5. Über die Macht der Erkenntnis, oder die menschliche Freiheit

Vorwort

[352] Ich komme nun endlich zur anderen Seite der Ethik, welche die Mittel und Wege betrifft, die zur Freiheit führen. In diesem Teile werde ich also von der Macht der Vernunft handeln, indem ich zeige, was die Vernunft wider die Affekte vermag, sodann auch, was die Freiheit des Geistes oder die Glückseligkeit ist. Wir werden daraus ersehen, um wieviel der Weise mächtiger ist als der Unwissende.

In welcher Weise aber und auf welchem Wege der Verstand zu vervollkommnen sei, und ferner, mit welcher Kunst der Körper gepflegt werden müsse, um seine Funktionen gehörig verrichten zu können, gehört nicht hierher. Denn dieses gehört in die Medizin, jenes zur Logik.

Hier also werde ich, wie gesagt, bloß von der Macht des Geistes oder der Vernunft handeln und vor allem zeigen, wie groß und welcher Art ihre Gewalt über die Affekte ist, sie einzuschränken oder zu mäßigen. Denn daß wir keine absolute Gewalt über sie besitzen, habe ich schon oben bewiesen.

Die Stoiker dagegen waren der Meinung, daß die Affekte absolut von unserem Willen abhängig seien und daß wir sie absolut beherrschen könnten. Die damit im Widerspruch stehende Erfahrung, keineswegs aber ihre Prinzipien, nötigte sie jedoch zu dem Geständnis, daß es nicht geringer Übung und Anstrengung bedürfe, um dieselben einzuschränken und im Zaum zu halten; was jemand (wenn ich mich recht erinnere) an dem Beispiel zweier Hunde, eines Haushunds und eines Jagdhunds, zu zeigen versucht hat. Er brachte es nämlich durch fortgesetzte Übung so weit, daß der Haushund an das Jagen[352] gewöhnt, dem Jagdhund dagegen die Verfolgung der Hasen abgewöhnt wurde.

Zu dieser Ansicht neigt sich auch Cartesius nicht wenig hin. Denn er nimmt an, die Seele oder der Geist sei hauptsächlich mit einem gewissen Teil des Gehirns vereinigt, mit demjenigen nämlich, den man die Zirbeldrüse nennt, vermittelst deren der Geist alle Bewegungen, welche im Körper erregt werden, und die äußern Objekte wahrnimmt und welche der Geist dadurch allein, daß er will, verschiedenartig bewegen kann. Diese Drüse schwebt nach seiner Annahme so in der Mitte des Gehirns, daß sie durch die geringste Bewegung der Lebensgeister bewegt werden kann. Ferner behauptet er, daß diese Drüse auf ebensoviel verschiedene Weisen in der Mitte des Gehirns schwebt, auf so verschiedene Weisen sie von den Lebensgeistern einen Anstoß empfängt, und daß außerdem ebensoviel verschiedene Spuren in sie eingedrückt werden, soviel verschiedene äußere Objekte die Lebensgeister selbst gegen die Drüse stoßen. Daher komme es, daß, wenn die Drüse später von dem Willen der Seele, der sie verschiedenartig bewegt, in diese oder jene schwankende Lage gebracht wird, in welche sie schon einmal von den auf diese oder jene Weise angeregten Lebensgeistern gebracht worden war, die Drüse selbst dann wieder die Lebensgeister auf dieselbe Weise anstößt und bestimmt, wie diese früher von der ähnlich schwebenden Lage der Drüse zurückgestoßen wurden. – Weiter nimmt er an, daß jedes Wollen des Geistes von Natur mit irgendeiner bestimmten Bewegung der Drüse vereinigt (verbunden) sei. Wenn z.B. jemand den Willen hat, ein entferntes Objekt zu betrachten, so wird dieses Wollen die Wirkung haben, daß sich die Pupille erweitert. Wenn er aber bloß an die Erweiterung der Pupille denkt, so wird es nichts nützen, den Willen dazu zu haben, weil die Natur die Bewegung der Drüse, welche dazu dient, den Lebensgeistern einen solchen Anstoß gegen den Sehnerv zu geben, welcher die Erweiterung oder Erweiterung der Pupille entspricht, nicht mit dem Willen, die Pupille zu[353] erweitern oder zu verengen, verbunden hat, sondern lediglich mit dem Willen, ein fernes oder nahes Objekt zu betrachten.

Endlich behauptete er, daß, obgleich alle Bewegungen dieser Drüsen durch die Natur mit gewissen Gedanken, die wir haben, seit Beginn unseres Lebens verbunden zu sein scheinen, sie dennoch infolge von Angewöhnung mit anderen verbunden werden können; was er im ersten Teil seiner Schrift »Über die Leidenschaften«, Artikel 50, zu erweisen sucht.

Cartesius folgert hieraus, daß keine Seele so schwach wäre, daß sie nicht, bei guter Anleitung, eine absolute Macht über ihre Leidenschaft erlangen könnte. Denn diese sind, nach seiner Definition, Wahrnehmungen oder Empfindungen oder Bewegungen der Seele, die sich speziell auf sie beziehen und welche – wohlgemerkt! – hervorgebracht, erhalten und verstärkt werden durch irgendeine Bewegung der Lebensgeister. (Man sehe »Über die Leidenschaften«, Teil 1, Artikel 27.) Da wir nun mit jedwedem Wollen jedwede Bewegung der Drüse und folglich auch der Lebensgeister verbinden können und die Bestimmung des Willens lediglich in unserer Macht liegt, so werden wir also eine absolute Herrschaft über unsere Leidenschaften erlangen, wenn wir unsern Willen durch sichere und feste Urteile, nach denen wir unser Tun und Lassen regeln wollen, bestimmen und die Bewegungen der Leidenschaften, die wir haben wollen, mit diesen Urteilen verbinden würden.

Dies die Ansicht jenes hochberühmten Mannes (soweit ich sie seinen eigenen Worten entnehme). Ich würde aber kaum glauben, daß sie von einem so großen Manne herrühre, wenn sie nicht so scharfsinnig wäre. Ich kann mich wahrlich nicht genug wundern, daß ein Philosoph, der sich zum festen Grundsatz gemacht hat, alles nur aus Prinzipien abzuleiten, die durch sich selbst klar sind, und nichts zu behaupten, als was er klar und deutlich begreift,[354] und der die Scholastiker so oft getadelt hat, weil sie dunkle Dinge durch verborgene Qualitäten erklären wollten, selbst einer Hypothese huldigt, welche dunkler ist als alle verborgenen Qualitäten!

Was, frage ich, versteht er denn unter Vereinigung des Geistes und des Körpers? Welchen klaren und deutlichen Begriff hat er von einem mit irgendeinem Teilchen einer Masse eng vereinigten Denken? Ich wünschte fürwahr, daß er diese Vereinigung aus ihrer nächsten Ursache erklärt hätte! Er hat aber den Geist so verschieden vom Körper aufgefaßt, daß er weder von dieser Vereinigung noch vom Geiste selbst eine besondere Ursache angeben konnte, sondern selbst genötigt war, auf die Ursache des ganzen Universums, d.h. auf Gott, zurückzugehen. – Sodann möchte ich gern wissen, wieviel Grade von Bewegung der Geist dieser Zirbeldrüse mitteilen und wie groß die Kraft ist, mit welcher er sie schwebend erhalten kann. Denn wir erfahren nicht, ob diese Drüse langsamer oder schneller vom Geist herumgetrieben wird als von den Lebensgeistern, und ob die Bewegungen der Leidenschaften, die wir mit festen Urteilen enge verbunden haben, von denselben nicht wieder getrennt werden können. Denn daraus würde folgen, daß, wenn auch der Geist sich fest vorgesetzt haben würde, Gefahren entgegenzugehen und mit diesem Entschluß die Bewegung der Kühnheit verbunden hätte, die Drüse doch, beim Anblick der Gefahr, so schweben würde, daß der Geist nur an die Flucht denken könnte. Und fürwahr, da es kein Verhältnis des Wollens zur Bewegung gibt, so gibt es auch keine Vergleichung zwischen dem Vermögen und den Kräften des Geistes und denen des Körpers; und folglich können die Kräfte des Körpers niemals durch die Kräfte des Geistes bestimmt werden. – Hiezu kommt, daß man diese Drüse nicht in der Mitte des Gehirns so gelegen findet, daß sie so leicht und auf so vielerlei Weisen herumgetrieben werden könnte und daß sich auch nicht alle Nerven bis zu den Gehirnhöhlen erstrecken. –

Alles endlich, was er vom Willen und seiner Freiheit behauptet,[355] lasse ich beiseite, da ich zur Genüge gezeigt habe daß es falsch ist.

Weil also das Vermögen des Geistes, wie oben gezeigt worden, durch die Erkenntnis allein definiert wird, so werden wir die Mittel gegen die Affekte, welche, wie ich glaube, alle Menschen zwar aus Erfahrung kennen, aber weder genau beobachten noch deutlich erkennen, nur aus der Erkenntnis des Geistes bestimmen und aus ihr allein alles dasjenige, was seine Glückseligkeit betrifft, ableiten.


Axiome

I. Wenn in demselben Subjekt zwei entgegengesetzte Tätigkeiten angeregt werden, so wird notwendig entweder in beiden oder in einer allein eine Veränderung geschehen, bis sie aufhören, entgegengesetzt zu sein.

