3

[179] Das ausgezeichnete Buch von Köster: »Das antike Seewesen« (1923), das erste, in dem ein Seemann statt des Philologen über die Schiffahrt im Mittelmeer redet, besitzt nur einen, aber einen grundlegenden Fehler: es geht von der ägyptischen Seefahrt aus, obwohl gerade diese ihrem Wesen nach nur eine bis Byblos verlängerte Nilfahrt darstellt, mit Schiffen, die dem Typus nach verbesserte Flußfahrzeuge sind. Am Seeverkehr nach Kreta und den Küsten der großen westlichen Schranke Tunis-Sizilien-Unteritalien und darüber hinaus waren Ägypter offenbar nicht beteiligt. Deshalb das Schweigen der Inschriften darüber, was nicht gegen sein Vorhandensein spricht, sondern nur beweist, daß er in anderen Händen lag. Der ägyptische Seeverkehr ist eine Sondererscheinung dieser Kultur. Die Hochseeschiffahrt ist viel älter und sie ist anderswo entstanden. Ihr Ursprung liegt im 5. und 4. Jahrtausend an der Atlantischen Küste von Irland bis Südspanien und Marokko und vielleicht bis zu den Kanarischen Inseln.1 Über ihre Art wissen wir nichts, aber ihr Dasein wird durch die steinzeitlichen Funde bewiesen, die enge Beziehungen zwischen Portugal, Nordwestspanien, der Bretagne, Irland und England verraten.2 Demgegenüber ist die Seefahrt im westlichen Mittelmeer etwas jünger, und weiter östlich ist sie »sehr jung«, nämlich älter als das dritte Jahrtausend.

Die Idee der Seefahrt liegt, um es anschaulich auszudrücken, im Übergang vom Kahn (Floß, Einbaum, Boot) zum »Schiff«. Mit einem Kahn, der von wenigen Leuten besetzt ist, bewegt man sich auf Flüssen oder in Buchten, bei stillem Wetter, vor allem des Fischfangs wegen. Das Schiff hat eine Mannschaft und soll Sturm und hohen Seegang überstehen. Ein Kahn setzt über, ein Schiff fährt Tage und Nächte lang. Es ist aus jenem entstanden,[179] aber die Idee des Fahrens ist anders. Nicht ein Fortbewegen längs des Ufers, sondern die Befreiung vom Lande und seinem Schutz – wenn man es anfangs auch in Sehweite behält und jederzeit wieder erreichen kann – bildet den seelischen Sinn des neuen Unternehmens, mit dem der Mensch zum ersten Male sich von der Mutter Erde löst und zum Element des Meeres in ein lebendiges Verhältnis tritt.

In diesem Jahrtausend hat die frühgeschichtliche Westkultur drei Dinge als Ausdruck ihres Lebensgefühls geschaffen, die sich seitdem – als praktisch-technische Erfahrung – über den ganzen Erdball verbreitet haben: den Steinbau, schwer, dauernd, mühevoll, als Überwindung der Ferne der Zeit und damit als Symbol der Überwindung des Sterbens durch das Leben im Totenreich; den Bogen als früheste Fernwaffe, die den Gegner durch Überwindung des Raumes angreift und ihn sich damit vom Leibe hält; endlich das Seeschiff, das den Horizont überwindet und die Ferne erreicht, die dem Leben Beute und schönere Bedingungen verspricht. Gerade der Bau eines seetüchtigen Schiff es ist ein technisches Unternehmen von solcher geistigen Energie und Schöpferkraft, daß auf der ganzen Erde damals nichts Gleichartiges entstanden ist.3

Alle drei sind letzten Endes, so paradox es klingt, aus dem Willen zum Behagen und der Angst vor dessen Störung geboren. Die Ferne wird erlebt, aber nur als Vorteil oder Hindernis, praktisch, nicht ethisch. Es fehlt die nordische Sehnsucht nach den Fernen von Zeit und Raum, die die Welt als zweites Ich, als zugehörige Weltseele erleben läßt, »pantheistisch«, als Unendlichkeit, in der man aufgehen will. Der Mensch des alten Westens entwickelt einen Bienenfleiß, verbunden mit Genügsamkeit, um nachher ruhen und die Ruhe des Lebens genießen zu können. Nicht die Idee der Tat, die siegreiche Überwindung von Gefahren, nicht der Stolz auf die vollbrachte Leistung, nicht der nachdauernde Ruhm ist es, was ihn treibt. Ihm fehlt das »exegi monumentum aere perennius«. Der Pharao der 4. Dynastie ist nicht stolz auf den Riesenbau seiner Pyramide, sondern froh, daß er sein Leben im Jenseits so gut gesichert hat.[180]

