9

[228] Was hat das Wort Minos in der Sprache bedeutet, aus der es stammt? War es der Eigenname eines Gottes1 oder einer geschichtlichen Persönlichkeit, etwa des Stifters und Gesetzgebers des berühmten Heiligtums am Anfang der Kamareszeit, der vielleicht einmal in Ägypten gewesen war, oder des kriegerischen Gründers der Kaftimacht, der dann den Bau wieder hergestellt hätte und dort als Toter fortlebte und Opfer empfing? Oder war es ein erblicher Name, den der jeweilige Träger des höchsten Amtes führte?2 Oder ein Titel, der sich aus einer sachlichen Bezeichnung wie pontifex oder einem berühmten Namen wie Caesar3 entwickelt hat? Oder bedeutete es endlich nichts weiter als Gott oder Herr, das heißt: Eigentümer des heiligen Bezirks? In Ägypten hatten viele Götter keinen eigenen Namen, sondern hießen einfach »der von Tonent« oder »die von Necheb«.4 Im Westsemitischen, also im weiteren Küstenbereich von »Alaschia«, bedeuten ebenso Baal5 und Melek: Herr, Besitzer, so daß stets der Name des Objekts hinzugefügt werden muß. Melkart heißt »Herr der Stadt«.6 Und in genau demselben Sinne verwenden die Hellenen im Gebiet vorhellenischer Kulte das Wort Heros, das meiner Meinung nach aus einer altindogermanischen, aber vorgriechischen[228] griechischen Sprache stammt.7 Perseus ist der Heros, also der »Herr« von Mykene. Zu diesem »westlichen« Begriff gehört fast notwendig das Heroengrab. Die »kuhäugige« Hera ist nichts weiter als die uralte Herrin der Landschaft Argos, also kein Name.8 Ihr Kult war seit homerischer Zeit ständig im Schwinden. Baale von Karthago heißen amtlich die Mitglieder der regierenden Bürgerschaft, deren Eigentum die Stadt ist, und nicht viel anders wird in der Ilias der Ausdruck Heros für diejenigen Kämpfer verwendet, die daheim Besitzer, Herren des Gebietes sind. Die Bedeutung Held oder Halbgott liegt noch ganz fern. Der Name Minoa, den später manche Orte, Inseln, Vorgebirge von Sizilien bis Palästina führten, wäre also ursprünglich Eigentumsbezeichnung gewesen? Wie vielleicht der Name Ἀθῆναι zuerst den Burghügel als Eigentum der Göttin mit dem vorgriechischen Namen bezeichnet hat?

Ein Nachleben der »minoischen« Religion darf man nicht in griechischen Sagen aus der epischen Frühzeit suchen. Da beherrscht die nordeurasische Erobererschicht auch die Weltanschauung. Alle Gestalten und Geschichten sind aus nordischem Schauen und Fühlen geschaffen oder im Weitererzählen umgebildet worden; nur die Namen stammen zum großen Teil aus der alten Zeit und haften vielfach – nicht immer! – noch am alten Ort. Außerdem liegen Jahrhunderte zwischen dem Untergang der Kaftimacht und dem Erwachen der antiken Seele. Die Namen gingen aus einer in die andre Sprache über, bis sie die? griechische Form erhielten, zum Teil übersetzt wurden (Pasiphae, Phaiaken), und die an sie geknüpften Sagen haben ebenso oft Sinn und Fassung gewechselt. Es ist bezeichnend, daß die Griechen der geometrischen Zeit von einem Palast in Phaistos überhaupt nichts wissen, und auch der Name Minos hatte damals wenig Bedeutung. Er hat sich, vielleicht aus einer Mehrzahl zum mindesten gleichwichtiger Namen, nur deshalb erhalten, weil er an der großen Ruine haftete, die in einer Sprache des 14. oder 13. Jahrhunderts das »Labyrinth« hieß. An diese Trümmer mit[229] den verwitternden Fresken und düstern Gängen, in denen man vielleicht hier und da noch Kostbarkeiten ausgrub, hefteten sich neue Sagen vom Minotaurus, von Pasiphae und Ariadne, aus einer Fantasie heraus geschaffen, die sicher nicht mehr die der Kafti war. Ebenso sind die bretonischen Riesensagen um die Menhirs (»Steinmann«) und Dolmen (»Steintisch«) entstanden, von deren Bedeutung als Grabbauten 2000 Jahre vorher diese erst nach der Römerzeit eingewanderten Kelten nichts ahnten. Lebendig blieben dagegen in den unterlegenen Bevölkerungen nicht in Kreta allein die Anschauungen vom Totenreich, den seligen Inseln, den Totenrichtern, wie sie der gesamte Westen in vielerlei Fassungen kannte, vor allem auch Unteritalien, Sizilien, Sardinien mit der etruskischen Küste gegenüber und die Gebiete der Kuppelgräber in Griechenland. Davon wollten die Dichter und Krieger der frühantiken Herrenschicht nichts wissen. Es dringt erst mit der »dionysischen« Religion seit dem 7. Jahrhundert wieder herauf, die sich im Volkstum der wachsenden Städte geltend macht und zahlreiche Namen der Urzeit wieder zum Vorschein bringt. Es ist falsch, diese Welt von Sagen und Denkweisen auf Grund von Kombinationen antiker Schriftsteller aus Thrakien oder Phrygien herzuleiten. Sie war längst im Lande, vor den Herrenstämmen; aber erst jetzt wird sie wieder eine Macht, und zwar in steigendem Maße bis in die römische Kaiserzeit, während die Herrenschicht sich an der selbstgeschaffenen Kultur verzehrt. Mit ihr beginnen die Jenseitshoffnungen und -ängste, die Stierkulte mit der Krönung im Mithrasglauben,9 der Orgiasmus, das Bluttrinken und die dem patriarchalischen Norden ganz fremde Rolle des Weibes in der Ausübung öffentlicher Kulte.10

