6

[197] Der bloße Besitz von Schiffen war schon »Seemacht«; und da an allen Küsten Westeuropas und Nordwestafrikas Seefahrt getrieben wurde, so gab es dort überall Seemächte, auch wenn kein Klang aus diesen Zeiten und Räumen zu uns dringt. Es ist ganz unmöglich, daß ein kleiner Stamm an dem Stück Ufer, wo er ein paar Fahrzeuge besaß und vielleicht einen guten Landeplatz beherrschte, keine »Macht« gewesen wäre – in dem Stil, der damals eben schon Macht bedeutete –, daß er also nicht in engen Grenzen ein Monopol ausübte, ein fremdes Schiff abfing oder zwang, den Frieden zu erkaufen, und nur nachgab,[197] wenn einmal eine überlegene Flotte erschien. Die Stämme auf Malta und Pantelleria haben sicher weithin das Meer beherrscht, da man ihnen bei schlechtem Wetter auf der Fahrt zwischen Tunis und Sizilien nicht ausweichen konnte; und die Kupferinsel Sardinien muß im 3. Jahrtausend geradezu das Kreta des Westens gewesen sein, ein Zentrum des Seehandels oder Seeraubs, dessen Macht sich aus den gewaltigen Festungssystemen im Innern ablesen läßt. Es ist eine kindliche Vorstellung, daß es hier keine eigenen Schiffe gegeben habe, weil wir keine schriftliche – ägyptische oder griechische – Tradition darüber besitzen. In der Bretagne hat noch Cäsar die Veneter in einer großen Seeschlacht besiegt.

In diese Welt frühgeschichtlicher Kulturen greift nun als geschichtliches Motiv von immer steigender Bedeutung die Tatsache ein, daß sich – meiner Überzeugung nach etwa seit dem 4. Jahrtausend – die Sahara als Wüste ausbildet. Noch im 5. Jahrtausend muß es hier wasserreiche Stromgebiete, Sümpfe und Urwälder gegeben haben. Dann aber beginnt auch hier diejenige Epoche in der Entwicklung des Planeten, die hoch im Norden schon etwas früher als Ende der Eiszeit in Erscheinung tritt. Die – geologische – Erdgeschichte, die einen längeren Atem hat, greift zerstörend in die untergeordnete – biologische – Geschichte der Pflanzendecke und der von ihr abhängigen Tierscharen ein, und diese wieder in das sehr viel kürzere Schicksal des Kulturmenschen, unsere »Weltgeschichte«.1 Die wasserbindende Pflanzendecke schwindet, dann auch der organische Humus des Bodens, und es bleibt das rein mineralische, lebensfeindliche Element, Fels und Sand. Aus meteorologischen Gründen muß das im Osten, in Libyen begonnen haben. Im 2. Jahrtausend wird die Verwandlung der Steppe in Flugsand schon dem Atlantischen Ozean nahegekommen sein. In der römischen Kaiserzeit überschritt die Wüste das Mittelmeer und nahm langsam die inneren Gebiete Südeuropas in Besitz, das spanische Hochland, Sizilien, den Apennin und Griechenland. In den gotischen Jahrhunderten verfällt ihr die Provence und heute nagt sie durch Verkarstung bereits an den Alpen.[198]

