2. Das Feuer

[20] Heraklit erwähnt das Feuer in einer Weise, die uns zwingt, es als Sein, als Zustand zu denken; es gibt also selbst für ihn in der Welt der Erscheinungen Zustände – im wesentlichen mit den[20] Aggregatzuständen zusammenfallend –, die in diesem System, wo der Begriff der Substanz abgewiesen wird, eine Erklärung herausfordern. Die Tatsache, daß es in der Natur scheinbar Zustände der Ruhe gibt (aus denen die Annahme von beharrenden Substanzen erst entstand), kann nicht bestritten werden. Heraklit erwähnt sie (θάνατός ἐστιν, ὁκόσα ἐγερθέντες ὁρέομεν. Fr. 21) und schreibt sie dem Trug der Sinne zu. Dem Auge ist es verwehrt, das Werden und Fließen zu sehen (Fr. 54 und 123. Siehe S. 18). Es erscheint dem Menschen unter mehreren typischen Gestalten, Formen der sinnlichen Erscheinung (γῆ, πῦρ, θάλασσα, πρηστήρ; es sind bereits die Elemente des Empedokles), die untereinander wechselnd und von vorübergehendem Dasein sind. Sie haben eine rein subjektive Realität. Man sprach früher von Licht, Wärme, Elektrizität als von Naturkräften. Heute bezeichnet man sie in ähnlicher Absicht als Formen der Energie, indem man stillschweigend annimmt, daß sie als Erscheinungsformen der »Energie an sich«, jener unerkennbaren Ursache des Geschehens gelten sollen. So denkt sich Heraklit das Feuer, das Meer, die Erde und den Sturm – Dinge, die nur scheinbar das Sein und die Dauer haben, die sie dem erkennenden Geist einreden möchten, und die, dem Auge entrückt, nichts mehr sind als ewiges ruheloses Fließen und Werden, eins wie das andere.

Damit ist der Begriff des Feuers gegeben: eine Erscheinungsform des kosmischen Prozesses, aber noch nicht seine Bedeutung. Heraklit zeichnet diese Naturerscheinung, die an sich nichts vor den andern voraus haben sollte, in einer geheimnisvollen Weise aus. Um dieser hohen Bedeutung willen konnte man glauben, hier den Hauptpunkt der ganzen Lehre gefunden zu haben; auch der hierin liegende Gedanke ist vielen Mißverständnissen ausgesetzt gewesen. Die Auffassung des Feuers lediglich als Symbol der Veränderung1 darf als abgetan gelten; eine verdunkelnde[21] Symbolik sacht man bei diesem Philosophen nicht mehr. Aber es ist unverständlich, wie die Vorstellung und Bezeichnung des Feuers als ἀρχή von Aristoteles an üblich sein konnte.2 Ἀρχή ist ein sehr spezieller Begriff, der wegen vieler von ihm nicht trennbarer Annahmen nur in beschränkter Weise angewendet werden kann. Die Jonier haben ihn gebildet; er schließt, wenn man ihn richtig versteht, das ganze System dieser Philosophen ein. Vor allem enthält er den Gedanken der Entwicklung und Rückverwandlung in einen normalen Zustand. Die Frage der Jonier lautete: Woraus sind die Dinge entstanden? Es wird ein Stoff, und zwar ein zeitlich und physikalisch ursprünglicher angenommen (denn ἀρχή bedeutet beides), der bei Anaximander Qualitäten annimmt, während er selbst bleibt. Trotz qualitativer Veränderlichkeit hat die ἀρχή die begrifflichen Merkmale eines Stoffes. Nach Anaximenes entstehen aus der Luft die andern Zustände durch eine räumliche (Volum-) Änderung dieses anfänglichen Stoffes (πύκνωσις, μάνωσισ), eine Ansicht, die derjenigen Demokrits nicht widerspricht. Wie konnte man Heraklit mit diesem Problem in Verbindung bringen! Keiner seiner Aussprüche steht zu dieser Frage in einem Verhältnis. Heraklit kennt keine Substanz, das allein ist entscheidend; er kennt aber auch die Idee der Entwicklung aus einem ursprünglichen und normalen Zustand nicht. Es ist unmöglich, im Zusammenhang seiner Gedanken nach einem Urstoff zu fragen. Sein Problem war: Wie vollzieht sich der kosmische Prozeß? Die angeblichen Zustände und Stoffe sind in Wahrheit die wechselnde Form seiner Erscheinung:πυρὸς τροπαὶ πρῶτον θάλασσα, θαλάσσης δὲ τὸ μὲν ἥμισυ γῆ, τὸ δὲ ἥμισυ πρηστήρ (Fr. 31). Das Feuer gilt also nicht als Stoff, sondern als τροπή (ἀνταμοιβή in Fr. 90). Dieser Begriff ist wertvoll. Τροπή und ἀρχή sind die stärksten Gegensätze, ἀρχή eine Substanz, etwas an sich bestehendes[22] und beharrendes, τροπή eine Metamorphose, eine Form. Als ἀρχή kann immer nur einer der vorhandenen Stoffe angenommen werden, der aus irgendwelchen Gründen zuerst vorhanden ist; die übrigen sind von ihm abhängig. Τροπή ist das Feuer und jede andere Erscheinung gleichmäßig. Man frage sich, ob Anaximander diesen Ausdruck hätte gebrauchen können.

