1

[161] Was war Tartessos? Wo lag es und wie lange bestand das, was der Name bezeichnet? Die Frage ist in der letzten Zeit immer[161] wieder gestellt worden und mit Recht. Denn die Erhellung des Dunkels, das darüber liegt, ist noch viel aufschlußreicher als die Fragenden geahnt haben. Daß Tartessos in Spanien lag – schon eine griechische Tradition seit den jonischen Seefahrten ins westliche Mittelmeer –, ist heute mit gleich überzeugenden Gründen bewiesen und bestritten worden. Aber offenbar hat es kein Grieche gesehen. Sie hatten alle nur davon gehört, und man weiß, was griechische Fantasie, namentlich von Seeleuten, aus solchem Hörensagen machen kann.

Aber ebenso ist die Bedeutung des Namens Alaschia nicht gesichert, obwohl jetzt allgemein die Insel Kypros dafür gehalten wird.1 Es ist nie bemerkt worden, daß die beiden Begriffe ursprünglich zusammengehören und ein Paar geographischer Gegensätze bilden. So erscheinen sie noch in der Völkertafel der Genesis.2 Hier steht »Tarschisch und Elissa«, offenbar eine feste Formel im Sprachgebrauch der tyrischen Seeleute, dahinter zwei Plurale, »die Kittim und Rodanim«, also die Bewohner von Kypros und Rhodos, alles zusammen als »Söhne Jawans«, als Jonier bezeichnet. Da sind also Ausdrücke der Seemannssprache, die Fahrtrichtungen bezeichneten, mißverstanden worden. Es ist der kaufmännische Horizont einer Hafenstadt, keine ethnographische Skizze. In genau demselben Sinne sagt die gleichzeitige protzige Inschrift Assarhaddons von Assur3, »daß sich alle Könige in der Mitte des Meeres, von Jadnana (Kypros) und Jawan (hier Kilikien) bis zum Lande Tarsisi seiner Führung unterworfen hätten«. Auch da liegt die Formel Tarschisch und Elissa,[162] die sein Schreiber in Tyrus gehört hatte, zugrunde. Er hat ihre Bedeutung ebensowenig begriffen.

Aber eine ganz unerwartete Einsicht tat sich mir auf, als ich bei Untersuchungen über die frühgriechischen Ansichten vom Tod und dem Leben nach dem Tode bemerkte, daß Tartaros und Elysion, vorantike Worte, ebenfalls ein Paar von Gegensätzen gebildet haben, das zu jenem in sehr nahen Beziehungen stand. Die Wortbedeutung mußte verwandt sein, nicht nur aus derselben Sprache stammend, sondern auch aus dem gleichen Kreise der Weltanschauung.