Aber wie alt ist der Name Minos und in welche Sprache gehört er? Beide Fragen meinen im Grunde dasselbe. Es muß immer wieder davor gewarnt werden, von »der« pelasgischen,[230] karischen, ägäischen Ursprache zu reden. Das sind gelehrte Schubfächer, in denen alle erreichbaren Namen, Wurzeln und Endungen aus Jahrhunderten zusammengeworfen werden, um sich die Sache leicht zu machen. Es sind selbstverständlich auf Kreta wie damals überall viele Sprachen geredet worden, nicht nur neben-, sondern auch nacheinander. Ich werde noch zeigen, daß auch die Endungen -nthos (Tiryns, Korinth, Labyrinth) und -essos (Tartessos, Odessos, Halikarnassos) aus verschiedenen Sprachen stammen, die erst nach 1400 größere und örtlich verschiedene Verbreitung fanden, und zwar aus politischen Gründen. Es ist doch klar, daß der Nuraghenstamm von Knossos und der Kuppelgräberstamm von Phaistos, die gegen Ende des 3. Jahrtausends diese beiden Landschaften für Jahrhunderte zu Schwerpunkten der politischen Gestaltung der Insel gemacht haben, nicht von derselben Herkunft waren und also nicht die gleiche Sprache redeten. Aber haben diese Sprachen sich während der Kamares- und sogar der Kaftizeit gehalten? Als Bauernsprachen vielleicht, als Herrensprachen gewiß nicht. In eine Sprache von Phaistos scheinen die Namen Rhadamanthys (auch Bradamanthys) und Britomartis gehört zu haben, auch Velchanos, der nur hier vorkommt.11 Aber aus welcher Sprache stammen die sicher ebenfalls kretischen Namen des Kronos12 und der Korybanten? Wir wissen nicht einmal, wie das Heiligtum von Knossos oder dessen Landschaft zur Kaftizeit hieß, denn die griechischen Schriftsteller kannten noch andere Namen, Trita und Kairatos. Wenn das richtig ist – welcher von ihnen war der letzte, der vor der endgültigen Zerstörung galt? In Trita steckt der Name eines großen Gottes, in griechischer Form Triton. Damit hängen Tritogeneia (Beiname der Athene),13 Amphitrite, die Tritopatores (vielleicht eine Priesterschaft) und der Totenrichter Triptolemos. zusammen, dessen nichtgriechischer Name doch sicher mit[231] Trit- anfing. Triton heißen viele Flüsse, auch ein Fluß und See an der libyschen Küste. In der griechischen Sage war es eine Meergottheit. Darf man daraus schließen, daß zur Kaftizeit der Gott der Schiffahrt oder des Meeres so hieß, vielleicht der, welcher die Seelen auf der Totenbarke nach dem Jenseits geleitete?