Von dem menschenleer werdenden Trockengebiet im Süden geht ein beständiger Bevölkerungsdruck nach allen Seiten aus. In vordynastischer Zeit dringt Stamm auf Stamm ins Niltal, um Wasser und Weideplätze zu erhalten, und die Geschichte der ägyptischen Hochkultur – zu deren Voraussetzungen das gehört – ist voll von Berichten über zurückgeschlagene libysche Einfälle, bei denen die Beutezahlen an Vieh zeigen, was für eine Not die Wanderer vorwärtstrieb. Weiter südlich setzt sich die Bewegung dieser »Hamiten« nach dem Niger und oberen Nil, und in nachchristlicher Zeit bis nach Ost- und Südafrika fort. Am nordwestlichen Küstenrand aber lernten sie die Schiffahrt kennen und fuhren nun als Seenomaden von Küste zu Küste, nach Spanien hinüber, nach den Kanarischen Inseln, nach Sardinien, Sizilien, Italien und ins östliche Mittelmeer, längs des atlantischen Ufers vielleicht bis zur Nordsee hinauf, überall andere Stämme aufscheuchend oder zu gemeinsamen Abenteuern drängend. Namen kennen wir nicht, schon deshalb nicht, weil diese Stämme noch gar nicht den Gedanken an Eigennamen erfaßt hatten. Aber ihre »hamitischen« Sprachen, die in einem sehr frühen Zustand mitgenommen wurden, mögen noch lange hier und dort in Resten weitergelebt haben. Man will ihre Spuren bis nach Irland hin in späteren Sprachen finden2.

Diese innerafrikanischen Stämme lebten sehr primitiv,3 aber sie besaßen seelische Möglichkeiten, die sich auf neuem Boden und in verwandter Umgebung rasch entfalteten. Nicht nur der prachtvolle Wuchs der ägyptischen Hochkultur ruht darauf; an allen Küsten und auf allen Inseln entstehen Kultureinheiten einer niedrigeren Stufe, Vorkulturen, die ohne das afrikanische Element nicht denkbar wären.

Die Almeriakultur des 4.–3. Jahrtausends in Südostspanien ist, wie die Museumsleute sich ausdrücken, von Afrika herübergekommen,[199] oder im Bilde wirklicher Geschichte gesehen: es sind Jahrhunderte hindurch immer wieder kleine Trupps und Stämme gelandet, die langsam ins Innere drangen und in die allgemeine Lebensform des meerbejahenden Westens hineinwuchsen. Los Millares ist um 3000 eine starke Festung mykenischer Art mit vorgelagerten Schanzen, einer Wasserleitung und mit Kuppelgräbern,4 wie sie von New Grange in Irland bis zu den Pyramiden Verwandte haben. Überhaupt ist die menschliche Gestaltungskraft des ganzen Gebietes von seltener innerer Einheit,5 so daß es unmöglich scheint, die geschichtlichen Zusammenhänge heute noch festzustellen. Das Bauen mit großen, oft riesenhaften Steinen ist allgemein – im Gegensatz zum Lehmziegelbau der babylonischen Welt – und ein Ausdruck jenes Weltgefühls, welches das diesseitige Leben opfernd in den Dienst des jenseitigen stellt. In Ägypten legt sich seit der 3. Dynastie – dem eigentlichen Aufschwung der hohen Kultur der Steingedanke groß und schwer über die Lehmbauten im Stile der halbasiatischen Vorkultur. Der Totentempel als Kuppelgrab geht von Portugal und Südspanien über Sardinien (Anghelu Ruju) nach dem Ägäischen Meer und im Norden bis nach England und Island. Die Form der Navetas auf den Balearen wiederholt sich in den Mastabas des Alten Reiches. Der Sese grande auf Pantelleria an der tunesischen Küste hat seinen Nächstverwandten in einem Grabhügel der Normandie,6 und die Menhirs der Bretagne und Korsikas entsprechen den ägyptischen Obelisken. Vom Grab des toten Häuptlings geht die Form auf das feste Haus des lebenden über: die Nuraghen Sardiniens, die Talayots der Balearen und der große Rundbau von Tiryns. Sogar der technische Baugedanke der Überkragung ist überall gleichmäßig zur Entwicklung gelangt, sicher nicht immer durch Nachahmung, sondern oft aus gleichem Ausdruckswillen hier und dort in ähnlicher Form von selbst entstanden: Außer der Kuppel in falschem Gewölbe, die überall das letzte Ziel des[200] Baustrebens ist, und den spitzbogigen Gängen in der Wandung der Nuraghen und den Mauern von Tirnys gehört die nach oben sich verbreiternde Säule dazu – von Los Millares über die Balearen, Malta, Sardinien, Sizilien, Etrurien bis zum Löwentor von Mykene und in die kretischen Bauten hinein – und endlich die oben schmaler werdende Tür mit oder ohne Entlastungsdreieck, die das Atreusgrab mit ägyptischen Pylonen und dem prachtvollen Portal des Nuraghen S. Vittoria di Sessi verbindet. Und ich rede nicht einmal vom Totenschiff, das allenthalben als Symbol angebracht wird, und von den Muttergöttinnen – einzeln oder wie in Sizilien und Gallien in der heiligen Dreizahl –, welche die Einheit der Weltanschauung in dem ganzen großen Gebiet bestätigen.