Die nordischen Herrenstämme, welche die antike Kultur begründeten, haben diese Anschaung verachtet. Sie brachten, soweit sie sich überhaupt um derartiges kümmerten, die ziemlich leere Vorstellung vom Hades mit – eher Begriff als Bild4 –, in dem der Mensch tatenlos und schwächlich hindämmert, wenn das taterfüllte Leben zu Ende ist. Ihnen war nur das wirkliche Leben von Wert. Deshalb ist es bei Homer undeutlich, und war es seinen Helden offenbar auch, was mit Tartaros und Elysion eigentlich gemeint war. Sie gehörten zum Glauben und der Sprache der Unterworfenen, mit denen sich die Herren nicht beschäftigten. Erst als diese Unterschicht in den späteren Städten und ihrer Demokratie wieder zur Geltung kam, entstand die Orphik des 6. Jahrhunderts, das »Dionysische«, in dem die alten Worte und Ideen wieder Leben gewonnen haben. In der Dichtung des Aischylos wird es kaum noch vom Apollinisch-Nordischen gebändigt. Aber in der Ilias sitzt einmal (8, 479 ff.) Japetos, ein Titane, also einer der vorgriechischen Heroen, im äußersten Westen, wohin die Sonne nicht dringt, vom Tartaros umgeben, und hier hat Strabo (III, 2, 12), wie es scheint, Tartessos gelesen oder verstanden. Der nordeurasische Mensch, von den Germanen bis zu den urchinesischen Stämmen am mittleren Hoangho, kümmerte sich nicht viel um das, was aus seiner Person nach dem Tode wurde. Daß mit dem Aufhören des Atems und dem Zerfall des Leibes das Leben – die Seele, das Ich, das individuelle[163] Wesen oder wie man es sonst nennen will – endet, die Willenskraft und die Macht, Taten zu vollbringen, erlischt, war ihm selbstverständlich. Die Vorstellung eines leeren Lebens ohne diese Macht, eine »ewige Seligkeit« also, wäre ihm sinnlos und verächtlich erschienen. Daß der Tote noch eine Zeit lang spuken kann, umgeht5 und Schaden stiftet, ist eine allgemeine Erfahrung ursprünglicher Menschen und ebenso von Tieren wie Hunden und Pferden, deren Art seit Jahrhunderten mit Menschen zusammenlebt, und man sucht ihm irgendwie Ruhe zu verschaffen. Das wirkliche Nachleben des Toten aber besteht in der Nachkommenschaft, in welcher das Blut, also die Seele des Ahnen weiterwirkt, und darüber hinaus im Gedenken der späteren Geschlechter und im Ruhm der vollbrachten Werke. Was man mit falscher Verallgemeinerung Totenkult nennt, ist im Norden ausschließlich Ahnenverehrung, durch Erinnerungsmahle, Gedächtnisfeiern, festliche Spiele, durch Sage und Sang ausgeübt, entweder beim Denkmal, das nicht notwendig am Grabe zu stehen braucht, sondern auch auf dem Besitztum der Sippe oder im Mittelpunkt der Siedlung errichtet werden kann, oder vor dem Ahnenschrein des Hauses wie in China und Rom. Die römischen Familien des nordischen Patriziats pflegten nur das Andenken der parentes, der Erzeuger. Die Gespenster der Verstorbenen, die Lemuren und Larven, hielten sich fern.6 Ebensowenig kannten die Hethiter ein »Leben nach dem Tode« und ein prunkvolles Grab als Totenwohnung,7 und nicht anders die vedischen Arier und die Perser außerhalb der Zarathustratheologie.

Daß neben dem Wunschbild des vornehmen Mannes das des gemeinen stand – lieber ein lebender Hund sein als ein toter Löwe –, versteht sich von selbst. Diese Distanz von hohem und niedrigem Denken gehört zum Dasein einer Herrenrasse. Aber nirgends[164] finden wir den Glauben an ein »Leben« nach dem Tode. Walhall ist wie der Olymp ein poetisches Bild, das die Skalden der Wikingerzeit geschaffen haben, an dem man sich freute, ohne es für wirklich zu halten. Wo bei späten Griechen und Römern, bei Chinesen, Indern und Persern Vorstellungen von einem Totenreich auftauchen, sind sie von außen, vom Süden her durch die Autorität einer überlegenen Mythologie oder Theologie hineingetragen worden wie die Bilder von Paradies und Hölle durch Christenpriester zu den Germanen, ohne doch den gleichen Grad von gläubiger Realität zu erlangen.

Im stärksten Gegensatz zu dieser nordischen Gewißheit vom raschen Verdämmern der gestorbenen Wesen hat sich im Südwesten, von Irland bis Ägypten, seit Jahrtausenden eine Welt von Vorstellungen ausgebildet, die allein um den Gedanken vom wirklichen Weiterleben des Toten kreist. Hier und nur hier hat sich der anschauliche Gegensatz vom »Diesseits« und »Jenseits« entwickelt. Das Leben, nicht als fordernde Aufgabe, nicht als Kampf mit dem Schicksal, wertvoll erst durch die Härte seiner Entscheidungen und seine Erfülltheit mit Taten, sondern als bloße Gegebenheit, die man heiter und lässig genießen will, wird hingenommen so wie es ist, vom Herrn wie vom Sklaven; und das volkstümliche wie das metaphysische Nachdenken heftet sich deshalb an seine Grenzen, mit Freude an den Akt der Zeugung, mit Angst an den des Sterbens, das man nicht als Ende nehmen will. Die Sehnsucht nach Ruhm, Ehre und Größe fehlt. Der Krieg ist nichts als Gefahr, die man durch List oder durch fremde Söldner zu überwinden sucht. Die Süße des Lebens, vor allem auch des Geschlechtslebens, füllt die Fantasie mit Bildern, aber weit darüber erhebt sich das beständige Denken an das Leben nach dem Tode, wodurch das diesseitige Leben verewigt wird. Darauf richtet sich nun alle tiefere Furcht und Hoffnung von den Enttäuschungen des Diesseits fort. Das letztere erscheint mehr und mehr als eine sorgsame Vorbereitung. Es dient durch Beschwörung, durch Opfer, Askese und frommen Lebenswandel, vor allem durch Errichtung der künftigen Grabwohnung und testamentarische Sicherstellung der Mittel für die Totenpflege dem einen großen Ziel der Überwindung des Sterbens.[165] Das ist seit der Zeit der Megalithgräber, die von Irland und der Bretagne über Spanien bis zu den Pyramiden eine Einheit der Idee bilden, so geblieben und hat schon zu Beginn des dritten Jahrtausends die große Theologie der ägyptischen Hochkultur geschaffen, bis die katholische Kirche noch einmal das ganze Gebiet in dieser Weltanschauung gewaltig zusammenfaßte und zum zweitenmal in der Gotik die Theologie einer Hochkultur über dasselbe Thema schuf. Deshab sind diese beiden gedanklichen Systeme innerlich so tief verwandt, und deshalb lehnt sich in der Reformation das Weltgefühl des Nordens dagegen auf.

