale verblichen sind, fühlt man ein ängstliches Bestreben, den Schüler nichts für sich allein tun, denken oder empfinden zu lassen. Die Arbeitskraft wird völlig für den Unterricht in Anspruch genommen, jeder überhaupt denkbare Gegenstand pädagogisch serviert, bevor der Hunger da ist; alle Bücher sind Schulbücher; alles erlaubte Denken soll erzieherisch geleitet werden. Aber wofür? Ich meine, hier soll die Schicht gezüchtet[231] werden, welche die kommenden deutschen Geschicke trägt und führt, gesellschaftlich, geistig, politisch, wirtschaftlich, und das Ziel sollten danach die Eigenschaften sein, die heute und für uns dafür notwendig sind: Klugheit, Weitblick, Ausdauer, Disziplin und vor allem persönliche Selbständigkeit. Wer heute irgendwie in der europäisch-amerikanischen Welt mitzählt, ist in einem kaum geahnten Grade Autodidakt, der Deutsche mehr noch als andere Menschen. Selbst in der Schule machen wir uns aus dem, was wir hören und sehen, eine stille persönliche Lehre für unseren Bedarf zurecht, vielleicht kaum bewußt; aber eben deshalb sollte der höhere Unterricht den wirklich Begabten mehr anregen, wecken, vor einen weiten Kreis von Möglichkeiten stellen, als in eine feste Form pressen. Aber dazu gehören freie Zeit, offenstehende Bibliotheken, die Erlaubnis, in gewissen Grenzen die Schulstunden und -stoffe auswählen zu dürfen, Studienklubs der Schüler unter sich, vor allem aber das bedeutende Buch, das für uns immer der große Vermittler zur Wirklichkeit gewesen ist, dem besten Lehrer zum Trotz.

Aber was für Bücher sind in den Händen unserer Jugend! Hat sich schon einmal jemand der Psychologie des deutschen Lehrbuchs zugewendet? Die Welt als Lernstoff, die Geschichte als Gedächtnisübung, das Leben in Paragraphen aufgeteilt! Wer hat all diese Bücher geschrieben? Menschen, die den Stoff selbst nur noch aus Büchern kannten. Es gibt nichts Weltfremderes, Engeres, Flacheres als das normale Lehr- und Lernbuch, heute das einzige, das von Amts wegen in Schülerhände kommt. Hier schlage ich vor, daß zu diesen Büchern als Ergänzung umfangreiche Handbücher geschaffen werden, ausschließlich zum Privatgebrauch bestimmt, für Schüler und solche Menschen, die sich selbst erziehen wollen, die man sämtlich in viel höherem Grade als Erwachsene behandeln darf als ein geborner Lehrer es in der Regel vermag. Diese Bücher sollten nicht für den Unterricht verwendet werden. Sie müßten ausgezeichnete Literaturangaben und andere Winke enthalten, um selbständiges Weiterarbeiten in Bibliotheken und anderswo möglich zu machen, und sie müßten[232] von den besten Kennern geschrieben werden, die wir besitzen. Es sollte zur vornehmen Gewohnheit führender Persönlichkeiten werden, auf der Höhe ihres Lebens ihre ganze Erfahrung in einem guten Buch für die Jugend niederzulegen. Ein Staatsmann sollte die Geschichte des letzten Jahrhunderts unter weltpolitischen Gesichtspunkten schreiben, mit Karten, Statistiken und Anführung der Akten. Ein Heerführer sollte die Kriegsgeschichte seit Friedrich dem Großen, ein bedeutender Industrieller oder Kaufmann das Bild der heutigen Weltwirtschaft behandeln, die doch einmal irgendwie das Feld für die meisten dieser Schüler sein wird. Für den englischen Unterricht brauchen wir ein Bild des modernen England und seines Kolonialreichs mit dessen politischer und wirtschaftlicher Struktur (das hätte Carl Peters schreiben müssen), für lateinische und griechische Stunden eine Geschichte der antiken Politik und Kultur (etwa von Eduard Meyer),1 und ebenso eine in die Seele dringende Darstellung der deutschen Dichtung und der bildenden Kunst (vielleicht von Dehio), ein Handbuch der Physik und ihrer Erkenntnisgrundlagen, und ein Handbuch der Technik, vor allem ihrer Anwendungen. Das ist die Welt, in der jeder begabte Deutsche endlich sein eigener Lehrer sein darf.