II. Das Vermögen der Wirkung wird durch das Vermögen der Ursache selbst bestimmt, sofern ihr Wesen durch das Wesen der Ursache selbst erklärt oder bestimmt wird. (Dieses Axiom erhellt aus Lehrsatz 7, Teil 3.)[356]


Erster Lehrsatz

So wie die Gedanken und die Ideen der Dinge im Geiste sich ordnen und verketten, genau ebenso ordnen und verketten sich die Erregungen des Körpers oder die Vorstellungen der Dinge im Körper.


Beweis

Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist (nach Lehrsatz 7, Teil 2) dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge, und umgekehrt ist die Ordnung und Verknüpfung der Dinge (nach den Zusätzen zu den Lehrsätzen 6 und 7, Teil 2) dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Ideen. So wie daher die Ordnung und Verknüpfung der Ideen im Geiste der Ordnung und Verkettung der Körpererregungen entspricht (nach Lehrsatz 18, Teil 2), so entspricht umgekehrt (nach Lehrsatz 2, Teil 3) die Ordnung und Verknüpfung der Körpererregungen der Ordnung und Verkettung der Gedanken und der Ideen der Dinge im Geiste. – W.z.b.w.


Zweiter Lehrsatz

Wenn wir eine Gemütsbewegung oder ehren Affekt von dem Gedanken der äußern Ursache trennen und mit anderen Gedanken verbinden, so werden die Liebe oder der Haß gegen die äußere Ursache wie auch die Schwankungen des Gemüts, die aus diesen Affekten entspringen, vernichtet werden.


Beweis

[357] Denn das, was die Form der Liebe oder des Hasses ausmacht, ist Lust oder Unlust, verbunden mit der Idee einer äußern Ursache (nach den Definitionen der Affekte, Ziffern VI und VII). Wird also diese aufgehoben, so wird die Form der Liebe oder des Hasses zugleich damit aufgehoben. Daher werden diese Affekte und die, welche aus ihnen entspringen, vernichtet werden.


Dritter Lehrsatz

Ein Affekt, der ein Leiden ist, hört auf, ein Leiden zu sein, sobald wir eine klare und deutliche Idee von ihm bilden.


Beweis

Ein Affekt, der ein Leiden ist, ist eine verworrene Idee (nach der allgemeinen Definition der Affekte). Wenn wir daher eine klare und deutliche Idee von diesem Affekt bilden, so wird diese Idee von dem Affekt selbst, sofern er bloß auf den Geist bezogen wird, nur nach dem Verhältnis verschieden sein (nach Lehrsatz 21, Teil 2, mit seiner Anmerkung). Somit wird der Affekt aufhören, ein Leiden zu sein.


Zusatz

Ein Affekt steht daher desto mehr in unserer Gewalt, und der Geist leidet desto weniger von ihm, je bekannter er uns ist.
[358]


Vierter Lehrsatz

Es gibt keine Körpererregung, von der wir nicht einen klaren und deutlichen Begriff bilden können.


Beweis

Was allen gemeinsam ist, kann nicht anders begriffen werden als adäquat (nach Lehrsatz 38, Teil 2). Folglich gibt es (nach Lehrsatz 12 und Hilfssatz 2, der auf die Anmerkung zu Lehrsatz 13, Teil 2 folgt) keine Körpererregung, von der wir nicht einen klaren und deutlichen Begriff bilden können. – W.z.b.w.


Zusatz

Hieraus folgt, daß es keinen Affekt gibt, von dem wir nicht einen klaren und deutlichen Begriff bilden können. Denn ein Affekt ist die Idee einer Körpererregung (nach der allgemeinen Definition der Affekte), welche daher einen klaren und deutlichen Begriff in sich schließen muß.


Anmerkung

Da es nichts gibt, woraus nicht irgendeine Wirkung erfolgt (nach Lehrsatz 36, Teil 1), und da wir alles dasjenige, was aus einer Idee, die in uns adäquat ist, folgt, klar und bestimmt erkennen (nach Lehrsatz 40, Teil 2), so folgt daraus, daß jeder die Macht hat, sich und seine Affekte, wenn auch nicht absolut, so doch teilweise, klar und deutlich zu erkennen und folglich auch zu bewirken, daß er weniger von ihnen erleide.

Darauf hauptsächlich muß daher unser Bemühen gerichtet sein, daß wir jeden Affekt soviel als möglich klar und deutlich erkennen, damit so der Geist von dem Affekt aus zum Denken dessen bestimmt werde, was er klar und deutlich erfaßt und worin er sich vollständig beruhigt;[359] und so der Affekt selbst von dem Gedanken der äußern Ursache losgelöst und mit wahren Gedanken verbunden werde. Die Folge hiervon wird sein, daß nicht bloß die Liebe, der Haß usw. vernichtet werden (nach Lehrsatz 2 dieses Teils), sondern auch, daß das Verlangen oder die Begierde, welche gewöhnlich aus einem solchen Affekte entspringen, kein Übermaß haben können (nach Lehrsatz 61, Teil 4).

Es ist nämlich vor allem zu bemerken, daß es ein und dasselbe Verlangen ist, wegen dessen der Mensch sowohl tätig als leidend heißt. Zum Beispiel, wenn ich gezeigt habe, daß die menschliche Natur so beschaffen ist, daß jeder verlangt, die anderen sollen nach Seinem Sinne leben (s. Anmerkung zu Lehrsatz 31, Teil 3), so ist dieses Verlangen bei einem Menschen, der nicht von der Vernunft geleitet wird, ein Leiden, welches Ehrgeiz heißt und sich vom Hochmut nicht sehr unterscheidet; bei einem Menschen dagegen, der nach dem Gebot der Vernunft lebt, ist es eine Handlung oder eine Tugend, welche Frömmigkeit heißt (s. die 1. Anmerkung zu Lehrsatz 37, Teil 4, und den 2. Beweis zu demselben Lehrsatz). Und so sind alle Verlangen oder Begierden nur insofern Leiden, sofern sie aus inadäquaten Ideen entspringen, sie werden aber zu den Tugenden gerechnet, wenn sie von adäquaten Ideen hervorgerufen oder erzeugt werden. Denn alle Begierden, durch welche wir bestimmt werden, etwas zu tun, können sowohl von adäquaten als von inadäquaten Ideen herrühren (s. Lehrsatz 59, Teil 4).

Es kann (um wieder auf das zurückzukommen, wovon ich ausgegangen bin) gegen die Affekte kein vortrefflicheres in unserer Macht stehendes Heilmittel erdacht werden als dieses, welches in der wahren Erkenntnis derselben besteht. Denn es gibt ja kein anderes Vermögen des Geistes als das Denken und das Bilden adäquater Ideen, wie oben (Lehrsatz 3, Teil 3) gezeigt worden ist.


Fünfter Lehrsatz

[360] Der Affekt gegen ein Ring, das wir uns schlechthin vorstellen, also weder als notwendig noch als möglich noch als zufällig, ist, bei sonst gleichen Umständen, unter allen Affekten der stärkste.


Beweis

Der Affekt gegen ein Ding, das wir uns frei vorstellen, ist stärker als gegen ein notwendiges (nach Lehrsatz 49, Teil 3) und folglich noch viel stärker als der Affekt gegen ein Ding, das wir uns als möglich oder zufällig vorstellen (nach Lehrsatz 11, Teil 4). Ein Ding sich als frei vorstellen kann aber nichts anderes sein, als daß wir uns das Ding schlechthin vorstellen, indem wir die Ursachen, von welchen es zum Handeln bestimmt wurde, unbeachtet lassen (nach dem, was in der Anmerkung zu Lehrsatz 35, Teil 2, gezeigt wurde). Folglich ist der Affekt gegen ein Ding, das wir uns schlechthin vorstellen, bei sonst gleichen Umständen stärker als gegen ein notwendiges, mögliches oder zufälliges, und mithin ist er der stärkste. – W.z.b.w.


Sechster Lehrsatz

Sofern der Geist alle Dinge als notwendige erkennt, insofern hat er eine größere Macht über die Affekte oder leidet er weniger von ihnen.


Beweis

Der Geist erkennt, daß alle Dinge notwendig sind (nach Lehrsatz 29, Teil 1) und durch eine unendliche Kette von Ursachen zum Existieren und Wirken bestimmt werden (nach Lehrsatz 28, Teil 1). Daher bewirkt er insofern (nach dem vorigen Lehrsatz), daß er von den Affekten, die aus ihnen entspringen, weniger leidet und (nach Lehrsatz 48, Teil 3) weniger gegen sie erregt wird. – W.z.b.w.


Anmerkung

[361] Je mehr diese Erkenntnis, daß nämlich die Dinge notwendig sind, auf die Einzeldinge, die wir uns deutlicher und lebhafter vorstellen, sich erstreckt, um so größer ist diese Macht des Geistes über die Affekte.