Aber alles das ist keine Geschichte, sondern beweist nur, daß es hier einmal Geschichte gegeben hat, voll von Blut und Zerstörung, unwahrscheinlichen Taten, wildem Triumph, Angst und tiefem Seelenleid, wie die Geschichte des Menschen das eben ist und immer sein wird. Was können wir von einer Zeit wissen, die selbst erst das menschliche Gedächtnis für Vergangenes langsam herausgebildet hat! Verschollen war schon nach wenigen Jahren die Gestalt großer Häuptlinge, deren schrecklicher Ruf. die Stämme weithin erzittern ließ, vergessen oder zu Sage und Märchen verklärt das Bild von Abenteuern, die die Bevölkerung ganzer Landstriche verschwinden ließen. Die Trümmer sind stumm, aber um sie wittert eine Ahnung vom großen Schicksal ausgelöschter Rassen. Wo heute ein harmloser Gelehrter Ruinen ausgräbt und die Topfscherben nach Schichten ordnet, die plötzlich aufhören – wie in Kreta, Troja und Malta –, da gab es einmal wüste Brandnächte, bei deren Glanz die schwelgenden Sieger Gefangene marterten und sich um die Beute stritten. Wie würden die Piraten auf der Burg von Troja gelacht haben, hätten sie gewußt, daß man ihre zusammengeraubten und beim letzten Überfall vergrabenen Schätze eines Tages als Zeugnisse einer trojanischen Kultur und die armseligen Schmucksachen und Töpfe ihrer Gefangenen von allen Küsten und Inseln des Ägäischen Meeres als Zeichen von deren Ausdehnung betrachten würde! Wieviel neue Stämme, die »Rasse hatten«, sind entstanden,[201] indem die Eroberer in fröhlichem Gemetzel die Männer des Landes ausrotteten und die Weiber als Sklavinnen fortschleppten! Und wo in einem Hafen ein »Depotfund« gemacht wird, da kann ein Führer mit allen Kriegern seines Stammes, aller Beute und allen gewaltigen Plänen in einer Sturmnacht versunken sein, oder zwei seefahrende Stämme haben sich gegenseitig in einer Schlacht von wenigen Stunden vernichtet. Es liegt ein düsteres Geheimnis über der Entstehung der sardinischen Nuraghenkultur, dem steilen Beginn der kretischen Kamareszeit und dem plötzlichen Übergang von den Schlachtgräbern zu den Kuppelgräbern in Mykene.

Obwohl vollkommene Vergessenheit sich zwischen unser Auge und die Menschen und Taten jener Jahrtausende lagert, so hat es doch entsetzliche Ereignisse von ungeheuren Folgen gegeben, wie wir sie hinter den Namen der Hyksos und der Seevölker ahnen, in den Gotenzügen Alarichs und Theoderichs, den Normannen- und Wikingerfahrten in unsichern Umrissen auftauchen sehen und bei den Namen Dschingiskhan und Pizarro im grellen Licht unseres Wissens erblicken. Wo unter den Funden die Gräber fehlen, da gab es vielleicht niemand mehr, der sie anlegte. Wo der Wald wieder Besitz von den Ruinen einer Siedlung ergriff, da war oft genug bis auf den letzten Mann der Stamm verschwunden, der den Boden einst für Getreide und Vieh freigelegt hatte. So ist der Mensch und so ist seine Geschichte, und seine Kultur ändert daran nur insofern etwas, als die Instinkte sich in die Formen politischen Denkens verkleiden und so in Taten von gleicher Schwere entladen. Das Athen des Phidias und das Frankreich Racines legen Zeugnis davon ab. Die Ruinen von Ninive, Karthago und Altmexiko haben keinen andern Ursprung als die von Knossos und Tiryns. Nur war das Schicksal in jenen Jahrtausenden härter, weil es dem kürzeren Denken der Menschen jäher und sinnloser erschien als dem Stadtmenschen der Hochkulturen, in denen die Gewalt in traditionsgesättigte Formen gebunden und deshalb in ihren Wirkungen vorauszusehen ist – nicht weniger furchtbar, aber weniger anarchisch –, und die Seelen waren deshalb stärker, tragfähiger, naturhafter und in ihrem Ausdruck unmittelbarer,[202] was damals nötig war, um das Leben auszuhalten, und was heute, wo es selten geworden ist, als »Genie« von den Massen angestaunt oder verspottet wird.