Trotz der Hochseefahrt, die angesichts der Gebrechlichkeit der frühen Mittel eine gewaltige Leistung war und Todesmut voraussetzt, fehlt der Ehrgeiz des Entdeckers, das Triumphgefühl, der erste gewesen zu sein, der Wille, das Geheimnis der Ferne zu entschleiern. Alles ist praktisch und nüchtern; es haftet am Boden. Es will sich nicht mit Riesenflügeln über die Bestimmung der Erdgeborenen hinaus zu den höchsten Gipfeln des Denkens erheben. Die Hybris, das Siegergefühl der ganzen Welt gegenüber, der Kampf mit dem Schicksal aus Trotz, aus ungeheurem Selbstbewußtsein, ist unbekannt. Es gibt nichts dergleichen in der ägyptischen Religion und Sage, und die katholische hat es als Sünde verdammt.

Sie erfanden den Bogen, aber sie wurden keine Krieger mit dem Bewußtsein, daß persönliche Tapferkeit die erste aller Tugenden sei. Er ist eine hinterlistige Waffe, die aus dem Versteck wirkt. Sie erspart es, dem Gegner ins Auge zu sehen. Später in Asien wurde das anders, aber das älteste Bild des Kampfes, das wir überhaupt besitzen, ist eine spanische Höhlenzeichnung, auf welcher Bogenschützen, jeder hinter einem Baum, einander belauern. Erst die antiken Völker haben Ares und Mars, und die nordischen den heiligen Georg und Michael vorübergehend hierher gebracht. Und deshalb fehlt dem Baugedanken die Tendenz der Vertikale: Kuppelgräber, die in die Erde sinken, Säulenhallen, die auf ihr lasten, kein aufragendes Dach, kein leicht in den Himmel steigender Turm. Auch die Pyramiden sind nur als Masse, nicht als Erhebung so gewaltig. Ihre Höhe ist gleichsam zufällig, nicht betont.

Trotzdem ist aus der Tatsache des Seefahrens wie überall eine neue Art des Menschenlebens entstanden, ein stolzeres, herrenhafteres Seelentum, neue »Rassen« von innen heraus, die zuletzt als Seefahrervölker sich vom erdgebundenen, der Erde durch schwere Arbeit dienenden Bauerntum durch Verachtung lösen, wie sich auf der andern Seite die viehhaltenden Nomadenstämme, freie Beduinen der Steppe und Wüste, seelisch darüber erhoben haben. Die Nomaden der Ebene und des Meeres sind seelenverwandt.

Der Sinn dieser Seefahrt war damals der gleiche, der er immer geblieben ist: das selbstherrliche Umherschweifen, das Wandern[181] auf den »feuchten Pfaden des ruhelosen Meeres« nach einem schöneren und reicheren Leben ohne sklavische Arbeit, die Wahl der Heimat, die für den Bauern die wahllos ererbte Scholle bleibt und die hier durch die freie Bewegung und den freien, größeren Horizont des Lebens erst gesucht und gefunden wird, bis zuletzt das Schiff, das Meer selbst zur Heimat wird. Hier meldet sich aus Urzuständen der menschlichen Seele die Tatsache, daß der Mensch von Natur ein schweifendes Raubtier war, ehe er sich in seiner eigenen Kultur verfing, wo jede neue Ausdrucksform des Lebens eine neue Fessel wurde. Die Weltgeschichte ist von beweglichen Stämmen, nicht vom seßhaften Bauerntum, sondern gegen dieses gemacht worden. Die freie Ebene und das freie Meer haben die Schöpfer der Völker und Staaten und die großen Täter hervorgebracht. Das Bauerntum erleidet Geschichte, die darüber hinweggeht, der Reiter und der Seefahrer machen sie und verzehren sich an ihr. Die Tragödie der menschlichen Geschichte wird von den Geschöpfen des freien Raumes gespielt, die sich der Sklaverei der fruchtbaren Erde entzogen haben. Die politische Landkarte zeigt das Ergebnis. Der seelenhafte Drang nach Unabhängigkeit durch Überwindung ist in das reinmenschliche Bewußtsein getreten und hat zum Gedanken des politischen Handelns geführt.