Es bezeugt dies auch die Erfahrung. Denn wir sehen, daß die Unlust über ein verlorenes Gut gemildert wird, sobald der Mensch, der den Verlust dieses Guts erlitten hat, bedenkt, daß es auf keine Weise erhalten werden konnte. – So sehen wir auch, daß niemand die Kinder bemitleidet, weil sie nicht sprechen und laufen, keine Vernunftschlüsse machen können und mehrere Jahre gewissermaßen ohne Bewußtsein ihres Selbst verleben. Würden aber die meisten Menschen als Erwachsene und nur der eine und andere als Kind geboren werden, so würde jedermann die Kinder bemitleiden. Denn alsdann würde man den Zustand der Kindheit nicht als etwas Natürliches und Notwendiges, sondern als einen Fehler oder ein Versehen der Natur betrachten. – Dergleichen könnte noch vieles angeführt werden.


Siebenter Lehrsatz

Die Affekte, welche aus der Vernunft entspringen oder vor; ihr erregt werden, sind in bezug auf die Zeit stärker als diejenigen, die sich auf Einzeldinge beziehen, welche wir als abwesend betrachten.


Beweis

Wir betrachten ein Ding nicht vermöge des Affekts, durch welchen wir es vorstellen, als abwesend, sondern deshalb, weil der Körper von einem andern Affekt erregt wird, welcher die Existenz dieses Dinges ausschließt (nach Lehrsatz 17, Teil 2). Daher ist ein Affekt, der sich auf ein Ding bezieht, das wir als abwesend betrachten, nicht von[362] solcher Natur, daß er die übrigen Handlungen des Menschen und sein Vermögen übertrifft (s. hierüber Lehrsatz 6, Teil 4), vielmehr ist er von solcher Natur, daß er von denjenigen Erregungen, welche die Existenz ihrer äußern Ursache ausschließen, auf gewisse Weise eingeschränkt werden kann (nach Lehrsatz 9, Teil 4). – Ein Affekt aber, der aus der Vernunft entspringt, bezieht sich notwendig auf die gemeinsamen Eigenschaften der Dinge (s. die Definition der Vernunft in der 2. Anmerkung zu Lehrsatz 40, Teil 2), die wir immer als gegenwärtig betrachten (denn es kann nichts geben, was ihre gegenwärtige Existenz ausschließt) und immer auf dieselbe Weise vorstellen (nach Lehrsatz 38, Teil 2). Daher bleibt ein solcher Affekt stets derselbe, und folglich müssen (nach Axiom I dieses Teils) die Affekte, die ihm entgegengesetzt sind und die von ihren äußeren Ursachen nicht genährt werden, sich ihm mehr und mehr anbequemen, bis sie nicht mehr entgegengesetzt sind. Und insofern ist ein Affekt, der aus ›der Vernunft entspringt, der stärkere. – W.z.b.w.


Achter Lehrsatz

Von je mehr zusammenwirkenden Ursachen ein Affekt erregt wird, desto stärker ist er.


Beweis

Viele Ursachen zusammen vermögen mehr, als wenn es nicht so viele wären (nach Lehrsatz 7, Teil 3). Folglich ist (nach Lehrsatz 5, Teil 4) ein Affekt um so kräftiger, von je mehr zusammenwirkenden Ursachen er erregt wird. – W.z.b.w.


Anmerkung

Dieser Lehrsatz erhellt auch aus Axiom II dieses Teils.
[363]


Neunter Lehrsatz

Ein Affekt, der sich, auf viele und verschiedene Ursachen bezieht, die der Geist mit dein Affekt zugleich betrachtet, ist minder schädlich, und wir leiden minder durch ihn und sind gegen jede einzelne Ursache minder erregt als ein anderer, gleich starker Affekt, der sich bloß auf Eine Ursache oder auf wenigere bezieht.


Beweis

Ein Affekt ist nur insofern schlecht oder schädlich, sofern der Geist durch ihn am Denken gehindert wird (nach den Lehrsätzen 26 und 27, Teil 4). Daher ist ein Affekt, durch welchen der Geist bestimmt wird, viele Objekte zugleich zu betrachten, minder schädlich als ein anderer, gleich starker Affekt, welcher den Geist in der Betrachtung bloß eines einzelnen Objekts oder einer geringeren Anzahl von Objekten so festhält, daß er an andere nicht denken kann. Damit ist das erste bewiesen. – Da ferner das Wesen des Geistes, d.h. (nach Lehrsatz 7, Teil 3) sein Vermögen, im Denken allein besteht (nach Lehrsatz 11, Teil 2), so leidet folglich der Geist durch einen Affekt, durch welchen er bestimmt wird, vieles zugleich zu betrachten, weniger als durch einen gleich starken Affekt, welcher den Geist in der Betrachtung bloß eines einzelnen Objekts oder einer geringeren Anzahl von Objekten festhält. Damit ist das zweite bewiesen. – Endlich ist auch dieser Affekt (nach Lehrsatz 48, Teil 3), sofern er sich auf viele äußere Ursachen bezieht, gegen jede einzelne derselben schwächer. – W.z.b.w.


Zehnter Lehrsatz

[364] Solange wir nicht von Affekten bestürmt werden, die unserer Natur entgegengesetzt sind, solange haben wir die Macht, die Körpererregungen gemäß ihrer Ordnung nach der Erkenntnis zu ordnen und zu verketten.


Beweis

Affekte, die unserer Natur entgegengesetzt sind, d.h. (nach Lehrsatz 30, Teil 4), die schlecht sind, sind insofern schlecht, sofern sie den Geist am Erkennen hindern (nach Lehrsatz 27, Teil 4). Solange wir also von Affekten, die unserer Natur entgegengesetzt sind, nicht bestürmt werden, solange wird das Vermögen des Geistes, womit er die Dinge zu erkennen strebt (nach Lehrsatz 26, Teil 4), nicht gehindert, und solange vermag er daher, klare und deutliche Ideen zu bilden und Ideen von Ideen abzuleiten (s. die Anmerkung zu Lehrsatz 40 und die Anmerkung zu Lehrsatz 47, Teil 2). Folglich (nach Lehrsatz 1 dieses Teils) haben wir so lange auch die Macht, die Körpererregungen gemäß ihrer Ordnung nach der Erkenntnis zu ordnen und zu verketten. – W.z.b.w.


Anmerkung

Durch diese Macht, die Körpererregungen richtig zu ordnen und zu verketten, können wir bewirken, daß wir nicht leicht von schlimmen Affekten erregt werden. Denn es ist (nach Lehrsatz 7 dieses Teils) eine größere Kraft erforderlich, die Affekte, welche gemäß ihrer Ordnung nach der Erkenntnis geordnet und verkettet sind, einzuschränken als die unsicheren und schwankenden.

Das Beste also, was wir tun können, solange wir keine vollkommene Erkenntnis unserer Affekte haben, ist, daß wir uns eine richtige Methode der Lebensweise oder bestimmte Lebensregeln aufstellen, sie unserem Gedächtnis[365] einprägen und In den einzelnen, im Leben häufig vorkommenden Fällen anwenden, damit so unsere Vorstellung von ihnen tief durchdrungen werde und wir dieselben jederzeit vor Augen haben.

So habe ich z.B. unter andern die Lebensregel aufgestellt (s. Lehrsatz 46, Teil 4, mit seiner Anmerkung), daß man den Haß durch Liebe oder Edelmut besiegen, nicht aber durch Gegenhaß erwidern solle. Damit wir aber dieser Vorschrift der Vernunft immer eingedenk seien, wo sie zur Anwendung kommen soll, muß man über die Kränkungen, welche die Menschen einander gewöhnlich zufügen, nachdenken und oft darüber nachsinnen, auf welche Art und durch welche Mittel dieselben am besten durch Edelmut abgewehrt werden können. Denn so werden wir die Vorstellung der Kränkung mit der Vorstellung dieser Lebensregel verbinden, und wir werden derselben (nach Lehrsatz 18, Teil 2) stets eingedenk sein, sobald uns eine Kränkung widerfährt.

Wenn wir nun auch noch die Rücksicht auf unsern wahren Nutzen vor Augen haben werden und auch des Guten eingedenk sind, das aus der gegenseitigen Freundschaft und der gemeinsamen Vereinigung erfolgt, und ferner daran denken, daß aus einer richtigen Lebensweise die höchste Befriedigung der Seele entspringt (nach Lehrsatz 52, Teil 4) und daß die Menschen wie alles andere aus Naturnotwendigkeit handeln, so wird die Kränkung oder der Haß, der aus ihr zu entspringen pflegt, den geringsten Teil unserer Vorstellung einnehmen und leicht überwunden werden. Und wenn der Zorn der aus sehr schweren Kränkungen zu entspringen pflegt nicht so leicht überwunden werden sollte, so wird er, wenn auch nicht ohne Seelenkampf, dann doch in viel kürzerer Zeit überwunden werden, als wenn wir vorher nicht in der angegebenen Weise darüber nachgedacht hätten, wie aus den Lehrsätzen 6, 7 und 8 dieses Teils erhellt.

Gleicherweise müssen wir über die Seelenstärke nachdenken, um die Furcht abzulegen. Wir müssen uns nämlich die im Leben vorkommenden Gefahren vorrechnen und[366] öfters vorstellen und überlegen, wie sie durch Geistesgegenwart und Mut am besten vermieden werden können.