Drei bis vier Stunden täglich, streng, konzentriert, mit hohen Forderungen – es braucht nicht jeder dabei gewesen zu sein, der es nachher zu etwas bringt –, und einem freien Studientag wöchentlich, als Auszeichnung: damit muß das Notwendige bewältigt werden. Dazu zwei Stunden Sport und den Rest der Zeit für Selbsterziehung, die überall Sache eines richtig gepflegten Ehrgeizes ist. »Alles für alle« ist ein sinnloser Grundsatz, mit dem heute der Mangel eines wirklichen Ziels verdeckt werden soll.

Und nun die einzelnen Gebiete: Religion sollte entweder ehrlich, ernst, stark oder gar nicht zu Worte kommen. Eine Anstalt, die von schlichter Frömmigkeit durchdrungen ist, wie es früher viele gab, ja – aber durch Halbheiten, »dogmenlosen[233] Moralunterricht«, »Weltanschauungslehre« oder wie man den Ersatz von Religion durch das Feuilleton sonst nennen will, sollten junge Menschen nicht zu Literaten erzogen werden.

In den Mittelpunkt würde ich das Latein stellen, auch heute noch. Dem gründlichen Lateinbetrieb seiner Gymnasien während des vorigen Jahrhunderts verdankt Deutschland mehr als es ahnt: seine geistige Disziplin, sein Organisationstalent, seine Technik. Die in langjähriger, täglicher, pedantischer Gewohnheit des Umdenkens in die disziplinierteste Sprache, die es gibt, erworbene Art geistig zu arbeiten ist es, die seitdem als ererbte Tradition in Laboratorien, Werkstätten und Kontoren zur Wirkung gelangte, auch für die, welche ohne diese unmittelbare Schulung in die Tradition beruflich hineinwuchsen. Ich halte dieses Kernstück unserer geistigen Rüstung heute für unentbehrlicher als je. Es ist durch nichts zu ersetzen, auch nicht durch das ganz mechanische Denkverfahren der Mathematik. Es hat uns praktisch vor den Folgen des geistigen Schlenderns der Romantik bewahrt, und es würde uns, wenn es heute preisgegeben würde, von der Höhe realer Leistungen stürzen, die uns das Leben fristet, nachdem wir infolge dieser Leistungen ein Weltvolk geworden sind. Ob jemand ein guter oder schlechter Lateiner ist, darauf kommt es nicht an. Er muß nur Jahre hindurch zum Mitarbeiten gezwungen sein.

Dann Deutsch: es gibt kein zweites Volk, das seine Muttersprache so elend spricht und schreibt. Wir haben niemals eine hohe Schule des deutschen Stils besessen; wir haben kein Werk über die Kunst, gut zu schreiben – Nietzsche hätte es uns geben können, aber wer sonst? –, und die Lehrer des Deutschen verstehen sie in der Regel selbst nicht. Wenn hier etwas besser werden soll, so muß zunächst der deutsche Aufsatz verschwinden, dieser Erzieher zur Schund- und Schmockliteratur, mit der Verlogenheit seines Aufbaus, seiner Redensarten und Satzschlüsse, seiner Behandlung von Dingen, über die weder der Schüler noch der Lehrer – wenn er Verstand besitzt – noch sonst ein Mensch etwas Vernünftiges sagen[234] kann, für den aber die deutsche Literatur immer wieder genotzüchtigt wird, um ein noch nicht ganz verbrauchtes Thema zu liefern. Nein, wenn wir schreiben lernen wollen, ungezwungen, klar, tief, gründlich, so müssen wir uns über etwas ausdrücken, das uns geläufig ist, die einfachsten Kenntnisse der Physik und Mathematik, die Darstellung eines geschichtlichen Ereignisses, die Erklärung geographischer oder wirtschaftlicher Tatsachen, und zwar täglich, als selbstverständliche mühelose Gewohnheit, ohne die inneren Hemmungen einer großen Veranstaltung von mehreren Stunden mit einem Stoß weißen Papiers auf dem Tisch. Keine feierliche Disposition, sondern das zwanglose Hinschreiben in einem Zuge, ohne Nachdenken über Anordnung und Wortwahl, weil man die Sache selbst im Kopfe hat: das ist der Weg zum guten, das heißt selbstverständlichen Stil. Kein Geschwätz über die Charaktere eines Dramas oder einen Moralsatz: ein anständiger Mensch schämt sich, seine Erlebnisse und Gefühle auszubreiten und versteckt sich hinter Phrasen. Der Aufsatz ist stets eine Komödie für den, der ihn schreibt, zuerst vor dem Lehrer, zuletzt vor sich selbst. Aber auch hier ist ein Buch über die Kunst des guten Schreibens nötig, von einem tiefen Kenner, uni trotz Schule und Zeitung, Roman und Feuilleton den Schüler im stillen ahnen zu lassen, worauf es ankommt.