Gewiß ist nur, daß die Worte Tartaros und Elysion in ihrer ursprünglichen Form aus der Kaftisprache stammen, weil sie auch herrschende Fahrtbezeichnungen der Seeleute wurden, was nur zur Zeit der Seemacht dieses Herrenstammes möglich war. Aber der Name Minos muß sehr alt sein, wenn er, wie ich glaube, mit dem kleinasiatischen Men verwandt ist. In der uns erhaltenen Literatur und den Inschriften taucht diese Gottheit, oder was es sonst ist oder inzwischen geworden ist, erst seit dem 5. Jahrhundert auf und wird dann immer häufiger genannt, aber das beweist nur, daß die vorantike Unterschicht mit ihren Kulten und Mythen langsam in die höhere Religiosität der Antike hineinwächst. Selbstverständlich haben spätgriechische Schriftsteller darin einen Mondgott erkennen wollen, weil im Griechischen neben dem feierlichen Ausdruck Selene noch ein Wort μήν für Mond und Monat vorkommt, das vielleicht Lehnwort aus einer anderen nordischen Sprache ist; und eine Mode der letzten Jahrzehnte, die überall Sonnen- und Mondverehrung, Sternwarten, Sonnenräder und dergleichen sucht und findet, hat das wieder aufgenommen.14 Aber wenn Men καταχθόνιος der Unterirdische und τύραννος heißt, wenn es Gelübde τᾷ Ἑκάτᾳ καὶ Μανί gibt und der Königseid der pontischen Fürsten nach Strabo (XII, 557) τύχην βασιλέως καὶ Μῆνα Φαρνάκου lautete, wenn in zahllosen uralten Ortskulten das Wort mit seltsamen Eigennamen aus verschollenen Sprachen verbunden ist, die z.T. sichtlich Genitive oder besitzanzeigende Adjektive sind,15 dann ergibt sich[232] ohne allen Zweifel, daß es sich um die fortwirkende Totenseele des Begründers des Stammes, Kultes, Ortes oder der Dynastie handelt, mithin um eine Totengottheit westlichen Stils, die ein Grabheiligtum und einen Kult besaß. Dahin also, und nicht in die phrygische oder lydische Sprache gehört Manes, der als Ahn der lydischen Könige und als Stammvater der Phryger galt. Er ist viel älter als diese beiden Stämme. Vielleicht gehört sogar der Name des Chalderkönigs Menuas in diesen Kreis, und damit würde die Vermutung Lehmann-Haupts, daß das herrschende Element im Staate Urartu irgendwie aus Südwestkleinasien dorthin gekommen sei, an Wahrscheinlichkeit gewinnen,16 zumal dieser beste Kenner der chaldischen Kultur neben deren sehr starker Verbundenheit mit der nordeurasischen Formensprache, vor allem der oben erwähnten Tierornamentik seit dem Anfang des ersten Jahrtausends, immer wieder auf den engen Zusammenhang mit Kreta und weiter mit Mittelitalien in Bau- und Schmiedetechnik und künstlerischem Ausdruck hinweist. Natürlich war der Weg umgekehrt. Der alte Westen hat die geschichtliche Wirkung seiner Stämme, mag sie gewesen sein wie sie will, überall tief in das vorderasiatische Festland hinein erstreckt. Dafür zeugen die armenischen wie die von E. Brandenburg17 untersuchten kanaanäischen Felskammerbauten, die ihre weit älteren Vorbilder rings an allen Küsten des westlichen Mittelmeers haben. Und von hier stammt ja der Glaube an das Fortleben im Jenseits, an Totenreiche18 und Totenrichter, das Häuptlingsgrab als Heiligtum und Mittelpunkt des Stammes und also auch ein erheblicher Teil der Heroenkulte im Gebiet der vorgriechischen Kuppelgräber. Irgendwie hängt das mit der »dionysischen« Religiosität zusammen:[233] In dieser westlichen Weltanschauung berührt sich das Denken über Zeugung und Sterben wie noch nach Jahrtausenden der Glaube an die unbefleckte Empfängnis und den sterbenden Heiland. Bachofen hat zuerst auf die Symbolik des Geschlechtslebens, die wir obszön nennen, in den Gräbern und Kulten des ganzen Gebietes aufmerksam gemacht und daraus zum Teil sehr bedeutende, zum Teil fantastische Schlüsse gezogen. Orgiasmus und Totenkult sind hier nirgends zu trennen, so wenig als Karneval und Karfreitag im heutigen Südwesten Europas. Auch Dionysos ist der getötete und wiederkehrende Erlöser. Wie die Totenbarke im Osiriskult, so spielt das Schiff bei den Dionysien eine Rolle. Nach weit verbreiteter Ansicht kommt Karneval vom carrus navalis her. Auch die wahrscheinliche Verwandtschaft der Namen Aphrodite und Pherephassa hatte ich schon hingewiesen. Und deshalb ist es wichtig, daß die Muttergöttin des Westens bis tief nach Kleinasien und Syrien eindringt. Im 3. Jahrtausend zeigten die oben erwähnten weiblichen Tonidole den Weg bis ins Schwarze Meer. Im zweiten waren es die großen Kulte und Heiligtümer: in Ephesos das der »Artemis«,19 in Samos wie in Argos das der Hera, der »Herrin«, in Pessinus das der Großen Mutter, auf Kypros das der Aphrodite in Paphos, an der gegenüberliegenden Küste die Kulte der Astarte, die nichts mit babylonischer Anschauung zu tun hat. Das alles ist nicht ohne die Vermittlung von Kreta möglich gewesen: Der Weg von Tartessos nach Alaschia führt mit Notwendigkeit über die Stelle, von wo aus diese Begriffe gedacht sind.