Es ist aber zu bemerken, daß wir beim Ordnen unserer Gedanken und Vorstellungen immer auf das achten müssen (nach Zusatz zu Lehrsatz 63, Teil 4, und Lehrsatz 59, Teil 3), was in jedem Ding gut ist, damit wir so stets durch den Affekt der Lust zum Handeln bestimmt werden. Wenn z.B. jemand bemerkt, daß er allzusehr nach Ruhm dürstet, so möge er über dessen richtigen Gebrauch nachdenken und auch, zu welchem Zweck ihm nachzutrachten sei und mit welchen Mitteln derselbe erlangt werden könne; nicht aber über den Mißbrauch desselben und dessen Eitelkeit oder über die Unzuverlässigkeit der Menschen und anderes dieser Art, worüber man nur bei verstimmtem Gemüt nachdenkt. Denn mit solchen Gedanken quälen sich gerade die Ehrgeizigsten am allermeisten, wenn sie daran verzweifeln, die heißbegehrten Ehren zu erlangen; und während sie ihrem Zorn Luft machen, wollen sie weise scheinen. Daher ist es gewiß, daß diejenigen die Ruhmbegierigsten sind, welche das größte Geschrei erheben über den Mißbrauch des Ruhms und die Eitelkeit der Welt.

Übrigens ist dies nicht eine ausschließliche Eigenschaft der Ehrgeizigen, sondern allen geistigen Schwächlingen eigen, denen das Glück nicht günstig ist. Denn auch der Arme, der gern reich sein möchte, redet unaufhörlich vom Mißbrauch des Geldes und den Lastern der Reichen, womit er aber keine andere Wirkung erzielt, als daß er sich ärgert und andern zeigt, daß er nicht bloß über die eigene Armut, sondern auch über den Reichtum anderer Groll hegt. – Ebenso machen es Männer, die von ihrer Geliebten übel aufgenommen wurden; sie denken nur an den Wankelmut der Weiber und ihr falsches Herz und an andere abgedroschene Vorwürfe, die man den Weibern macht.

Wer also seine Affekte und Neigungen aus Liebe zur Freiheit allein zu zügeln trachtet, der wird sich angelegen sein[367] lassen, sosehr er kann, die Tugenden und ihre Ursachen kennenzulernen und seine Seele mit der Freude zu erfüllen, die aus dieser wahren Erkenntnis entspringt; nicht aber wird er sich mit der Betrachtung der menschlichen Laster abgeben, die Menschen durchhecheln und am Schein einer falschen Freiheit Freude haben. Und wer hierauf mit Eifer sein Augenmerk richtet (denn es ist nicht schwer) und sich darin übt, der wird sicherlich in kurzer Zeit seine Handlungen meist nach den Geboten der Vernunftregeln können.


Elfter Lehrsatz

Auf je mehr Dinge sich eine Vorstellung bezieht, um so häufiger ist sie oder um so öfter lebt sie auf, und desto mehr nimmt sie den Geist ein.


Beweis

Denn auf je mehr Dinge sich eine Vorstellung oder ein Affekt bezieht, desto mehr Ursachen sind vorhanden, von welchen sie hervorgerufen und genährt werden kann. Sie alle betrachtet der Geist (nach der Voraussetzung) vermöge des Affekts miteinander. Daher ist der Affekt um so häufiger oder lebt um so öfter auf und nimmt den Geist desto mehr ein. – W.z.b.w.


Zwölfter Lehrsatz

Die Vorstellungen der Dinge werden leichter mit Vorstellungen verbunden, die sich auf Dinge beziehen, welche wir klar und deutlich erkennen, als mit anderen.


Beweis

[368] Die Dinge, welche wir klar und deutlich erkennen, sind entweder gemeinsame Eigenschaften der Dinge oder was von diesen abgeleitet wird (s. die Definition der Vernunft in der 2. Anmerkung zu Lehrsatz 40, Teil 2), und sie werden folglich (nach dem vorigen Lehrsatz) öfter in uns hervorgerufen. Es kann daher leichter geschehen, daß wir andere Dinge zugleich mit diesen als mit andern zusammen betrachten und folglich auch (nach Lehrsatz 18, Teil 2), daß sie leichter mit diesen als mit andern verbunden werden. – W.z.b.w.


Dreizehnter Lehrsatz

Mit je mehr andern Vorstellungen eine Vorstellung verbunden ist, desto öfter lebt sie auf.


Beweis

Denn mit je mehr andern Vorstellungen eine Vorstellung verbunden ist, desto mehr Ursachen gibt es (nach Lehrsatz 18, Teil 2), von denen sie hervorgerufen werden kann. – W.z.b.w.


Vierzehnter Lehrsatz

Der Geist kann bewirken, daß alle Körpererregungen oder Vorstellungen der Dinge auf die Idee Gottes bezogen werden.


Beweis

Es gibt keine Körpererregung, von welcher der Geist nicht einen klaren und deutlichen Begriff bilden kann (nach[369] Lehrsatz 4 dieses Teils). Daher kann er bewirken (nach Lehrsatz 15, Teil 1), daß alle auf die Idee Gottes bezogen werden. – W.z.b.w.


Fünfzehnter Lehrsatz

Wer sich und seine Affekte klar und deutlich erkennt, liebt Gott und um so mehr, je mehr er sich und seine Affekte erkennt.


Beweis

Wer sich und seine Affekte klar und deutlich erkennt, empfindet Lust (nach Lehrsatz 53, Teil 3), und zwar verbunden mit der Idee Gottes (nach dem vorigen Lehrsatz). Also (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer VI) liebt er Gott, und (aus demselben Grund) um so mehr, je mehr er sich und seine Affekte erkennt. – W.z.b.w.


Sechzehnter Lehrsatz

Diese Liebe zu Gott muß den Geist am meisten einnehmen.


Beweis

Denn diese Liebe ist mit allen Erregungen des Körpers verbunden (nach Lehrsatz 14 dieses Teils) und wird von ihnen allen genährt (nach Lehrsatz 15 dieses Teils). Daher muß sie (nach Lehrsatz 11 dieses Teils) den Geist am meisten einnehmen. – W.z.b.w.


Siebzehnter Lehrsatz

[370] Gott ist frei von allen Leiden und wird von keinem Affekt der Lust oder Unlust erregt.


Beweis

Alle Ideen sind, sofern sie auf Gott bezogen werden, wahr (nach Lehrsatz 32, Teil 2), d.h. (nach Definition 4, Teil 2) adäquat. Daher ist Gott frei von allen Leiden (nach der allgemeinen Definition der Affekte). Ferner kann Gott weder zu größerer noch zu geringerer Vollkommenheit übergehen (nach Zusatz II zu Lehrsatz 20, Teil 1). Daher kann er (nach den Definitionen der Affekte, Ziffern II und III) von keinem Affekt der Lust oder Unlust erregt werden. – W.z.b.w.


Zusatz

Gott liebt und haßt im eigentlichen Sinne niemand. Denn Gott wird (nach obigem Lehrsatz) von keinem Affekt der Lust oder Unlust erregt, und folglich (nach der allgemeinen Definition der Affekte, Ziffern VI und VII) liebt und haßt er auch niemand.


Achtzehnter Lehrsatz

Niemand kann Gott hassen.


Beweis

Die Idee Gottes, welche in uns ist, ist eine adäquate und vollkommene (nach den Lehrsätzen 46 und 47, Teil 2). Sofern wir also Gott betrachten, insofern sind wir tätig (nach Lehrsatz 3, Teil 3). Folglich (nach Lehrsatz 59,[371] Teil 3) kann es eine Unlust, verbunden mit der Idee Gottes, nicht geben, d.h. (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer VII), niemand kann Gott hassen. – W.z.b.w.


Zusatz

Die Liebe zu Gott kann sich nicht in Haß verwandeln.


Anmerkung

Man könnte dagegen einwenden, daß, während wir Gott als die Ursache aller Dinge erkennen, wir damit Gott auch als die Ursache der Unlust betrachten. Darauf erwidere ich aber: Sofern wir die Ursachen der Unlust erkennen, insofern hört dieselbe auf, ein Leiden zu sein (nach Lehrsatz 3 dieses Teils), d.h. (nach Lehrsatz 59, Teil 3), insofern hört sie auf, Unlust zu sein. Sofern wir daher Gott als Ursache der Unlust betrachten, insofern empfinden wir Lust.


Neunzehnter Lehrsatz

Wer Gott liebt, kann nicht wünschen, daß Gott ihn wiederliebt.


Beweis

Wenn der Mensch dies wünschen würde, so würde er folglich wünschen (nach Zusatz zu Lehrsatz 17 dieses Teils), daß Gott, den er liebt, nicht Gott sei, und folglich (nach Lehrsatz 19, Teil 3) würde er Unlust zu empfinden wünschen, was (nach Lehrsatz 28, Teil 3) widersinnig ist. Folglich wird, wer Gott liebt, usw. – W.z.b.w.


Zwanzigster Lehrsatz

[372] Diese Liebe zu Gott kann weder durch den Affekt des Neids noch der Eifersucht getrübt werden, sondern sie wird desto mehr genährt, je mehr Menschen wir uns durch dasselbe Band der Liebe mit Gott verbunden vorstellen.