Hier liegt der Ursprung des monumentalen Steinbaus, als Grabbau entstanden, der in seiner mühevollen Arbeit und seinem gewaltigen Aufwand ein Opfer war und ein Anrecht auf das schönere Jenseits sicherstellte. Hier entstanden die Göttertypen der Muttergöttin – von Isis und Tanit und der iberischen Gottheit von Elche bis zu den katholischen Madonnen an uralten heidnischen Kultstätten – und des richtenden, lohnenden und strafenden Herrschers der Toten, als welcher »Krist« noch den Nordgermanen erschien. Und hier bildete sich endlich die Anschauung vom Totenland selbst aus, in das der Verstorbene leibhaft8 für immer einzieht.

Hier aber hat sich, seit wann wissen wir nicht, eine allzumenschliche Spaltung vollzogen: man glaubt, ohne sich immer klar darüber zu sein, an zwei Totenländer – das eine wünscht man sich, das andere seinen Feinden. Ursprünglich liegt jede moralisierende Deutung dieses Gegensatzes außerhalb des Denkens dieser nicht sehr denkfreudigen Völker. Beide Welten sind einfach da, und man muß versuchen, durch Anhäufung von Verdienst, durch Beschwörung oder Überlistung der Mächte in die schönere zu gelangen und seine Gegner in die andere zu senden. Die wollüstig-schöpferische Fantasie der Rache, die man im Leben nicht wagte, kommt in den Bildern der Hölle zu ihrem Recht. Später erst mischen sich dogmatische Begriffe von Schuld und Sühne, Lohn und Strafe, Erlösung und Verdammnis hinein, schon bei der Priesterschaft von Heliopolis im Beginn des dritten[166] Jahrtausends, aber die Bilder von Paradies und Hölle entstammen einem viel urwüchsigeren Weltgefühl und sind damals im Keime längst vorhanden.

Hier, im Ägypten des Alten Reiches, bildete sich eine Masse unklar durchdachter, widerspruchsvoller9 Vorstellungen vom Totenland im Westen aus, dort wo die Tagessonne versinkt, um den Nachtweg nach Osten anzutreten.10 Im Gegensatz dazu versucht die Theologie von Heliopolis die Lehre von einem Reich der Seligen im Osten, der Region der Morgensonne (Re Harachte), durchzusetzen, und dazu kommt die dogmatische Umdeutung des westlichen Horizonts in eine Unterwelt, das Jenseitsland der Dat.11 Herrschend und volkstümlich blieb aber immer die Vorstellung von dem Toten als »dem Westlichen«, und die Fahrt auf der Totenbarke ging stets »gen Abend«. Osiris, der alte Sagenkönig von Busiris im östlichen Delta, entwickelte sich zur Gestalt des leidenden Herrschergottes – wie Jesus – und weiter zum Totenrichter. Vor allem aber werden neben Schilderungen der osirianischen Gefilde der Seligen die Ausgeburten einer Höllenangst literarisch zur Schilderung des Weges ins Jenseits verwertet, wie sie in der Textsammlung vorliegen, die als »Zweiwegebuch« bekannt ist.12 Da finden sich fantastische Hindernisse. Torwächter und drohende Ungeheuer, der Feuersee u.ä., was nur der Bewährte in schwerer Prüfung überwinden kann, bis er zum »Opfergefilde« zu Osiris gelangt, das dann doch wieder eine Morgenstimmung des östlichen Horizontes hat. Die Bilder einer dreiteiligen Hölle sind bis auf Dante herab maßgebend geblieben, kaum durch literarische Tradition, sondern durch das bleibende Weltgefühl der westlichen Rassen, das immer wieder zum Ausdruck in den gleichen Bildern strebte.