Vom Westen her kam auch der heilige Stier als Inkarnation der Gottheit, weil sie in seiner Gestalt »das Leben« als Stärke, Wut und Fruchtbarkeit am gewaltigsten zur Schau stellte. Außer Ägypten hat uns vor allem das alte Sardinien sehr viele Zeugnisse für seine Verehrung gegeben,20 aber sie fehlen auch nicht in Spanien, auf Malta und im frühesten Unteritalien.

Im urgeschichtlichen Südasien hatte das Rind eine ganz andere Bedeutung. Da wurde es gehegt als das vornehmste Opfer an die Götter; es war heilig nicht als Objekt, sondern als Mittel der[234] kultischen Handlung. Von hier ging spätestens im 4. Jahrtausend seine Züchtung und Verwertung zuerst durch die Priesterschaft, dann durch das Bauerntum aus. Es war das älteste wirkliche »Haustier«.21 Der Stier war hier niemals Gott, sondern nur sein Symbol, sein heiliges Tier: so konnte er zum Sternbild werden. Im eurasischen Norden, wo man in der Umwelt unpersönliche Mächte, keine Gottpersonen sah, war der Stier – gelegentlich, neben und nach andern Tieren – nur Sinnbild und unterscheidendes Abzeichen menschlicher Organisationen, von Sippen, Stämmen, der Macht des Häuptlings oder der Kriegerschaft.

In Kreta erscheint demnach die Stierverehrung schon früh im 3. Jahrtausend. Aber die »Stierkämpfe«, Menschenopfer für und durch den göttlichen Stier – die zahlreichen Bilder enthalten nicht die geringste Andeutung, daß auch einmal der Stier von dem (unbewaffneten!) Opfer hätte getötet werden dürfen – gehören ausschließlich zur Religion der Kafti. Sie erscheinen mit den jüngeren Palästen, also »um 1600«, und ihr großer Stil verfällt mit dem Niedergang der Seeherrschaft von Tartessos und Alaschia. Man kann an der Reihe von Darstellungen noch verfolgen, wie die Kämpfer mehr und mehr dressiert worden sind, so daß der Gott sich mit der Andeutung des Opfers begnügen mußte. Der Tod wurde allmählich durch ein sportmäßiges Spiel ersetzt, an dem bei den großen Festen die zusammenströmende Menge ihr Vergnügen fand. So sinken alle ursprünglich von heiligen Schauern umwehten Handlungen in allen Religionen langsam zu bloßen Schauspielen, zu Kirmeß und Karneval herab. Die Gladiatorenkämpfe[235] im römischen Zirkus sind aus Zweikämpfen hervorgegangen, in welchen die Gefährten des Toten an dessen Leiche sich ihm zu Ehren opferten.22 Ebenso sind die Stierspiele, als die Burgherren von Tiryns und Mykene, wie die Reste von Gemälden etwa des 14. Jahrhunderts zeigen, an ihnen Geschmack fanden, sicherlich bloße Unterhaltungen ohne religiösen Sinn gewesen, bei denen sich entweder gewerbsmäßige Akrobaten zeigten oder Sklaven und Kriegsgefangene getötet wurden.