Beweis

Diese Liebe zu Gott ist das höchste Gut, das wir nach dem Gebot der Vernunft verlangen können (nach Lehrsatz 28 Teil 4) und von dem wir wünschen, daß alle Menschen sich desselben erfreuen (nach Lehrsatz 37, Teil 4). Daher kann sie (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer XXIII) durch den Affekt des Neids nicht befleckt werden und ebensowenig (nach Lehrsatz 18 dieses Teils und der Definition der Eifersucht, s. dieselbe in der Anmerkung zu Lehrsatz 35, Teil 3) durch den Affekt der Eifersucht. Im Gegenteil wird sie (nach Lehrsatz 31, Teil 3) desto mehr genährt werden, je mehr Menschen sich ihrer erfreuend wir uns vorstellen. – W.z.b.w.


Anmerkung

Auf gleiche Weise können wir zeigen, daß es keinen Affekt gibt, der an und für sich dieser Liebe entgegengesetzt wäre und von dem diese Liebe vernichtet werden könnte. Daher können wir den Schluß ziehen, daß diese Liebe zu Gott der beharrlichste unter allen Affekten ist und daß sie, sofern sie sich auf den Körper bezieht, nur mit dem Körper selbst zerstört werden kann. Welcher Art sie aber ist, sofern sie sich auf den Geist allein bezieht, werden wir später sehen.

Sämtliche Mittel gegen die Affekte oder alles, was der Geist, an sich allein betrachtet, gegen die Affekte vermag, ist im vorstehenden zusammengefaßt. Es erhellt daraus, daß die Macht des Geistes über die Affekte in folgendem besteht.
[373]

1. In der Erkenntnis der Affekte selbst (s. die Anmerkung zu Lehrsatz 4 dieses Teils).

2. In der Trennung des Affekts von dem Gedanken der äußern Ursache, die wir verworren vorstellen (s. Lehrsatz 2 und die oben zitierte Anmerkung zu Lehrsatz 4 dieses Teils).

3. In der Zeit, worin die Erregungen, welche sich auf Dinge beziehen, die wir erkennen, diejenigen übertreffen, welche sich auf Dinge beziehen, die wir verworren und verstümmelt begreifen (s. Lehrsatz 7 dieses Teils).

4. In der Menge der Ursachen, durch welche die Erregungen, welche sich auf die allgemeinen Eigenschaften oder auf Gott beziehen, genährt werden (s. die Lehrsätze 9 und 11 dieses Teils).

5. In der Ordnung, nach welcher der Geist seine Affekte ordnen und miteinander verketten kann (s. die Anmerkung zu Lehrsatz 10, außerdem noch die Lehrsätze 12, 13 und 14 dieses Teils).

Damit aber diese Macht des Geistes über die Affekte besser verstanden werde, muß hier in erster Linie bemerkt werden, daß ich die Affekte als starke bezeichne, wenn wir bei Vergleichung des Affekts eines Menschen mit dem Affekt eines andern Menschen wahrnehmen, daß der eine von demselben Affekt mehr als der andere aufgeregt wird; oder wenn wir bei Vergleichung der Affekte eines und desselben Menschen miteinander wahrnehmen, daß der Mensch von dem einen Affekt mehr als von dem andern erregt oder bewegt wird.

Denn die Macht eines jeden Affekts erklärt sich (nach Lehrsatz 5, Teil 4) aus dem Vermögen der äußern Ursache, verglichen mit dem unserigen. Das Vermögen des Geistes aber erklärt sich aus der bloßen Erkenntnis allein, sein Unvermögen dagegen oder das Leiden aus dem bloßen Mangel an Erkenntnis, d.h., es bemißt sich nach dem, wegen dessen die Ideen inadäquate heißen. Hieraus folgt, daß der Geist am meisten leidet, dessen größten Teil inadäquate Ideen ausmachen, so daß er mehr durch das, was er leidet, als durch das, was er tut, sich kennzeichnet;[374] und daß der dagegen am meisten tätig ist, dessen größten Teil adäquate Ideen ausmachen, so daß, obgleich ihm ebensoviel inadäquate Ideen innewohnen als dem andern, er doch mehr durch jene, welche der menschlichen Tugend angehören, als durch diese, welche das menschliche Unvermögen bekunden, sich kennzeichnet.

Weiter muß bemerkt werden, daß der Kummer und das Unglücksgefühl des Gemüts ihren Ursprung hauptsächlich in der übermäßigen Liebe zu einem Ding haben, welches vielen Veränderungen unterworfen ist und das wir niemals besitzen können. Denn niemand ist über ein Ding bekümmert und gedrückt, wenn er es nicht liebt, und jede Kränkung, jeder Argwohn, jede Feindschaft usw. entspringt aus der Liebe zu Dingen, in deren wahrem Besitz niemand sein kann.

Hieraus ersehen wir leicht, was die klare und deutliche Erkenntnis und besonders jene dritte Erkenntnisgattung (s. hierüber die Anmerkung zu Lehrsatz 47, Teil 2), deren Grundlage eben die Erkenntnis Gottes selbst ist, über die Affekte vermag; indem sie, sofern dieselben Leiden sind, wenn auch nicht vollständig sie aufhebt (s. Lehrsatz 3 mit der Anmerkung zu Lehrsatz 4 dieses Teils), so doch bewirkt, daß sie den kleinsten Teil des Geistes ausmachen (s. Lehrsatz 14 dieses Teils). – Ferner erzeugt diese Erkenntnis die Liebe zu dem, was unveränderlich und ewig ist (s. Lehrsatz 15 dieses Teils) und das wir wahrhaft besitzen können (s. Lehrsatz 45, Teil 2). Darum kann diese Liebe nicht von den Fehlern, mit welchen die gemeine Liebe behaftet ist, getrübt werden, vielmehr kann sie immer stärker und stärker werden (nach Lehrsatz 15 dieses Teils), den größten Teil des Geistes einnehmen (nach Lehrsatz 16 dieses Teils) und ihn gänzlich durchdringen.

Damit habe ich alles erledigt, was das gegenwärtige Leben betrifft. Denn daß ich mit diesen wenigen Worten alle Mittel gegen die Affekte zusammengefaßt habe, wie ich im Eingang dieser Anmerkung sagte, wird jeder leicht finden, der den Ausführungen dieser Anmerkung und zugleich[375] den Definitionen des Geistes und seiner Affekte, endlich auch den Lehrsätzen I und 3 im dritten Teil seine Aufmerksamkeit zuwendet.

Es ist daher nun Zeit, zu dem überzugehen, was die Dauer des Geistes ohne Beziehung auf den Körper betrifft.


Einundzwanzigster Lehrsatz

Der Geist kann nur, solange der Körper dauert, sich etwas vorstellen und sich der vergangenen Dinge erinnern.


Beweis

Der Geist drückt die wirkliche Existenz seines Körpers nur aus und begreift auch die Erregungen des Körpers als wirkliche nur, solange der Körper dauert (nach Zusatz zu Lehrsatz 8, Teil 2), und folglich (nach Lehrsatz 26, Teil 2) begreift er seinen Körper als wirklich existierend nur, solange sein Körper dauert. Somit kann er sich nichts vorstellen (s. die Definition der Vorstellung in der Anmerkung zu Lehrsatz 17, Teil 2) und sich keiner vergangenen Dinge erinnern (s. die Definition der Erinnerung in der Anmerkung zu Lehrsatz 18, Teil 2) als nur, solange der Körper dauert. – W.z.b.w.


Zweiundzwanzigster Lehrsatz

In Gott gibt es jedoch notwendig eine Idee, welche das Wesen dieses oder jenes menschlichen Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ausdrückt.


Beweis

Gott ist nicht nur die Ursache von der Existenz dieses und jenes menschlichen Körpers, sondern auch von dessen[376] Wesen (nach Lehrsatz 25, Teil 1). Dieses muß daher durch Gottes Wesen selbst notwendig begriffen werden (nach Axiom VI, Teil 1), und zwar mit einer gewissen ewigen Notwendigkeit (nach Lehrsatz 16, Teil 1); welchen Begriff es notwendig in Gott geben muß (nach Lehrsatz 3, Teil 2). – W.z.b.w.


Dreiundzwanzigster Lehrsatz

Der menschliche Geist kann mit dem Körper nicht absolut zerstört werden, sondern es bleibt von ihm etwas übrig, was ewig ist.


Beweis

In Gott gibt es notwendig einen Begriff oder eine Idee, welche das Wesen des menschlichen Körpers ausdrückt (nach dem vorigen Lehrsatz), die deshalb notwendig etwas ist, was zum Wesen des menschlichen Geistes gehört (nach Lehrsatz 13, Teil 2). Wir legen aber dem menschlichen Geist eine Dauer, welche durch die Zeit definiert werden kann, nur bei, sofern sie die wirkliche Existenz des Körpers, welche durch Dauer ausgedrückt und durch Zeit bestimmt werden kann, ausdrückt; d.h. (nach Zusatz zu Lehrsatz 8, Teil 2), wir legen ihm Dauer nur bei, solange der Körper dauert. Da aber nichtsdestoweniger dasjenige etwas ist, was mit einer gewissen Notwendigkeit durch Gottes Wesen selbst begriffen wird (nach dem vorigen Lehrsatz), so wird notwendig dieses Etwas, das zum Wesen des Geistes gehört, ewig sein. – W.z.b.w.