Heraklit stellte das Feuer unter den an sich gleichberechtigten Arten der Erscheinung in den Mittelpunkt. Der Grund dieser Wahl ist in dem weniger wissenschaftlichen als künstlerischen Charakter seines Denkens zu finden. Ihn leitete hier dasselbe Gefühl, welches das Feuer und die Sonne zu allen Zeiten zum Gegenstand religiöser Verehrung gemacht hat. Dieses geheimnisvollste, edelste, reinste aller Naturphänomene erschien dem Menschen einer ferngelegenen Zeit als etwas Heiliges, und Heraklits ehrfürchtige und für das ästhetisch Eindrucksvolle empfängliche Natur entzog sich diesem Eindruck nicht. Er sah hier am reinsten den Charakter des Ruhelosen dargestellt (πῦρ ἀείζωον). Das sagte seiner Neigung für Anschaulichkeit zu. Das Feuer ist die furchtbarste und machtvollste der elementaren Gewalten, welche die Natur wahrhaft beherrscht. Deshalb liebte er es (τὰ δὲ πάντα οἰακίζει κεραυνός Fr. 64. Πάντα γὰρ τὸ πῦρ ἐπελθὸν κρινεῖ καὶ καταλήψεται Fr. 66). Einen wissenschaftlichen Grund der Bevorzugung findet man nicht, und es ist auch nicht wahrscheinlich, daß er sich auf solche Gründe stützen wollte oder konnte. – Die sichtbare Gestalt der kosmischen Bewegung ändert sich unaufhörlich. Das Feuer als eine der möglichen Formen (τροπαί) ist, wenn auch die schönste und vornehmste, so doch nicht eine physikalisch wichtigere oder ursprünglichere, wie es ein Stoff, die ἀρχή sein kann. Es ist eine Erscheinungsform wie jede andere, vergänglich wie jede andere: πυρός τε ἀνταμοιβὴ τὰ πάντα καὶ πῦρ ἁπάντων ὅκωσπερ χρυσοῦ χρήματα καὶ χρημάτων χρυσός Fr. 90). Die τροπαί sind in fortwährender gegenseitiger Ablösung begriffen; es macht dies eine Seite ihres Wesens aus. Heraklit hat ein glückliches Wort für diesen Wechsel gleichwertiger Erscheinungen gefunden: ζῆι πῦρ τὸν ἀέρος θάνατον καὶ ἀὴρ ζῆι τὸν πυρὸς θάνατον, ὕδωρ ζῆι τὸν γῆς θάνατον, γῆ τὸν ὕδατος (Fr. 76). Man wird die Absicht dieses Ausdrucks[23] verstehen: Die augenblickliche Vorherrschaft der einen Form bedingt bereits eine Machtsteigerung der andern, die endlich einen Grad erreicht, der einen Wechsel herbeiführen muß. Dabei gilt das Feuer – wie gesagt, nicht physikalisch, sondern ästhetisch – als die vollkommenste der denkbaren Formen. »Es gibt nach Heraklit eine Wertabstufung in den Elementen, die sich nach ihrem Abstande von dem bewegten und aus sich selbst lebendigen Feuer bestimmt« (E. Rohde, Psyche II S. 146). Der Kosmos, die große Ordnung des Verlaufs alles Weltgeschehens, ist in einem bestimmten Sinne wirklich mit dem Feuer identisch (κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησε, ἀλλ᾽ ἦν αἰεὶ καὶ ἔστι καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα Fr. 30). In Heraklits Meinung ist dem Weltall, der erhabenen Natur, die erhabenste, reinste, edelste Gestalt angemessen und natürlich; der Kosmos ist mithin nur dann im Zustande der Vollkommenheit, wenn das Wenden ausschließlich die Gestalt des Feuers angenommen hat, ein Zustand, der im Lauf der Zeiten regelmäßig wiederkehrt (Fr. 30, 66). Alle andern Gestalten (das Feste, Flüssige, Luftartige) erscheinen im Vergleich zu der Schönheit und Gewalt dieser als minderwertig. (Darauf zielen die Worte χρησμοσύνη und κόρος Fr. 65. Teichmüller [I S. 136 ff.] sieht hier mit Recht eine Andeutung und Abart derjenigen griechischen Idee, die in der Entelechie des Aristoteles, dem Wege vom Potentiellen zum Aktuellen, ausgebildet erscheint.)

1

In diesem Sinne besonders Schleiermacher und Zeller, der meint, Heraklit habe das Symbol von der sinnlichen Form noch nicht trennen können.

2

Simpl. in Arist. Phys. 6 a: Ἵππασος καὶ Ἡρακλ. πῦρ ἐποιήσαντο τὴν ἀρχήν ... Zeller (I S. 541): »der Stoff, in welchem der Grund und das Wesen aller Dinge gesucht wird«. Teichmüller (I S. 135): der Grundstoff »wie die Luft des Anaximenes und das Wasser des Thales«. Pfleiderer (S. 119 ff.): »das sekundäre Konkretum zu den metaphysischen Ideen«. Auch Gomperz, Lassalle, Heinze (Lehre vom Logos S. 4) bezeichnen das Feuer als Stoff.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 20-24.
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