Geschichtsunterricht, oder die politische Erziehung des Volkes durch die Schule: wer hätte früher begriffen, daß beides dasselbe ist? Die Geschichtslehrer vom besten Schlage waren gelehrt, begeistert, Patrioten, aber völlig weltfremd und politisch ahnungslos. Im Grunde waren sie alle Philologen oder Theologen. Wir saßen unter dem einstürzenden Turm und sagten die Schlacht bei Cannä auf, aber vom amerikanischen Bürgerkrieg mit seinen Riesenschlachten wußten unsere Lehrer selbst nichts. Hätten wir ihn gekannt, wir hätten den Eintritt Amerikas in den Weltkrieg anders eingeschätzt. In England und Frankreich hat man die Aufgabe der Schule besser verstanden. Geschichte ist kein Lernstoff und kein Tummelplatz menschenfreundlicher Gefühle. Was[235] wir brauchen, ist eine starke, tägliche, tiefe Erziehung des Nationalbewußtseins, als einer überlegten Haltung, aber mit dem Unterbau einer rücksichtslos auf das Tatsächliche verweisenden Schilderung der neueren Geschichte mit ihren Mächten und Machtzielen, ihren politischen, militärischen, wirtschaftlichen und Propagandamitteln, mit den geographischen Bedingungen von Seehandel und Seekrieg, Rohstoffversorgung und Export; und da ein Lehrer, wenn er kein Genie ist, nicht alles das wissen kann – obwohl er es eigentlich müßte – so bleibt wieder nur das Buch, das Kenner geschrieben und mit allen Mitteln zu eignem Eindringen in die Probleme ausgestattet haben. Zu wissen, daß alle Politik Machtpolitik ist, daß Schwäche Vernichtung bedeutet; zu wissen, daß jeder Einzelne als unentbehrliches Glied seiner Nation leben, denken und handeln muß, mit jedem Atemzuge; und zu wissen, wo und wie die großen Entscheidungen der letzten Jahrzehnte sich vorbereiteten und die künftigen sich vorbereiten werden – das zum vollen Verständnis zu bringen ist es, was ich Geschichtsunterricht nenne, der streng, täglich, jahrelang betrieben werden muß und auch die antike und mittelalterliche Geschichte unter vergleichende und real-politische Gesichtspunkte stellt. Jede Schule sollte, englisch gesprochen, ihre debating clubs haben, in denen die Ereignisse des Tages, Finanzpolitik, Währungsfragen, die möglichen Folgen politischer Spannungen und Verträge durchgesprochen werden.

Dagegen liegt alles andere einfach: Die fremden Sprachen, durch welche man gleichzeitig die Völker begreift, wie sie in der heutigen Wirklichkeit sind, und nicht, wie sie sich in ihrer Dichtung ausnehmen; die Mathematik und Physik, die praktisch und mit dem Horizont ihrer heutigen Anwendung getrieben werden sollen; Botanik und Zoologie, die man dem Privatstudium derer überlassen darf, die sich zu ihm hingezogen fühlen, seitdem die Mode des Darwinismus zu Ende ist; Geographie, die für alle nur insoweit in Betracht kommt, als sie mit der großen Politik und Wirtschaft verbunden ist; Philosophie, die man in Gestalt des logischen und psychologischen[236] Krimskrams der Lehrbücher jedem jungen Menschen fernhalten sollte, damit seine natürliche, unliterarische Philosophie Zeit findet zu wachsen, nämlich als die Sicherheit, auf seinen eignen Beinen frei und stolz in der Welt zu stehen, mit gutem Gewissen, einem unverbildeten Blick für das was ist, und Ehrfurcht vor dem Geheimnis.

Endlich und vor allem aber will ich noch eins fordern, um die Freiheit der Persönlichkeit und die Auslese aller echten Begabungen durch eine praktische Einrichtung zu sichern: Die Trennung der Reifeprüfung von der Schule.