Der unmittelbare Zweck des Seefahrens war das Beutemachen, durch Raub oder listigen Tausch, was oft genug kein Unterschied ist. Die ältesten Seehändler waren »Hausierer« längs der Küsten, wie der Überlandhandel von dem Händler ausging, der mit seinem Saumtier oder Karren von Stamm zu Stamm, von Markt zu Markt zog und jede Gelegenheit wahr nahm, auch einmal die zu Raub oder Überfall. Seehandel und Seeraub sind überhaupt nicht streng zu scheiden, wie es noch im 19. Jahrhundert die englischen Kaperfahrzeuge und Sklavenschiffe beweisen, und die Kolonialpolitik mit dem unter ihrem Schutz ausgeübten Handel überhaupt. Welche Seite jedesmal überwiegt, hängt ausschließlich von den Möglichkeiten ab, welche die politische Organisation der Bevölkerung dem fremden Seemann freiläßt. Den Schwächeren überwältigt man; mit dem Starken muß man verhandeln. Man denke an die Antwort, die der gefangene Seeräuber Alexander[182] dem Großen gab: Weil ich nur ein Schiff habe, bin ich ein Räuber; hätte ich eine Flotte, so würde ich ein Eroberer sein. Wir nennen die Etrusker Seeräuber und die Phöniker Seehändler, aber mit welchem Recht machen wir den Unterschied? Waren die Spanier in Mexiko und Peru, die Engländer in Indien Räuber, Eroberer oder Kaufleute? Bekanntlich hat nicht der englische Staat, sondern die Ostindische Kompanie Indien erobert. Und man weiß, daß hinter dem Entschluß zur Eröffnung des ersten Punischen Krieges die Händlerkreise von Rom gestanden haben. Der friedliche Handel ist ein Krieg mit den Mitteln geistiger Überlegenheit, und deshalb von bloßen Muskelmenschen immer gehaßt und verachtet worden, aber im Grunde nur deshalb, weil der Dummkopf seine Fäuste allein als Waffe hat und ihre Kraft allein wertet.

Was wollten aber diese Seefahrer damals erwerben, wenn sie an fremden Küsten streiften oder auf einem vereinbarten Markt mit den Leuten des Stammes zusammentrafen? Von einer neuen Heimat abgesehen zunächst Nahrung für sich, um dies Leben fortzusetzen. Der Viehraub hat stets eine wichtige Rolle gespielt. Dann aber Werkstoffe, die es nicht überall gab und die man mit Vorteil in der Ferne absetzen konnte. Lange vor der Verwendung von Metallen sind der Liparit von den Inseln nördlich Siziliens, der Obsidian von Melos, der Feuerstein von den Küsten des hohen Nordens weithin verschifft worden.

Aber ebenso wichtig war schon in dieser Zeit, was bisher nie richtig gewürdigt worden ist, der Sklavenhandel und Menschenraub. Man unterschätzt bei weitem den damaligen Verbrauch an Menschen in Steinbrüchen und Bergwerken, bei großen Bauten und vor allem durch die Schiffahrt selbst. Die frühe Seefahrt hat viel Blut gekostet. Diese kleinen Fahrzeuge waren vollgestopft mit Menschen, wie es die Ruderarbeit verlangte. Noch die attischen Trieren hatten bei 30 m Länge allein je 170 Ruderer an Bord, von der übrigen Mannschaft abgesehen. Wenn man nicht rechtzeitig landen konnte, gingen Trinkwasser und Proviant aus und die Ruderknechte, ohnehin schlecht verpflegt und überanstrengt, gingen in Masse zugrunde. Sie ertranken bei hohem Seegang, starben bei starker Hitze und Kälte und brachen vor Erschöpfung[183] zusammen. Man kann sich die Gefahren und Verluste frühgeschichtlicher Flotten auf hoher See nicht groß genug denken. Was an Ruderknechten bei den großen Seeschlachten und in Stürmen etwa während des ersten und zweiten Punischen Krieges umkam, ging weit über die Masse der Gefallenen von Cannä hinaus, aber es wurde nicht gezählt, weil das nicht Stammesangehörige und Staatsbürger, sondern Parias waren, erbeutete Sklaven, Kriegsgefangene, gepreßte Matrosen aus der Hefe der Hafenorte. Die Stämme, zu denen die Schiffe der Seehändler kamen, waren entweder selbst Ziel dieses Raubens oder sie verkauften ihre eigenen Kriegsgefangenen, zogen selbst auf Menschenjagd gegen die Nachbarstämme oder lieferten die Minderwertigen und Machtlosen ihres eigenen Stammes aus.

1

Über die wir heute noch so gut wie nichts wissen. Es ist das von den Prähistorikern am wenigsten erforschte Gebiet der ganzen Welt.

2

Spengler, Der Mensch und die Technik, S. 46 f.

3

Der Mensch und die Technik S. 46 f.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 179-184.
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