Anmerkung

Es ist, wie gesagt, diese Idee, welche das Wesen des Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ausdrückt,[377] eine gewisse Form (Modus) des Denkens, welche zum Wesen des Geistes gehört und welche notwendig ewig ist. – Dennoch ist es unmöglich, daß wir uns erinnern, vor dem Körper existiert zu haben, da es ja im Körper keine Spuren davon geben und die Ewigkeit weder durch die Zeit definiert werden noch irgendeine Beziehung zur Zeit haben kann. Dessenungeachtet aber wissen und erfahren wir, daß wir ewig sind. Denn der Geist weiß jene Dinge, die er durch das Erkennen begreift, nicht minder als jene, die er im Gedächtnis hat. Denn die Augen des Geistes, mit welchen er die Dinge sieht und beobachtet, sind eben die Beweise.

Obgleich wir uns also nicht erinnern, vor dem Körper existiert zu haben, so wissen wir doch, daß unser Geist, sofern er das Wesen des Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit in sich schließt, ewig ist und daß diese Existenz desselben nicht durch Zeit definiert oder durch Dauer erklärt werden kann. – Unser Geist kann also nur insofern dauernd heißen, und seine Existenz kann nur insofern durch eine gewisse Zeit bestimmt werden, sofern er die wirkliche Existenz des Körpers in sich schließt; und nur insofern hat er das Vermögen, die Existenz der Dinge durch Zeit zu bestimmen und sie unter dem Begriff der Dauer zu begreifen.


Vierundzwanzigster Lehrsatz

Je mehr wir die Einzeldinge erkennen, um so mehr erkennen wir Gott.


Beweis

Derselbe erhellt aus dem Zusatz zum Lehrsatz 25 im ersten Teil.


Fünfundzwanzigster Lehrsatz

[378] Das höchste Bestreben des Geistes und die höchste Tugend ist, die Dinge nach der dritten Erkenntnisgattung zu erkennen.


Beweis

Die dritte Erkenntnisgattung schreitet von der adäquaten Idee gewisser Attribute Gottes zur adäquaten Erkenntnis des Wesens der Dinge fort (s. die Definition derselben in der 2. Anmerkung zu Lehrsatz 40, Teil 2), und je mehr wir die Dinge auf diese Weise erkennen, desto mehr erkennen wir Gott (nach dem vorigen Lehrsatz). Folglich (nach Lehrsatz 28, Teil 4) ist die höchste Tugend des Geistes, d.h. (nach Definition 8, Teil 4) das Vermögen, oder die Natur des Geistes oder (nach Lehrsatz 7, Teil 3) sein höchstes Streben, die Dinge nach der dritten Erkenntnisgattung zu erkennen. – W.z.b.w.


Sechsundzwanzigster Lehrsatz

Je befähigter der Geist ist, die Dinge nach der dritten Erkenntnisgattung zu erkennen, desto mehr begehrt er, die Dinge nach dieser Erkenntnisgattung zu erkennen.


Beweis

Der Satz ist von selbst einleuchtend. Denn sofern wir begreifen, daß der Geist befähigt ist, die Dinge nach dieser Erkenntnisgattung zu erkennen, insofern begreifen wir ihn als bestimmt, die Dinge nach eben dieser Erkenntnisgattung zu begreifen. Je befähigter folglich (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer I) der Geist dazu ist, desto mehr begehrt er darnach. – W.z.b.w.


Siebenundzwanzigster Lehrsatz

[379] Aus dieser dritten Erkenntnisgattung entspringt die höchste Befriedigung des Geistes, die es geben kann.


Beweis

Die höchste Tugend des Geistes ist, Gott erkennen (nach Lehrsatz 28, Teil 4) oder die Dinge nach der dritten Erkenntnisgattung erkennen (nach Lehrsatz 25 dieses Teils). Diese Tugend ist um so größer, je mehr der Geist die Dinge nach dieser Erkenntnisgattung erkennt (nach Lehrsatz 24 dieses Teils). Wer daher die Dinge nach dieser Erkenntnisgattung erkennt, der erreicht die höchste menschliche Vollkommenheit und wird folglich (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer II) mit der höchsten Lust erregt, und zwar (nach Lehrsatz 43, Teil 2) verbunden mit der Idee seiner selbst und seiner Tugend. Mithin entspringt (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer XXV) aus dieser Erkenntnisgattung die höchste Befriedigung, dieses geben kann. – W.z.b.w.


Achtundzwanzigster Lehrsatz

Das Bestreben oder die Begierde, die Dinge nach der dritten Erkenntnisgattung tu erkennen, kann nicht aus der ersten, wohl aller aus der zweiten Erkenntnisgattung entspringen.


Beweis

Dieser Lehrsatz erhellt von selbst. Denn was wir klar und deutlich erkennen, das erkennen wir entweder durch es selbst oder durch ein anderes, durch welches es begriffen wird. Das heißt, die Ideen, welche in uns klar und deutlich sind oder welche zur dritten Erkenntnisgattung gehören[380] (s. die 2. Anmerkung zu Lehrsatz 40, Teil 2), können nicht aus verstümmelten und verworrenen Ideen folgen, welche (nach derselben Anmerkung) zur ersten Erkenntnisgattung gehören, sondern aus adäquaten Ideen oder (nach derselben Anmerkung) aus der zweiten und dritten Erkenntnisgattung. Somit kann (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer I) die Begierde, die Dinge nach der dritten Erkenntnisgattung zu erkennen, nicht aus der ersten entspringen, wohl aber aus der zweiten. – W.z.b.w.


Neunundzwanzigster Lehrsatz

Alles, was der Geist unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit erkennt, das erkennt er nicht daraus, daß er die gegenwärtige wirkliche Existenz des Körpers begreift, sondern daraus, daß er das Wesen des Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit begreift.


Beweis

Sofern der Geist die wirkliche Existenz seines Körpers begreift, insofern begreift er eine Dauer, welche durch Zeit bestimmt werden kann, und nur insofern hat er das Vermögen, die Dinge mit Beziehung auf die Zeit zu begreifen (nach Lehrsatz 21 dieses Teils und Lehrsatz 26, Teil 3). Die Ewigkeit aber kann nicht durch Dauer ausgedrückt werden (nach Definition 8, Teil 1, und ihrer Erläuterung). Folglich hat der Geist insofern die Macht nicht, die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit zu begreifen, sondern er hat diese Macht, weil es zur Natur der Vernunft gehört, die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit zu begreifen (nach Zusatz II zu Lehrsatz 44, Teil 2), und es zur Natur des Geistes auch gehört, das Wesen des Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit zu begreifen (nach Lehrsatz 23 dieses Teils),[381] und außer diesen beiden nichts anderes zum Wesen des Geistes gehört (nach Lehrsatz 13, Teil 2). Folglich gehört dieses Vermögen, die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit zu begreifen, zum Geiste nur, sofern er das Wesen des Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit begreift. – W.z.b.w.


Anmerkung

Die Dinge werden von uns auf zweierlei Arten als wirkliche begriffen: entweder sofern wir sie mit Beziehung auf eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum existierend begreifen oder sofern wir sie als in Gott enthalten und aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgend begreifen. Die Dinge aber, die auf diese zweite Art als wahr oder real begriffen werden, sie begreifen wir unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit, und ihre Ideen schließen das ewige und unendliche Wesen Gottes in sich, wie ich in Lehrsatz 45 im zweiten Teil bewiesen habe, dessen Anmerkung man ebenfalls sehe.


Dreißigster Lehrsatz

Sofern unser Geist sich und den Körper unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit erkennt, insofern hat er notwendig eine Erkenntnis Gottes und weiß, daß er in Gott ist und durch, Gott begriffen wird.


Beweis

Die Ewigkeit ist Gottes Wesen selbst, sofern es diese notwendige Existenz in sich schließt (nach Definition 8, Teil 1). Die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit begreifen ist daher, die Dinge begreifen, sofern sie durch das Wesen Gottes als reale Wesen begriffen werden oder sofern[382] sie durch das Wesen Gottes die Existenz in sich schließen. Sofern daher unser Geist sich und den Körper unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit begreift, insofern hat er notwendig eine Erkenntnis Gottes und weiß usw. – W.z.b.w.


Einunddreißigster Lehrsatz

Die dritte Erkenntnisgattung hängt vom Geiste als der formalen Ursache ab, sofern der Geist selbst ewig ist.


Beweis

Der Geist begreift unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit nur, sofern er das Wesen seines Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit begreift (nach Lehrsatz 29 dieses Teils), d.h. (nach den Lehrsätzen 21 und 23 dieses Teils), sofern er ewig ist. Daher hat er, sofern er ewig ist (nach dem vorigen Lehrsatz), eine Erkenntnis Gottes, welche Erkenntnis notwendig eine adäquate ist (nach Lehrsatz 46, Teil 2). Mithin ist der Geist, sofern er ewig ist, befähigt, alles dazu zu erkennen, was aus dieser gegebenen Erkenntnis Gottes folgen kann (nach Lehrsatz 40, Teil 2), d.h., die Dinge nach dieser dritten Erkenntnisgattung zu erkennen (s. deren Definition in der 2. Anmerkung zu Lehrsatz 40, Teil 2), von welcher der Geist daher (nach Definition 1, Teil 3), sofern er ewig ist, die adäquate oder formale Ursache ist. – W.z.b.w.