Die eigenartigsten Formen nahm diese Kultur des Westens, von Ägypten abgesehen, auf den Inseln des Mittelmeeres an. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Stämme, die, auf einer Insel isoliert, vom seelischen Ganzen der übrigen Kultur abgelöst sind, in eine exzentrische, zuweilen bizarre Gestaltung des Lebens hineinwachsen. Japan und England sind Beispiele des 2. Jahrtausends n. Chr. Im Süden des Stillen Ozeans zeigt jede Inselgruppe ein besonderes Gesicht, am sonderbarsten die einsamste unter ihnen, die Osterinsel. Im germanischen Norden ist es Island, fast 3000 Jahre früher die Orkneys mit ihren seltsamen Kuppelgräbern und Irland, weiter im Süden des Atlantik die Kanarischen Inseln, wo die rätselhaften Guanchen erst vor wenigen Jahrhunderten ausgestorben sind. Im Mittelmeer ist von den Balearen bis Kypros jede Insel auf ihre originelle Formensprache geradezu versessen und das um so mehr, je mehr Menschen und Motive die uralte Schiffahrt von einer auf die andere gebracht hat. Und zwar ging diese Bewegung, ein Stück verschollener Seegeschichte, ohne Ausnahme von West nach Ost.7 Gegen Ende des 3. Jahrtausends stand auf dem Hügel von Knossos noch nichts als die zwei gewaltigen Nuraghen, die Evans unter dem ältesten Palast entdeckt hat, in Tiryns der riesenhafte Rundbau, in der Ebene hinter Phaistos die von Xanthudides entdeckte Gruppe von Kuppelgräbern, alle drei ungefähr gleichzeitig und alle von Einzelstämmen aus dem fernen Westen – »Tarschisch« – hier errichtet. Von »minoischer« Kultur ist nicht einmal eine Vorahnung zu bemerken. Aber damals erreichte die Bevölkerung von Sardinien gerade die Höhe[203] ihrer Macht und schöpferischen Energie, auf Malta war das schon vorüber und in Portugal war der Gipfel der monumentalen Baukunst ein volles Jahrtausend früher erreicht worden.

Am mächtigsten war im 3. und im Anfang des 2. Jahrtausends Sardinien, das wie gesagt im westlichen Mittelmeer eine seebeherrschende Stellung besessen haben muß, obwohl wir nicht einmal seinen damaligen Namen kennen, wenn es schon einen Einheitsnamen hatte.8 Dafür spricht die starke Verwandtschaft der Ornamentik, der Waffen, aller Bauformen und der daraus zu erschließenden Weltanschauung und Organisation der Stämme mit denen Korsikas, der Balearen,9 Siziliens und der etruskischen Küste, und zwar ist das Alter und die Überlegenheit immer auf Seiten dieser Insel, die schon ihrer Lage wegen ein natürlicher Mittelpunkt der Seefahrt gewesen ist. Noch zur Römerzeit heißen Stämme auf ihr Balari, Corsi und Siculenses, von denen die beiden ersten Namen sicher erst von hier nach Mallorca und Korsika gelangt sind und wahrscheinlich von sehr frühen Eroberungszügen reden, der dritte wieder ein Seevölkername ist. Der sardinische Handel hat seine Spuren in Ostspanien, Kreta, vor allem in Apulien hinterlassen.10 Ebenso sind Grabbau und Totenkult des späteren Etrurien zum großen Teil von hier herüber gekommen, die »etruskische Weltanschauung« also, und die Handelsherren der etruskischen Städte, die sich seit dem 8. Jahrhundert die großen Grabanlagen bauen ließen, mögen zum guten Teil noch vom Blute der alten Bewohner Sardiniens, die hier ihre Emporien hatten, letzten Endes[204] also aus Nordafrika oder Ostspanien stammen. Die in den altsardinischen Bauten massenhaft gefundenen Totenschiffe aus Bronze11 sind die Vorbilder der späteren Tonmodelle dort.