Religiöse Lehren, welche in der Frühzeit des theoretischen Nachdenkens so schwierig zu erfassen und sprachlich auszudrücken sind wie die vom Leben nach dem Tode und der Notwendigkeit einer dauernden Totenpflege, können unmöglich entstanden sein ohne eine berufsmäßige Priesterschaft, die sich zugleich mit den großen Grabheiligtümern entwickelte. Mag der steinerne Grabbau selbst das Werk und der Mittelpunkt des Stammes sein; die Praxis des Kultes wurde vom Häuptling und seinen Leuten weder verstanden noch ausgeübt. Das richtige Wissen der Gebräuche war ein Geheimnis, ein wertvolles Privilegium einzelner Familien oder einer Gruppe, die sich die Nachfolger selbst wählte und erzog. Kämpfen, jagen, fischen, rudern konnte und mußte jeder Mann im Stamme können, aber die priesterliche Tätigkeit war ein technischer Beruf wie Töpfern und Schmieden, der erste geistige Beruf neben den frühesten Handwerken. Mit dem Priester beginnt die Gelehrsamkeit. Seine »Wissenschaft« der Regeln, Methoden und Kunstgriffe mochte noch so primitiv, und die Zahl der Priester im Verhältnis zu der ohnehin sehr kleinen Kopfzahl des Stammes noch so gering sein; in der Zugehörigkeit lag eine Macht, die man zu benutzen verstand. Praktischer Kult und theoretisches Wissen gehören zusammen,23 und mit der wachsenden Kultur entsteht eine priesterliche Hierarchie zugleich[236] mit einer dogmatischen Tempellehre – und damit, wenigstens im Westen, ein natürlicher Gegensatz des Oberpriesters zum Häuptling, des Heiligtums gegenüber dem Stamme.24 Die Götter sind hier nicht die der Stämme, sondern der Heiligtümer, und nur weil diese innerhalb der Stammesgebiete liegen, hat der einzelne Stamm den Vorteil des Schutzes und der großen Feste oder den Nachteil der Feindschaft. Das Ringen zwischen Gottesstaat und Weltstaat, zwischen geistlicher und staatlicher Politik ist im alten Westen sicherlich schon im 4. Jahrtausend keimhaft angelegt, und es wächst in den westlichen Hochkulturen von der ägyptischen bis zur abendländischen an metaphysischer Leidenschaft bis zu Erschütterungen, welche die gesamte seelische Existenz bedrohen. Den Gipfel hat es im Kirchenstaat erreicht, der sich um den Grabtempel des Petrus bildete, in der päpstlichen Hierarchie, die mit den Orsini und Colonna, mit Florenz, Mailand, Neapel und darüber hinaus mit allen Kronen der christlichen Welt im Kampfe lag.

Es gehört dazu, daß jedes Heiligtum seine eigne Lehre und seinen eignen Kult besitzt, durch die man »allein selig werden kann«. Schon in Ägypten ist das voll entwickelt, und die Geschichte dieser Hochkultur ist von unaufhörlichem Ringen der großen Tempel untereinander und gegen die Dynastien durchsetzt, die zum Spielball priesterlicher Interessen werden, sobald ihre eigene Kraft versagt. Osirisgräber gab es in Busiris, Memphis und Abydos. Osirisreliquien wurden an vielen Orten verehrt, der Kopf z.B. in Abydos. Einige Glieder waren mehrfach vorhanden, ganz wie in der katholischen Kirche. Die Priesterschaften von Heliopolis, Theben und Memphis, Staaten im Staate, haben große Politik getrieben und Geschichte gemacht, was noch lange nicht genügend untersucht und in den historischen Darstellungen berücksichtigt worden ist. Zuletzt hat um 1085 das Geschlecht der Oberpriester des Amon von Theben durch Hrihor sich des ägyptischen Thrones bemächtigt.