Anmerkung

Je weiter es daher jemand in dieser Erkenntnisgattung gebracht hat, desto besser ist er seiner selbst und Gottes sich bewußt, d.h., desto vollkommener und glückseliger ist er, was aus dem Folgenden noch klarwerden wird.[383]

Hier ist noch zu bemerken, daß, obgleich wir jetzt Gewißheit darüber erlangt haben, daß der Geist ewig ist, sofern er die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit begreift, so werde ich ihn doch, behufs leichterer Erläuterung und besseren Verständnisses dessen, was ich dartun will, so betrachten, als ob er erst jetzt anfinge zu sein und als ob er erst jetzt anfinge, die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit zu erkennen; wie ich es bisher getan. Es kann dies geschehen, ohne jede Gefahr in Irrtümer zu geraten, wenn wir nur auf der Hut sind, daß wir keine andern Schlüsse ziehen als aus ganz klaren Prämissen.


Zweiunddreißigster Lehrsatz

Was wir nach der dritten Erkenntnisgattung erkennen, darin erfreuen wir uns, und zwar verbunden mit der Idee Gottes als Ursache.


Beweis

Aus dieser Erkenntnisgattung entspringt die höchste Befriedigung des Geistes, die es geben kann. d.h. (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer XXV) die höchste Lust, und zwar verbunden mit der Idee seiner selbst (nach Lehrsatz 27 dieses Teils) und folglich auch (nach Lehrsatz 30 dieses Teils) verbunden mit der Idee Gottes als Ursache. – W.z.b.w.


Zusatz

Aus der dritten Erkenntnisgattung entspringt notwendig die intellektuelle Liebe zu Gott. Denn aus dieser Erkenntnisgattung entspringt (nach obigem Lehrsatz) Lust, verbunden mit der Idee Gottes als Ursache;[384] d.h. (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer VI) Liebe zu Gott, nicht sofern wir ihn als gegenwärtig vorstellen (nach Lehrsatz 29 dieses Teils), sondern sofern wir erkennen, daß Gott ewig ist. Und das ist es, was ich intellektuelle Liebe zu Gott nenne.


Dreiunddreißigster Lehrsatz

Die intellektuelle Liebe zu Gott, die aus der dritten Erkenntnisgattung entspringt, ist ewig.


Beweis

Denn die dritte Erkenntnisgattung ist ewig (nach Lehrsatz 31 dieses Teils und Axiom III, Teil 1). Daher ist (nach demselben Axiom, Teil 1) auch die Liebe, die aus ihr entspringt, notwendig ewig. – W.z.b.w.


Anmerkung

Obgleich diese Liebe zu Gott keinen Anfang gehabt hat (nach obigem Lehrsatz), so hat sie doch alle Vollkommenheiten der Liebe, ganz so, als ob sie so entstanden wäre, wie ich im Zusatz zum vorigen Lehrsatz fingiert habe. Denn es ist hier kein Unterschied, außer daß der Geist dieselben Vollkommenheiten, von denen wir dort fingierten, daß sie ihm erst jetzt zuteil wurden, als ewige gehabt hat, und zwar verbunden mit der Idee Gottes als ewige Ursache.

Wenn die Lust im Übergang zu größerer Vollkommenheit besteht, so muß doch gewiß die Glückseligkeit darin bestehen, daß der Geist mit der Vollkommenheit selbst begabt ist.


Vierunddreißigster Lehrsatz

[385] Der Geist ist nur, solange der Körper dauert, den Affekten unterworfen, die zu den Leiden gehören.


Beweis

Die Vorstellung ist eine Idee, vermöge welcher der Geist irgendein Ding als gegenwärtig betrachtet (s. deren Definition in der Anmerkung zu Lehrsatz 17, Teil 2); die aber mehr den gegenwärtigen Zustand des menschlichen Körpers als die Natur der äußern Ursache anzeigt (nach Zusatz II zu Lehrsatz 16, Teil 2). Ein Affekt ist also (nach der allgemeinen Definition der Affekte) eine Vorstellung, sofern sie den gegenwärtigen Zustand des Körpers anzeigt. Daher ist der Geist (nach Zusatz 21 dieses Teils) nur, solange der Körper dauert, den Affekten unterworfen, die zu den Leiden gehören. – W.z.b.w.


Zusatz

Hieraus folgt, daß keine andere Liebe ewig ist als die intellektuelle Liebe.


Anmerkung

Wenn wir auf die gemeine Meinung der Menschen achten, so sehen wir, daß sie zwar der Ewigkeit ihres Geistes sich bewußt sind, dieselbe aber mit der Dauer vermengen und sie der Vorstellung oder der Erinnerung beilegen, welche nach ihrem Glauben nach dem Tode fortdauert.


Fünfunddreißigster Lehrsatz

[386] Gott liebt sich selbst mit unendlicher intellektueller Liebe.


Beweis

Gott ist absolut unendlich (nach Definition 6, Teil 1), d.h. (nach Definition 6, Teil 2), die Natur Gottes erfreut sich einer unendlichen Vollkommenheit, und zwar (nach Lehrsatz 3, Teil 2) verbunden mit der Idee seiner selbst, d.h. (nach Lehrsatz 11 und Definition 1, Teil 1) mit der Idee seiner Ursache. Das aber ist es, was ich im Zusatz zu Lehrsatz 32 dieses Teils als intellektuelle Liebe bezeichnet habe.


Sechsunddreißigster Lehrsatz

Die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott ist eben die Liebe Gottes, womit Gott sich selbst liebt, nicht sofern er unendlich ist, sondern sofern er durch das Wesen des menschlichen Geistes, unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit betrachtet, ausgedrückt werden kann. Das heißt, die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott ist ein Teil der unendlichen Liebe, womit Gott sich selbst liebt.


Beweis

Diese Liebe des Geistes muß zu den Handlungen des Geistes gerechnet werden (nach Zusatz zu Lehrsatz 32 dieses Teils und nach Lehrsatz 3, Teil 3). Sie ist daher eine Handlung, womit der Geist sich selbst betrachtet, verbunden mit der Idee Gottes als Ursache (nach Lehrsatz 32 dieses Teils und seinem Zusatz), d.h. (nach Zusatz zu Lehrsatz 25, Teil 1, und Zusatz zu Lehrsatz 11, Teil 2) eine Handlung, womit Gott, sofern er durch den menschlichen[387] Geist ausgedrückt werden kann, sich selbst betrachtet, verbunden mit der Idee seiner selbst. Mithin ist (nach dem vorigen Lehrsatz) diese Liebe des Geistes ein Teil der unendlichen Liebe, womit Gott sich selbst liebt. – W.z.b.w.


Zusatz

Hieraus folgt, daß Gott, sofern er sich selbst liebt, die Menschen liebt, und folglich, daß die Liebe Gottes zu den Menschen und die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott eins und dasselbe sind.


Anmerkung

Hieraus erkennen wir deutlich, worin unser Heil oder unsere Glückseligkeit oder Freiheit besteht. Sie besteht nämlich in der beständigen und ewigen Liebe zu Gott oder in der Liebe Gottes zu den Menschen.

Und diese Liebe oder Glückseligkeit wird in den heiligen Schriften Ehre genannt, und nicht mit Unrecht. Denn mag diese Liebe auf Gott, mag sie auf den Geist bezogen werden, so kann sie ganz richtig Zufriedenheit der Seele die sich von der Ehre (nach den Definitionen der Affekte Ziffern XXV und XXX) nicht unterscheidet, genannt werden. Denn sofern sie auf Gott bezogen wird, ist sie (nach Lehrsatz 35 dieses Teils) Lust – man gestatte vorläufig noch diesen Ausdruck –, verbunden mit der Idee seiner selbst, ebenso wie sie Lust ist, sofern sie auf den Menschen bezogen wird (nach Lehrsatz 27 dieses Teils).

Weil sodann das Wesen unseres Geistes in der Erkenntnis allein besteht, deren Prinzip und Fundament Gott ist (nach Lehrsatz 15, Teil 1, und Anmerkung zu Lehrsatz 47, Teil 2), so wird uns damit klar, auf welche Weise und in welcher Hinsicht unser Geist nach seinem Wesen und[388] seiner Existenz aus der Natur Gottes folgt und fortwährend von Gott abhängt.

Ich hielt dies hier für erwähnenswert, um an diesem Beispiel zu zeigen, welch hohen Wert die Erkenntnis der Einzeldinge hat, welche ich die intuitive oder Erkenntnis dritter Gattung genannt habe (s. 2. Anmerkung zu Lehrsatz 40, Teil 2), und wieviel mehr sie vermag als die allgemeine Erkenntnis, die ich als Erkenntnis zweiter Gattung bezeichnet habe. Denn obgleich ich im ersten Teil im allgemeinen gezeigt habe, daß alles (und folglich auch der menschliche Geist) nach Wesen und Existenz von Gott abhängt, so macht jener Beweis, obschon er regelrecht geführt ist und jeden Zweifel abschneidet, doch keinen solchen Eindruck auf unsern Geist als die Folgerung dieses Satzes aus dem Wesen selbst jedes Einzeldinges, von dem ich sage, daß es von Gott abhängt.


Siebenunddreißigster Lehrsatz

Es gibt in der Natur nichts, was dieser intellektuellen Liebe entgegengesetzt wäre oder sie aufheben könnte.