Wenn die Nuraghengürtel auf den Hochflächen im Innern, die jeden geeigneten Punkt des Bergrandes in ein wohldurchdachtes Befestigungssystem einbeziehen und mit damaligen Mitteln kaum erobert werden konnten,12 von der Feindschaft der Stämme untereinander und wahrscheinlich von erbitterten Kämpfen um die Kupfervorkommen reden, so spricht das nicht gegen deren Geltung zur See. Im Gegenteil: der Gedanke an gleiche Überlegenheit im Schiffsbau liegt nahe. Ganz ebenso haben sich die Clans in Schottland untereinander bekämpft, und die Mehrzahl der »Paläste«, also der Stammesmittelpunkte auf Kreta, läßt einen Einblick in ähnliche Verhältnisse zu. Die kretischen Kupferbarren von Serra Ilixi beweisen nicht Schiffahrt der Kafti an dieser Küste, sondern sind natürlich Beutestücke. Die beiderseitigen Flotten werden sich an einem Punkt Ostsiziliens, den Funden nach etwa beim späteren Syrakus, zu friedlichem Tausch getroffen haben.

Aber die Küstenstämme auf Sizilien haben selbst Seefahrt getrieben. Die »Beziehungen« zwischen Ostspanien und Westsizilien lassen sich vielleicht durch sardinischen Handel und gelegentliche Einfälle von Piraten erklären, aber die Lebensverwandtschaft der Bevölkerung von Tunis über die Ostküste Siziliens bis nach Apulien hin zwingt zu der Annahme, daß einst seefahrende Stämme von Afrika her hier Eroberungen gemacht und dauernde Sitze gefunden haben.13 Es ist das große Verdienst von Paul Borchardt, darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß in der kleinen Syrte das gewaltigste ehemalige Stromsystem der Sahara das Meer erreichte und daß die Senke der Schotts mit ihren Salzsümpfen nichts ist als das einstige Mündungsgebiet, das also – wie ich glaube, etwa seit Beginn des[205] 2. Jahrtausends – langsam durch Sanddünen verschüttet wurde.14 Wenn sich hier im 3. und vielleicht noch bis zur Mitte des 2. Jahrtausends ein Rest von Flußschiffahrt erhalten hatte, neben den Überlandwegen, die heute noch als Karawanenstraßen fortbestehen, dann muß in Südtunis ebenso wie im Bereich des späteren Karthago ein großer Mittelpunkt des Verkehrs, natürlich keine »Stadt«, sondern ein Markt gelegen haben. Darüber können nur Ausgrabungen, nicht Kombinationen aus antiken oder gar arabischen Texten, Sagen und Namen Gewißheit geben.