Frühgeschichtliche Tatsachen, welche diesen der inneren Form und Tendenz nach, wenn auch nicht an Größe und Wirkung in die Ferne von Zeit und Raum entsprechen, muß es in der Bretagne,[237] in Spanien, auf Malta und Sardinien gegeben haben, sobald die Steinbauten der Gräberkulte eine monumentale Gestalt erhielten. Sie sind für immer in Vergessenheit versunken, aber es ist unmöglich, daß sie neben den Bauten gefehlt haben sollten. Immerhin gibt es späte Spuren am Rande des großen Gebietes. Dazu gehören die hierarchischen Priestertümer in dem Konglomerat von Resten viel älterer Einzelreligionen, das die Römer als etruskische Religion bezeichneten und von dem sie sehr starke Elemente in Gestalt der Augurn, Haruspices und sogar des Pontifikalkollegiums25 in ihrer eigenen Stadt besaßen. Ebenso sind die Druiden, deren Hierarchie den Kelten als nordischen Stämmen innerlich ganz fremd war, aus der Religion der eingeborenen Stämme des alten Westens übernommen worden. Der Beweis liegt darin, daß die kleinasiatischen Kelten nicht die geringste Andeutung davon besaßen – ebensowenig die Kelten in der Poebene – und daß sie dafür das uralte Heiligtum von Pessinus übernahmen, ehrfürchtig verehrten und dessen Priesterämter mit Vornehmen der eignen Geschlechter besetzten.26 Es ist wie mit dem Papsttum, dessen leidenschaftlichste Verteidiger Kelten und Germanen gewesen sind. Das war »Dienst« und Treue, oft selbst gegen die eigne Überzeugung.

Der eurasische Norden hatte eine andere Art, seine Frömmigkeit in Form zu bringen. Ein Priestertum als Sonderorganisation, als »Kirche« neben und gegen Stamm und Staat gab es nicht, auch keine herrschsüchtige Lehre und keinen symbolischen Tempelbau. Das Volk im heißen lässigen Süden hatte das Denken und Handeln in kultischen Dingen gern andern überlassen und war ihnen gefolgt. Hier aber war jeder sein eigner Priester und hatte seine eigenen Gedanken über die Mächte draußen und sein Verhältnis zu ihnen, und er lehnte jede Gewalt ab, die seinen privaten Glauben zu erfahren oder als »Bekenntnis« zu gestalten[238] wünschte. Daß dieser trotzdem viele gemeinsame Züge hatte, lag am gleichen Instinkt und nicht an einer geistigen Schulung. Der religiöse Individualismus, die innere Freiheit, die Scham, seine geheimsten Gefühle und Überzeugungen vor Fremden zu entblößen, der »Protestantismus« gegen jeden Versuch, eine Herrschaft über die Seelen zu begründen – denn das bleibt sein letzter Sinn – ist von Nordeuropa bis China stets die Glaubensform aller tiefen Naturen gewesen. Daß sie sich immer wieder gegen den geistigen Machtwillen von Gemeinschaften irgendwelcher Art behaupten mußte und daß ein siegreicher Protest regelmäßig die Grundlage einer neuen Orthodoxie und Kirche wurde, gehört zum Charakter gerade der abendländischen Geistesgeschichte.27