Solche Anschauungen müssen infolge der Überlegenheit der ägyptischen Zivilisation seit der 18. Dynastie weithin bekannt und[167] angestaunt worden sein. Sie sind noch spät von griechischen Orphikern, phönikischen und etruskischen Priestern und von Völkern ringsum, von denen wir gar nichts mehr wissen, übernommen und noch durch die Vermittlung ägyptischer Geheimlehren der römischen Kaiserzeit im spätantiken Synkretismus, der jüdisch-christlichen Apokalyptik und dem frühen Christentum selbst verwertet worden.

Vor allem aber muß die blutsverwandte Oberschicht des minoischen Kreta ähnlich gedacht haben, und sicherlich stammen die Jenseitsvorstellungen von Etrurien bis Kypros zum großen Teil von ihr.

Deshalb glaube ich, daß man die »minoische« Religion heute wesentlich falsch sieht. Man urteilt zu sehr von der frühgriechischen Religion statt der »vorgriechischen« Orphik und von Kleinfunden kultischer Art aus, die doch zum großen Teil, z.B. in den Kulthöhlen der Berge, der sehr viel älteren bäuerlichen Bevölkerung Kretas angehören. Es ist hier aber von der Weltanschauung der seefahrenden Herrenschicht die Rede, die jünger ist und nicht in den Gebirgsdörfern saß.

Die innere Verwandtschaft der minoischen Weltanschauung weist nicht nach Hellas und dem Norden,13 sondern nach Süden, nach Afrika, vielleicht nach den Küsten des westlichen Mittelmeers. Nicht als ob sie von Ägypten durchaus abhängig gewesen wäre; dazu war ihre Eigenart zu stark. Aber die geistige Richtung war dieselbe, und das mag zu Reisen minoischer Priester nach Ägypten und ägyptischer nach Kreta,14 zur Bekanntschaft mit hieroglyphischen Texten und gelegentlich zur Nachahmung hochentwickelter Riten geführt haben. Knossos kann sehr wohl ein theologischer Mittelpunkt wie Heliopolis gewesen sein.15 Und selbst wenn man dort die grundlegenden Ideen mehr erlebte als[168] systematisch durchdachte, muß das Ergebnis ähnlich gewesen sein.

Nach meiner Überzeugung stand neben und über dem Denken, das sich an das Geheimnis von Zeugung und Geburt knüpfte, der sehr starke Glaube an ein Totenreich. Die Totenrichter Minos und Rhadamanthys sind dem Osiris wesensverwandt. Die Totengöttin Phere-phassa16 hat irgendwie den gleichen Wortstamm im Namen wie die Geburtsgöttin A-phro(por)-dite, kretisch-pamphylisch Aphreia. Und wer saß denn auf dem »Thron des Minos« in dem kleinen Raum, den Evans ganz unpassend Thronsaal getauft hat?17 Die Sitzfläche des Throns macht den Eindruck, als ob dort ein Kultbild, vielleicht auch eine Priestermumie gesessen habe. War das »Minos«? Was wissen wir denn von den dunklen Bräuchen dieses Ortes? Man hat im Schutt rings um den Thron zahlreiche Splitter von Gold, Kristall und Lapislazuli gefunden, wie sie bei der Zertrümmerung eines kostbaren Gegenstandes liegen bleiben. Wenn es aber ein Bildnis der Totengottheit oder etwa eine Mumie mit Tiermaske war, mit den beiden fantastischen Greifen auf den Wandfresken zur Seite, dann glich das sehr dem Geisterthron des Zweiwegebuchs18 mit der Rücklehne in Gestalt einer sich bäumenden »Schlange«, auf dem ein tierköpfiger Gott saß, »der Sitz des Verklärten, der niemals sterben wird. Es gibt keinen Gott, der seinen Anfang kennt«.