Wie dem auch sei, es ist sicher, daß die Küstenstämme in Tunis wie in Barka in dieser Zeit eine sehr aktive Rolle in der Geschichte des Mittelmeers gespielt haben, die bis ins Adriatische und Ägäische Meer zu spüren war. Die zunehmende Versandung des nordafrikanischen Küstenrandes ist allein schon ein ausreichender Grund dafür, und die Libyer – die Tehenu der ägyptischen Texte – waren eine Gruppe von Herrenvölkern, nicht mehr Bauern, wenn sie das je gewesen waren, sondern heimatlos werdende Viehzüchter, welche die Bauernstämme unterwarfen. Ihre Fähigkeit zu herrschen haben sie in Ägypten bewiesen; es ist nicht anzunehmen, daß sie an den südeuropäischen Küsten anders aufgetreten sind. In jedem Falle bietet die Küste von Ostsizilien bis Apulien nach den zahllosen Ausgrabungen Orsis schon während des 3. Jahrtausends das Bild einer völkischen Einheit, die sich nicht aus dem Innern und überhaupt nicht von Norden her ableiten läßt.15 Kupfer gibt es[206] auf der Insel nicht. Die Kupfersachen stammen sämtlich von Ostspanien und Sardinien oder von Kypros und Kreta. Erst als in der Kaftizeit der »Tarschischhandel« begann, kamen mit dem Rohmetall und der Kenntnis des Guß Verfahrens sicher auch Kupferschmiede ins Land, die ihren Vorrat ererbter Formen mitgebracht haben. Aber wichtiger als dies und die riesenhaften Steinblöcke des Dolmen Chiana dei Paladini in Apulien oder die Tatsache, daß sich zu den geschnitzten Knochenplättchen von Castelluccio Gegenstücke in Troja II gefunden haben,16 ist die Bestattungsweise in den Grüften vieler Häuptlingsfamilien.17 Da sitzen die toten Ahnen auf Steinbänken längs der Wand, reich gekleidet und geschmückt, mit Eß- und Trinkgeschirr vor sich, also beim Mahle oder wie zur Beratung versammelt. Es folgt daraus mit Selbstverständlichkeit, daß hier konservierte Leichen, Mumien also, beigesetzt wurden.18

Und das lenkt den Blick auf die Cueva de los Murciélagos in Südspanien, die 1857 von Bauern entdeckt und ausgeplündert wurde. Wie de Gongora19 noch feststellen konnte, saß hier eine Leiche, die ein goldenes Diadem trug, mit zwei Begleitern, und in einiger Entfernung ein Gefolge von 12 weiteren Toten im Halbkreis. Es waren erhebliche Reste der Kleidung, Mützen und Sandalen aus Espartogewebe erhalten, wodurch bewiesen wird, daß es sich auch hier um Mumien handelte. Die Zeit – Anfang des 3. Jahrtausends – ist etwa dieselbe, in der man in Ägypten zu Beginn der dritten Dynastie anfing, den Leib des Pharao in[207] dieser Weise für die Ewigkeit zu erhalten, ein Vorrecht des mit der Gottheit gleichgesetzten Staatshauptes, das dann von den vornehmen Hofbeamten, dem Feudaladel der Gaue und endlich vom wohlhabenden Bürgertum der Städte nachgeahmt wurde,20 übrigens eine Form der zunehmenden Demokratisierung der Gesellschaft. Der Gedanke, auf diese Weise das Weiterleben des Toten zu sichern,21 steht zu dem von einem Totenreich in demselben Widerspruch wie im Christentum die sehr nahe verwandte »Ruhe im Grabe« und »Auferstehung des Fleisches«22 zur Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele, während der Leib zu Asche wird. Es ist weder hier noch dort empfunden worden: Nimmt man hinzu, daß auch die Guanchen auf den Kanarischen Inseln als Mumien beigesetzt wurden, so ist es wohl nicht zu kühn, wenigstens an die Möglichkeit zu glauben, daß auf dem »Thron des Minos« die Mumie des letztverstorbenen Oberpriesters saß.