Überall im Norden pflegte der pater familias für das Haus, der Häuptling für den Stamm die Beziehungen zu den Mächten der Umwelt,28 und ihr Ansehen, unter Umständen ihre Stellung hingen von dem »Glück«,29 der heiligen Kraft, ab, die sich bei Ausübung der Bräuche und bei jeder Tat überhaupt durch den Erfolg bewährte. In China ist daraus die Lehre von der glückbringenden »Tugend« des Kaisers geworden. Wenn die kosmischen Mächte das Land durch Dürre, Überschwemmung, Krankheit, Niederlagen heimsuchten, so lag der Grund in der mangelnden »Tugend« des Herrschers. Eng damit verwandt ist die Verehrung der virtus, fortuna, spes Augusta im kaiserlichen Rom. Es gab überall Staats-, Geschlechter- und Hauskulte, aber keinen unabhängigen Tempelkult. Der Gode im alten Island, der Schamane in Nordasien, der »Priesterbeter« (chuh) in China, der Purohita (Hauspriester) der altindischen Könige der Vedazeit waren wie die Vorbilder der dichterischen Gestalten von Kalchas und Teiresias Privatpersonen, die aus ihrer Sehergabe, Zauberkraft[239] kraft und Beschwörungskunst ein Gewerbe machten und die man berief, wenn man sie brauchte.30 Wo in den nordeurasisch gestalteten Hochkulturen der Priesterstand eine Macht war wie im vedischen Indien und im gotischen Abendland, da liegt es daran, daß die erobernden Herrenstämme diese Macht vorfanden und als gegebene Größe um ihrer Zaubergewalt willen verehrten und sich zunutze machten, ganz nach der altrömischen Formel di quibus est potestas nostrorum hostiumque.31 Ebenso ragen in die antike Welt der Stadtstaaten die Priesterstaaten von Delphi und Eleusis als Fremdkörper aus der Vorzeit herein, der zweite von Athen sicher nicht ohne Widerstand einverleibt, der erste sich gegen die hellenische Staatsidee behauptend, nachdem er sich in langen Kämpfen aus dem phokischen Stammesverband gelöst hatte. Aber nicht anders stand es im weiteren östlichen Umkreis der Kaftiwelt: Das Didymaion bei Milet, der Tempel von Ephesos, die kyprischen Heiligtümer, deren priesterliche Hierachie den anders denkenden Griechen immer aufgefallen ist, die »Gottesstädte« im Hethiterreich32 sind Staaten im Staat gewesen. Wie die Branchiden am Didymaion gegen das jonische, so haben die Priester von Pessinus sich gegen das galatische Volkstum gewendet, dem sie durch ihre Geburt angehörten, um für die Interessen des Tempelstaates zu wirken. »Das Amt war stärker als das Blut.«33

Von solchen Tatsachen der kulturverwandten Umwelt aus haben wir die Lage der Kaftizeit zu beurteilen, von der wir unmittelbar nichts wissen. Die Tatsache einerseits einer oligarchischen Seeherrschaft, andrerseits von Heiligtümern westlichen Stils, die von alten, vielleicht längst verschollenen Stämmen begründet waren und die seitdem eine eigne Politik getrieben haben müssen, auch wenn ihre Priester aus den ersten Familien der Kafti stammten, steht wahrscheinlich in irgendeinem Zusammenhang mit dem Anbruch und dem Ende der Kaftiherrschaft, die beide[240] von einer vollkommenen Zerstörung der großen Tempel begleitet waren.

1

Oder seiner Inkarnation, etwa des heiligen Stieres?

2

Die beiden Oberpriester des Heiligtums von Pessinus hießen stets Attis und Battakos, mindestens der erste zugleich Name eines Gottes, die beiden Priester des Tempels von Olbe in Kilikien, wo der Kaftiname sich später noch in der Form Japhet erhielt, stets Aias und Teukros. Wie steht es mit »Minus und Rhadamanthys«?

3

Oder Labarna, der Name eines alten Hethiterkönigs, der später im amtlichen Sprachgebrauch eine Bezeichnung des Herrschers überhaupt geworden ist.

4

Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, 2, § 182.

5

Ebenda II, 2, S. 140.

6

Nämlich Tyrus. Vgl. Athene Polias.

7

Im Thrakischen ist Heros nach griechischer Angabe der Name eines Gottes gewesen.

8

Wilamowitz, Glaube der Hellenen I S. 237.

9

Der Kult selbst stammt mit dem Namen des Gottes aus dem Osten, aber die Rolle des Stiers in ihm ist westlich.

10

Auch im alten China und Indien wäre eine Priesterin etwas Lächerliches gewesen. Kassandra wird erst in der Dichtung seit dem 7. Jahrhundert zur Priesterin.

11

Stehen Phaistos und Hephaistos, beides vorgriechische Namen, Velchanos und der italische Volcanus, der dann später mit Hephaistos gleichgesetzt wurde, in engerem Zusammenhang?

12

Kronos sitzt bei Homer und Hesiod im Tartaros, bei Pindar und Aischylos auf den seligen Inseln. War das nur der Name des Minos in einer andern Sprache?

13

Auch Trito und Tritonia.

14

Die auf kleinasiatischen Darstellungen – nicht des Men! – vorkommende Mondsichel beweist das Gegenteil. Sie ist infolge der weiblichen Monatsregel das uralte Symbol der Muttergottheit. In Spanien läßt sie sich von den ältesten Zeiten an über iberische, phönikische und römische Grabsteine bis zu den Madonnen Murillos verfolgen. Die Namen wechseln: Tanit, Isis, Venus, Maria, aber die Idee bleibt dieselbe.