Es gibt in Deutschland, vielleicht mehr als anderswo, eine Menge prachtvoller junger Menschen, klug, von Rasse, ehrlich, stolz, aus allerbestem Holz, die für den methodischen Schulbetrieb nicht geschaffen sind. Sie sind unter dessen Druck zu Tausenden innerlich gebrochen worden, strafweise entlassen, davongelaufen und nach Amerika gegangen oder in dürftigen Berufen verschollen, weil sie sich durch irgendwelche Torheiten gegen den gleichförmigen Zwang aufgelehnt hatten und in unserem Berechtigungssystem keinen zweiten Weg fanden. Sie wurden damit von der Hierarchie der Prüfungen für höhere Berufe ausgeschlossen, während Stubenhocker und Musterknaben sich endlich durch alle hindurchwanden. Aber auf die ersten kommt es an. Von ihnen hat Deutschland mehr in seiner Not als von der braven und blutarmen Mittelmäßigkeit. Das bestehende System schloß Autodidakten aus, schloß auch die vielen aus, die sich in unserer Rasse spät entwickeln, mit 15 Jahren beschränkt und scheu sind und mit 25 plötzlich aufwachen, und schloß endlich die aus, deren Eltern zu arm waren, um jahrelang auf Verdienst verzichten zu können. Wenn denn einmal von Demokratie die Rede sein soll, so muß es hier geschehen. Die Schule möge Führungszeugnisse erteilen, denn sie besitzt ein Urteil über die Ergebnisse ihrer Zucht. Aber der geistige Rang sollte ganz unparteiisch, unabhängig von allen Schulen, durch eine Reichsprüfung ermittelt werden. Zu dieser müßte sich jeder melden dürfen, ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Stellung und Vorbildung. Kein[237] Arbeiter sollte künftig über Bildungsprivilegien der Besitzenden klagen dürfen, denn er kann, eignen ausdauernden Fleiß vorausgesetzt, mit denselben Aussichten an demselben Prüfungstisch erscheinen. Kein Vater brauchte seine Söhne um jeden Preis im Gymnasium zu halten, denn der Weg zur Reifeprüfung würde künftig ohne Zeitgrenze auch über Kontor und Werkstatt führen. Die Prüfung müßte mehrmals jährlich im ganzen Reiche und überall an denselben Tagen stattfinden, etwa in den Rathäusern, mit genau denselben Aufgaben, die durch eine eigene Kommission nach großen Gesichtspunkten sorgfältig ausgearbeitet und gedruckt worden sind. Die Bearbeitung der einzelnen Fragebogen erfolgt an sechs Tagen im Abstand von je einer Woche, je etwa dreistündig und durchaus schriftlich. Sie besteht in je ein oder zwei Darlegungen und der kurzen Beantwortung von Fragen, die mehr ein Können als angelerntes Wissen voraussetzen. Die Aufgaben sind in zahlreiche umfangreiche Gruppen eingeteilt, zur persönlichen Auswahl nach Veranlagung und Absicht des einzelnen innerhalb fester Grenzen, und müssen in einer Mindestzahl richtig behandelt werden. Die Zahl der Prüfungstage und -fragen und deren Vielseitigkeit schalten den Zufall aus. Die Korrektur erfolgt ohne Kenntnis des Namens und Prüfungsortes nach sorgfältig festgelegten Regeln, wofür ältere Studenten und angehende Lehrer hinreichend zur Verfügung stehen. Das Ergebnis, das gleichzeitig die Schulen und Schularten und ebenso die private Ausbildung auf ihre Leistungen hin dauernd und öffentlich prüft, ist ein Diplom mit einem Titel, wie etwa früher der Lizentiat oder Bakkalaureus, also ein Doktortitel geringeren Ranges, der jedem wirklich Fähigen mit einem entsprechenden Aufwand von Fleiß und Arbeit erreichbar ist und der eine ganz objektive Auslese der Begabungen Deutschlands liefern könnte. Das scheint mir der eigentliche Sinn des Wortes Reifeprüfung zu sein.

Zum Schluß hätte ich den Wunsch nach einem deutschen Eton, nach einigen Schulen edelster Zucht von hervorragend begabten Menschen. Warum sollten nicht aus Schulpforta, dem Tübinger Stift, dem Johanneum in Hamburg, den Franckeschen[238] Stiftungen in Halle, dem Kloster Ettal solche Schulen geschaffen werden können, mit großen Anlagen für jede denkbare Art von Studium: ein Aufenthalt in Stille und Freiheit, mit viel Sport und mit den Besuchen berühmter Männer, die sich gern einige Tage dort aufhalten, um die heranwachsende Jugend auf mögliche Aufgaben hin zu prüfen, und die aus hoher Erfahrung heraus mit ihr über das sprechen, was die Welt eines Tages von ihnen fordern wird?

1

Dessen Buch über Cäsars Monarchie jeder kluge Schüler nicht lesen, sondern studieren müßte.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 227-239.
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