Während des ganzen 3. Jahrtausends liegt das Schwergewicht der Ereignisse im Westen. Auf Kreta und Kypros sind sichere Spuren blutiger Kämpfe zu bemerken, die ganze Stämme fortgefegt haben müssen – denn davon und von nichts anderem redet die »Bewegung« in der Keramik –, aber nichts, was sich mit der großen Entwicklung und also Machtentfaltung auf Sardinien und Malta vergleichen ließe. Zum Teil sind schon damals afrikanische Trupps gelandet. Bei der damaligen Bevölkerungsziffer genügte ein Dutzend Schiffe mit 200 Mann, um die halbe Insel zu durchziehen und zu verwüsten. Geschichtlich aber führen beide Inseln, von unbedeutender Seefahrt abgesehen, die z.B. durch einzelne ägyptische Gegenstände aus prädynastischer Zeit tief unter den ältesten Bauten von Knossos bewiesen wird,23 ein in sich abgeschlossenes Dasein.[208]

Erst gegen Ende des 3. Jahrtausends beginnt ein Leben mit weiterem Horizont und größerer Formgewalt. Es versteht sich von selbst, daß damals neue Eroberer gelandet sind, die mit ihrer höheren Kultur und größeren seelischen Energie an einzelnen Punkten auf das einheimische Volkstum gewirkt und es umgestaltet haben. Lange dauerte es nicht, denn die Nuraghen von Knossos, die Kuppelgräber der Messarà und der Rundbau von Tiryns blieben fremde Motive ohne Dauer und Folge. Kamen sie von Sardinien, wo z.B. der Nuraghe von Losa24 ein ganzes System von dreifachen Zentral- und vielen Außentürmen, von gewaltigen Mauern mit Schießscharten umgeben darstellt, gegen das auch die viel späteren Festungsbauten von Tiryns und Mykene verschwinden? Oder von Malta, wo die Ruinen von Bahria beweisen, daß die Stämme der ersten Megalithkultur von andern mit derselben Formensprache vernichtet oder vertrieben worden sind? Oder kamen sie von Apulien, von Tunis, von Barka her? Darüber werden wir wahrscheinlich nie etwas erfahren.

Für die Möglichkeit eines Eindringens von Libyern kann vielleicht die Tatsache sprechen, daß sich westlich von Ägypten damals anscheinend etwas Ähnliches ereignet hat. Um 2500 taucht in den ägyptischen Texten neben dem alten Namen der Tehenu die Bezeichnung Tuimah offenbar für eine neue Stammesgruppe auf,25 und in Gräbern von Beni Hasan um 2000 werden Leute dieses Schlages abgebildet: sehr groß, hellfarbig, mit hellem Haar und blauen Augen. Sie tragen eine von allem Afrikanischen ganz abweichende Kleidung, führen andere Waffen und sind anscheinend tätowiert. Darüber wird noch zu reden sein. Wenn es sich hier aber um Eindringlinge aus nördlicheren Gegenden handelt, dann ist es immerhin denkbar, daß die ältere Bevölkerung teilweise über See geflüchtet ist.

Dann aber brach, wieder mit einer fremden Eroberung, die diesmal Dauer hatte und die ganze Insel umfaßte, die Kamareszeit an, die Kreta plötzlich weit über das Niveau des ganzen östlichen Mittelmeeres heraushob.

1

Untergang des Abendlandes II S. 33.

2

Pokorny hat das für die keltischen Sprachen wahrscheinlich gemacht.

3

Gsell, Hist. anc. de l'Afrique du Nord I 177 ff., II 170 ff. Der Lärm, der heute um die nordafrikanischen Felszeichnungen gemacht wird, welche die Tagesmode Kunstwerke nennt, ist wenig angebracht. Ihr Alter ist zweifelhaft, ihr Mangel an allen Qualitäten ist es nicht (Obermaier, Forsch, u. Fortschritte 1932, 1 ff.).

4

Reall. d. Vorgesch. VIII 191 ff.

5

Darauf hat zuerst C. Schuchardt aufmerksam gemacht, vgl. sein Alteuropa2 (1926).

6

Reall. d. Vorgesch. X 32.

7

Reall. d. Vorgesch. X 328. Wenn Schulten (Klio 23: Die Etrusker in Spanien) aus dem Gleichklang von Ortsnamen in Ostspanien und Mittelitalien auf etruskische Kolonisation schließt – beide Namengruppen kennen wir nur in römischer Schreibung, worauf vielleicht die ganze Ähnlichkeit beruht –, so ist das, gesetzt, daß kein bloßer Zufall vorliegt, umzukehren und würde für eine weit frühere Zeit gelten als die, in welcher der Seevölkername Turscha der Name der Küste nördlich des Tiber zu werden beginnt.