15

Μὴν Τιάμου, Καυαληνός, Ἀζιοττηνός, Καμαρείτης usw.

16

Armenien einst und jetzt II S. 678; Klio 27 S. 350.

17

Die Denkmäler der Felsarchitektur (1930).

18

Es ist deshalb sehr wohl möglich, daß die Phaiaken – wenn das Wort griechisch ist und Graumänner bedeutet (Wilamowitz, Glaube der Hellenen I S. 314) – auf Vorstellungen der Kaftizeit zurückgeht, wonach sie die Toten nach der Insel der Seligen fuhren, und daß daher das Bild des glücklichen Phaiakenlandes stammt. Aber das ist so vollkommen von der Fantasie äolisch-jonischer Dichter umgestaltet worden – eine ältere Fassung kennen wir nicht –, daß jeder Versuch, daraus das Urbild oder gar die geographische Lage zu ermitteln, sinnlos ist.

19

Auch dieser Name ist selbstverständlich jünger als der Kult.

20

Altheim, Studi e materiali di storia delle religioni (1934), XII S. 145 ff.

21

Die »Idee« des Haustiers, der Ersatz der Jagd durch die Zucht, stammt von hier, lange vor dem Anbruch der babylonischen Hochkultur, und ist von hier aus noch im 4. Jahrtausend nach Ostasien, Europa und Nordafrika vorgedrungen. Nicht nur sein Fleisch war wichtig; auch seine ruhige feierliche Kraft im Schreiten wurde zum Fortbewegen des Wagens erst bei kultischen Umzügen, dann allgemein zum Transport von Lasten und zum Ziehen des Pfluges nutzbar gemacht. Der Räderwagen selbst ist hier entstanden. Nach dem Vorbild der Priester und Mächtigen haben die Kleinbauern den Gedanken der Züchtung auf geringere Tiere, Schafe, Ziegen und Esel angewendet. Der sehr viel späteren Zucht des Pferdes liegt eine ganz neue, kriegerische Idee zugrunde, von der in anderem Zusammenhange gesprochen werden soll. Ich habe das Ostasiat. Ztschr. 1934, 1./2. Heft S. 56 ff. angedeutet.

22

Die spanischen Stierkämpfe, über deren sicherlich sehr frühen Ursprung bisher wenig ermittelt worden ist, waren noch zur Barockzeit ein äußerst gefährliches Privilegium des Adels. Der einzelne Mann trat mit dem Degen in der Hand dem Tier entgegen, um seine Geschicklichkeit zu zeigen. Erst im 19. Jahrhundert ist das zu einem Pöbelschauspiel entartet, bei dem berufsmäßige Truppen ein nur noch scheinbar gefährliches Gewerbe ausüben. Jeder Stier wird in etwa 20 Minuten »erledigt«.

23

Unt. d. Abendl. II Kap. 3 § 15.

24

Unt. d. Abendl. II Kap. 4 § 2.

25

Es war der Organisation, Lehre und Tätigkeit nach durchaus »westlich«. »Nordisch« berührt nur die Tatsache, daß es stets die Politik der regierenden Geschlechter gestützt hat, also gewissermaßen Hauspriestertum des Staates war.

26

Man hat früher sogar geglaubt, daß die Bezeichnung der verschnittenen Priester als galli von dem eignen Galliernamen herrühre, indessen ist sie viel älter.

27

Das gilt vom Luthertum und Kalvinismus, von Voltairianern, Jakobinern und Sozialisten bis zu den Freidenkern des vorigen Jahrhunderts und allen philosophischen und wissenschaftlichen Schulen.

28

Wissowa, Religion und Kultus der Römer, S. 412 f. Wilamowitz, Glaube der Hellenen I S. 36 ff. Schindler, Das Priestertum im alten China, S. 4, 35.,

29

Grönbech, Die Germanen, in Chantepie de la Saussaye, Lehrbuch der Religionsgeschichte (1925) II S. 555 ff.

30

Maspero, La Chine Antique (1927), S. 197 ff. Die religiöse Funktion des Stammeshäuptlings hat sich in Rom – wie in den hellenischen Stadtstaaten – im rex sacrorum erhalten.

31

Unt. d. Abendl. I S. 518.

32

Götze, Kleinasien (1933) S. 96.

33

Stähelin, Geschichte der kleinasiatischen Galater (1907) S. 77.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 228-241.
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