Waren die rätselhaften »horns of consecration«, die überall als Symbole angebracht sind, vereinfachte Darstellungen der Totenbarke, die auf dem Sargboden aus Kairo19 ganz ähnlich gezeichnet ist? Auf dem Sarkophag aus Hagia Triada hält der Priester ein Totenschiff ägyptischen Stils in der Hand. Waren die »Paläste« von Knossos und Phaistos Totentempel, Heiligtümer eines[169] gewaltigen Jenseitskultes? Ich will nichts behaupten, denn ich kann es nicht beweisen, aber die Frage scheint mir ernster Beachtung wert.

Diese großen Bauten, in denen eine Priesterschaft waltete, vielleicht wohnte, und sicher nicht ein König in gewöhnlichem Sinne, standen unter dem Gottesfrieden, was der Mangel jeden Schutzes beweist.20 Waren die bekannten »Stierspiele« Opferfeste, Menschenopfer, wie die spätere Sage vom Tribut der Jünglinge und Jungfrauen anzudeuten scheint, zu Ehren des Totengottes oder des Toten selbst? Es schwebt ein düsteres Geheimnis um die Gestalten der Minossage, in das wir nicht mehr eindringen können.

Was bedeutet das seltsame Kostüm der Mädchen, Priesterinnen, das sicher nicht »kretische Mode« war? Waren das Hierodulen? Und woher stammen die nichtgriechischen Namen der griechischen Flüsse des Jenseitslandes wie Styx und Acheron,21 und Name und Gestalt des hundsköpfigen, dem Anubis ähnlichen Torwächters Kerberos? Wir müssen gestehen, daß wir von minoischen Anschauungen viel weniger wissen, als wir heute zu wissen glauben.

So viel aber ist sicher, daß Tartaros und Elysion dem Kreis der kultischen Namen angehören, die der herrschenden Sprache der minoischen Welt entstammen, und sie beweisen, daß zu dieser Religion die Vorstellung von zwei Totenreichen gehörte, das Gefilde der Seligen, in dem ein ewig sonniger Morgen herrscht, und der dunkle Abgrund der Verdammten im fernen Westen, wo die Sonne versinkt. In solchen Zeiten ist das Metaphysische[170] physische noch erlebt und geschaut und erst danach, so gut es ging, begrifflich festgelegt. Da mischen sich die Bilder von Tag und Nacht, Morgen und Abend, Geburt und Tod, Wachen und Schlaf, und eins tritt für das andere ein, wie wir heute noch statt Westen Abend sagen.

Der Wortkern von Tartaros und Tartessos kommt in der griechischen Religion nicht weiter vor, wenn man nicht den Apollon Tarsios einer Inschrift attischer Seeleute22 dahin zählen will, dessen Name vielleicht dem des Apollon Alasiotes von Tamassos auf Kypros gleichartig ist. Aber es ist längst bemerkt worden, daß das Wort Elysion mit dem Namen der berühmten Stätte eines uralten Geburtsmysteriums Eleusis, und mit dem der vorgriechischen Geburtsgöttin Eileithyia23 verwandt ist. Die Erhaltung gerade dieses Namensstammes mag damit zusammenhängen, daß das Gebiet der frühantiken Kultursprachen, vor allem des Griechischen seit 1100, den Bereich von »Elissa« umfaßte, während Tarschisch außerhalb lag.

Und so ergibt sich als Grundbedeutung dieses Wortstammes etwas, das durch Geburt, Morgenfrühe, Sonnenaufgang, Licht, Osten zu umschreiben ist, was für Tarschisch-Tartaros den Sinn von Tod, Abend, Dunkel, Westen ergibt.

1

W.M. Müller (Asien und Europa S. 261 f.), H.R. Hall (J. of Manch. Eg. and Or. Soc. 1912/13 S. 33 ff.), Wainwright (Klio 14 S. 1 ff.) u.a. haben das bestritten. Der letztere sucht es an der nordsyrischen Küste, Baudissin u.a. Theologen halten Karthago dafür.