8

Auch hier kann der Seevölkername der Schardana erst seit dem 12. Jahrhundert und zunächst vielleicht nur für die Südküste Geltung bekommen haben.

9

E. Seeger, Vorgeschichtliche Steinbauten der Balearen. Reall. d. Vorgesch. I 322.

10

Die sardinischen Dialekte, die unrichtig als italienische bezeichnet werden, wie das Katalonische als spanischer, das Provençalische als französischer Dialekt gilt, und zwar aus politischen Gründen, sollten einmal wie das Maltesische auf ihre nichtindogermanischen Elemente hin untersucht werden. Außer phönikischen und arabischen Spuren müssen darin noch erhebliche Reste von Sprachen aus der Nuraghenzeit stecken.

11

Reall. d. Vorgesch. XI 248.

12

Sie verraten einen ganz außergewöhnlichen Sinn für kriegstechnische Fragen; ein Seitenstück gibt es im ganzen Umkreis des Mittelmeers nicht bis herab auf die hellenistische Belagerungskunst.

13

Orsi, Bull. Paletn. Ital. 28 S. 43.

14

Petermanns geographische Mitteilungen 1927 S. 19 ff. und viele spätere Aufsätze in dieser Zeitschrift. Leider hat Borchardt seine wertvollen Beobachtungen als Geograph und Geologe durch die Hereinziehung des Atlantisschwindels verdorben, eine Mode, die auf völliger Unkenntnis der dichterischen Schreibweise Platos beruht, der es liebt, abstrakte Theorien in der Verkleidung von Märchen anschaulich vorzutragen.

15

Orsi unterscheidet etwa seit 2500 mehrere »sikulische« Perioden, aber das Wort ist ein Seevölkername, kann also nicht vor dem 12. Jahrhundert dagewesen sein. Was griechische Schriftsteller über die Herkunft der »Sikuler« geglaubt oder erfunden haben, beruht natürlich auf dem Hörensagen des 7. bis 6. Jahrhunderts in sizilischen Griechenstädten, wo es von der wirklichen Vorgeschichte im 2. Jahrtausend ebensowenig eine Ahnung gab wie in der gesamten antiken Welt.

16

Messergriffe aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends, was einmal zeigt, wie weit ein einfacher Gebrauchsgegenstand von Hand zu Hand gehen kann, denn natürlich hat ein Matrose nach dem andern das Messer getauscht, gestohlen oder einem getöteten Feind abgenommen.

17

In Ostsizilien wie in Apulien: v. Duhn, Italische Gräberkunde I S. 71 ff. und 44.

18

Die Sitte hat sich bis ins erste Jahrtausend erhalten und galt vielleicht auch bei einigen »etruskischen« Familien. Wenigstens schließe ich das daraus, daß hier zuweilen auf Steinbänken menschengestaltige Urnen oder Steinkisten mit liegenden Porträtfiguren darauf mit der Asche des Toten standen. Da scheint mir die in Mittelitalien vornehm gewordene Sitte der Verbrennung mit einem viel älteren Brauch ausgeglichen zu sein.

19

Antiguedades prehistoricas de Andalucia (1868) S. 24 ff.

20

Wo man die Methode, um die sehr großen Kosten zu sparen, oft bis zum Beizen in Natronlauge vereinfachte.

21

Die Dauer der Seele ist also an die materielle Fortexistenz des Leibes gebunden.

22

Deshalb empfinden strenggläubige Christen die Leichenverbrennung als gottlos. Sie schließt irgendwie die Hoffnung auf körperliche Auferstehung aus.

23

Bullet. corresp. Hellen. 1924 S. 488.

24

Monum. dei Linc. 11 Taf. 7–8.

25

G. Möller, Zeitschr. D. Morgenland. Ges. 1924 S. 36 ff.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 197-210.
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