2

Die Liste der Nachkommen Japhets (1. Mos. 10, 2 ff.), aus P, nicht aus J erhalten, setzt die Lage des 7. Jahrhunderts voraus. Die Kimmerier und Skythen sind noch, die Perser noch nicht genannt. Der Verfasser, ein Binnenländer, hat sein ganzes Wissen, meist bloße Namen, die offenbar zum großen Teil von tyrischen Kaufleuten stammten, darin untergebracht, vielfach ohne deren Bedeutung zu kennen. Teilweise hat er sie sogar falsch gehört oder geschrieben wie Magog und Riphat, so daß man nicht mehr feststellen kann, was gemeint war.

3

Meißner, DLZ 1917, 410.

4

Der ähnliche germanische Begriff Hel ist wahrscheinlich überhaupt erst unter spätantiken oder gar christlichen Eindrücken und Lehren entstanden.

5

Wotan, der an der Spitze der Toten nachts durch die Lüfte stürmt – das »wütende« Heer ist Wotans Heer –, ist ursprünglich nichts als die dämonische Macht der Zwietracht unter Menschen, persönlich als der große Verderber gefaßt, der unbedenkliche Erreger von Zank und Streit, der sich an der Masse der Gefallenen freut. Erst später ist er dichterisch zum Schlachtengott geadelt worden.

6

Wissowa, Religion der Römer S. 238 ff.

7

A. Götze, Kleinasien (Kulturgesch. d. alt. Or. 1933) S. 160.

8

Auferstehung des Fleisches, ἐκ σαρκῶν, sagt die christliche Glaubensformel.

9

Auch die katholische Dogmatik hat den Widerspruch zwischen der allgemeinen Auferstehung des Fleisches am Jüngsten Tage, der geistigen Unsterblichkeit der Seele und dem sofortigen Eingang des einzelnen in Fegefeuer, Hölle oder Paradies nicht zu überwinden vermocht.

10

Zum folgenden Kees, Totenglauben und Jenseitsvorstellungen der alten Ägypter (1926).

11

Kees S. 91 ff.

12

Ebendort S. 427 ff.

13

Was kleinasiatisch wirkt, die Doppelaxt z.B., ist vor der minoischen Glanzzeit, was nordisch anmutet, nach ihr, seit 1400 eingedrungen. Man beachtet die Möglichkeit seelicher Schichten zu wenig.

14

Wenn die Statue eines ägyptischen Beamten aus ägyptischem Stein in Knossos gefunden worden ist, so setzt das voraus, daß der Mann in amtlicher Eigenschaft und lange hier geweilt hat.

15

Noch die Griechen bezogen Weissage- und Mysterienpriester mit Vorliebe aus Kreta.

16

Pere-phoneia usw. (Wilamowitz, Glaube der Hellenen, I S. 108 f.). Die Form Persephone ist wohl erst durch den Anklang an den mykenischen Heros Perseus entstanden, der übrigens auch Πεῤῥευς geschrieben wurde.

17

Unter dem Eindruck der griechischen Vorstellung vom König Minos. Aber wen hätte der griechische Mythus nicht auch einmal als König geschildert?

18

Kees S. 446.

19

Ebenda S. 426.

20

Es ist falsch gedacht, daß die Stärke der Seemacht die Befestigung erspart habe. Gerade in Zeiten der höchsten Blüte sind ja die Bauten zweimal gründlich zerstört worden. Aber weder das Didymeion, noch der Tempel von Paphos, noch die von Delphi und Olympia waren festungsartig ummauert. Sie waren »heilig«, tabu, die Gottheit selbst schützte sie. Das genügte dem frommen Sinn, wenn es auch in der Welt der Tatsachen nicht genügt hat. Und wenn man in diesen Bauten die Kulträume vermißt hat, kam das vielleicht daher, daß der ganze Bau eine ungeheure Kultanlage mit Prozessionsweg im Innern und Adyton war?

21

Bei dem man früher ägyptische Herkunft und die Bedeutung »Fluß des Westens« vermutet hat.

22

CIA 236.

23

Auf Kreta Eleutho. Es gibt noch viele andere Formen des Namens, darunter zahlreiche Beinamen der Demeter. Die Kultstätte der Eileithyia in Eleusis hieß Elysion.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 161-171.
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