Beweis

Diese intellektuelle Liebe folgt notwendig aus der Natur des Geistes, sofern dieser als ewige Wahrheit durch die Natur Gottes betrachtet wird (nach den Lehrsätzen 29 und 33 dieses Teils). Gäbe es also etwas, was dieser Liebe entgegengesetzt wäre, so wäre es dem Wahren entgegengesetzt, und demnach würde das, was diese Liebe aufheben könnte, bewirken, daß das, was wahr ist, falsch sein würde; was (wie selbstverständlich) widersinnig ist. Folglich gibt es in der Natur nichts usw. – W.z.b.w.


Anmerkung

[389] Das Axiom des vierten Teils bezieht sich auf die Einzeldinge, sofern sie in ihrer Beziehung auf eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum betrachtet werden; was wohl niemand bezweifeln wird.


Achtunddreißigster Lehrsatz

Je mehr Dinge der Geist nach der zweiten und dritten Erkenntnisgattung erkennt, desto weniger leidet er von den Affekten, welche schlecht sind, und desto weniger fürchtet er den Tod.


Beweis

Das Wesen des Geistes besteht in der Erkenntnis (nach Lehrsatz 11, Teil 2). Je mehr Dinge also der Geist nach der zweiten und dritten Erkenntnisgattung erkennt, ein um so größerer Teil von ihm dauert fort (nach den Lehrsätzen 29 und 23 dieses Teils), und folglich bleibt (nach dem vorigen Lehrsatz) ein um so größerer Teil von ihm von den Affekten unberührt, welche unserer Natur entgegengesetzt sind, d.h. (nach Lehrsatz 30, Teil 4), welche Leiden sind. Je mehr Dinge daher den Geist nach der zweiten und dritten Erkenntnisgattung erkennt, ein um so größerer Teil von ihm bleibt unverletzt, und folglich leidet er weniger von den Affekten usw. – W.z.b.w.


Anmerkung

Damit verstehen wir das, was ich in der Anmerkung zu Lehrsatz 39 im vierten Teil berührt und in diesem Teil zu entwickeln versprochen habe, daß nämlich der Tod um so weniger schädlich ist, je größer die klare und deutliche[390] Erkenntnis des Geistes ist, und dementsprechend, je mehr der Geist Gott liebt.

Weil ferner (nach Lehrsatz 27 dieses Teils) aus der dritten Erkenntnisgattung die höchste Befriedigung entspringt, die es geben kann, so folgt, daß der menschliche Geist von solcher Natur sein kann, daß das, woran ich gezeigt habe, daß es mit dem Körper untergeht (s. Lehrsatz 21 dieses Teils), im Verhältnis zu dem, was von ihm fortdauert, von keiner Erheblichkeit ist. Doch hiervon sogleich ausführlicher.


Neununddreißigster Lehrsatz

Wer einen Körper hat, der zu sehr vielen Dingen befähigt ist, der hat einen Geist, dessen größter Teil ewig ist.


Beweis

Wer einen zu sehr vielen Tätigkeiten befähigten Körper hat, der wird am wenigsten von Affekten bestürmt, welche schlecht sind (nach Lehrsatz 38, Teil 4), d.h. (nach Lehrsatz 30, Teil 4) von Affekten, welche unserer Natur entgegengesetzt sind. Er hat deshalb (nach Lehrsatz 10 dieses Teils) das Vermögen, die Körpererregungen ihrer Ordnung dem Verstande gemäß zu ordnen und zu verketten und folglich auch zu bewirken (nach Lehrsatz 14 dieses Teils), daß alle Körpererregungen auf die Idee Gottes bezogen werden. Das hat die Wirkung (nach Lehrsatz 15 dieses Teils), daß er von Liebe zu Gott erregt wird, welche (nach Lehrsatz 16 dieses Teils) den größten Teil des Geistes einnehmen oder ausmachen muß. Folglich hat er (nach Lehrsatz 33 dieses Teils) einen Geist, dessen größter Teil ewig ist. – W.z.b.w.
[391]


Anmerkung

Weil die menschlichen Körper zu sehr vielem befähigt sind, so unterliegt es keinem Zweifel, daß sie von solcher Natur sein können, daß sie zu Geistern gehören, welche von sich und von Gott eine große Erkenntnis haben und deren größter oder hauptsächlichster Teil ewig ist, und zwar dermaßen, daß sie den Tod kaum fürchten.

Damit aber dies klarer verstanden werde, muß hier darauf aufmerksam gemacht werden, daß wir in beständiger Veränderung leben und daß wir, je nachdem wir uns zum Besseren oder Schlechteren verwandeln, glücklich oder unglücklich heißen. Denn wenn ein Kind oder ein Knabe eine Leiche wird, so heißt das unglücklich; umgekehrt wird es zum Glück gerechnet, wenn wir unsere ganze Lebenszeit mit gesundem Geist in gesundem Körper verleben konnten. Und wirklich, wer wie ein Kind oder ein Knabe einen zu sehr wenigem befähigten und meistens von äußern Ursachen abhängigen Körper hat, der hat einen Geist, welcher, für sich allein betrachtet, fast gar kein Bewußtsein von sich noch von Gott oder von den Dingen hat. Umgekehrt, wer einen zu sehr vielem befähigten Körper hat, der hat einen Geist, welcher, für sich allein betrachtet, viel Bewußtsein von sich wie von Gott und von den Dingen hat. In diesem Leben also streben wir vor allem dahin, daß sich der Körper des Kindes, soweit es seine Natur zuläßt und soweit es ihm zuträglich ist, in einen andern verwandle, der zu sehr vielem befähigt ist und der zu einem Geist gehört, der sehr viel Bewußtsein von sich, von Gott und von den Dingen hat; und zwar so, daß alles, was zu seiner Erinnerung oder seiner Vorstellung gehört, im Verhältnis zur Erkenntnis kaum von Erheblichkeit ist, wie ich in der Anmerkung zum vorigen Lehrsatz bereits gesagt habe.


Vierzigster Lehrsatz

[392] Je mehr Vollkommenheit ein Ding hat, desto mehr tätig und desto weniger leidend ist es, und umgekehrt, je mehr ein Ding tätig ist, desto vollkommener ist es.


Beweis

Je vollkommener ein Ding ist, desto mehr Realität hat es (nach Definition 6, Teil 2), und folglich (nach Lehrsatz 3, Teil 3, mit seiner Anmerkung) ist es um so mehr tätig und um so weniger leidend. Dieser Beweis wird in umgekehrter Ordnung auf gleiche Weise geführt, woraus folgt, daß umgekehrt ein Ding um so vollkommener ist, je mehr es tätig ist. – W.z.b.w.


Zusatz

Hieraus folgt, daß derjenige Teil des Geistes, welcher fortdauert, von welcher Größe er auch sein mag, vollkommener ist als der übrige. Denn der ewige Teil des Geistes ist (nach den Lehrsätzen 23 und 29 dieses Teils) die Erkenntnis, vermöge welcher allein wir tätig heißen (nach Lehrsatz 3, Teil 3). Jener aber, von dem ich gezeigt habe, daß er untergeht, ist eben die Vorstellung (nach Lehrsatz 21 dieses Teils), vermöge welcher wir allein leidend heißen (nach Lehrsatz 3, Teil 3, und der allgemeinen Definition der Affekte). Demnach ist (nach obigem Lehrsatz) jener Teil, von welcher Größe er auch sein mag, vollkommener als dieser. – W.z.b.w.


Anmerkung

Das ist es, was ich vom Geist, sofern er ohne Beziehung auf die Existenz des Körpers betrachtet wird, zu zeigen mir vorgenommen hatte. Hieraus, zusammengenommen mit Lehrsatz 21 im ersten Teil und andern Sätzen, erhellt,[393] daß unser Geist, sofern er erkennt, eine ewige Daseinsform des Denkens ist, der von einer andern ewigen Daseinsform des Denkens bestimmt wird, und dieser wieder von einer andern, und so ins unendliche; so daß alle zusammen den ewigen und unendlichen Verstand Gottes ausmachen.


Einundvierzigster Lehrsatz

Wenn wir auch nicht wußten, daß unser Geist ewig ist, so würden wir doch die Frömmigkeit und die Religion und überhaupt alles, was, wie im vierten Teil gezeigt wurde, zur Seelenstärke und zur Großmut gehört, für das Wichtigste halten.


Beweis

Die erste und einzige Grundlage der Tugend oder der richtigen Lebensweise ist (nach Zusatz zu Lehrsatz 22 und nach Lehrsatz 24, Teil 4), seinen Nutzen suchen. Um aber das zu bestimmen, was die Vernunft als nützlich vorschreibt, haben wir auf die Ewigkeit des Geistes, die wir erst in diesem Teile kennengelernt haben, keinen Bezug genommen. Obgleich wir also dort noch nicht gewußt haben, daß der Geist ewig ist, haben wir doch das als das Wichtigste geschätzt, was nach unserer Ausführung zur Seelenstärke und zur Großmut gehört. Wenn wir also dieselbe auch jetzt nicht wüßten, so würden wir doch die Vorschriften der Vernunft für das Wichtigste halten. – W.z.b.w.


Anmerkung

Die gewöhnliche Ansicht der Menge scheint eine andere zu sein. Denn die meisten scheinen zu glauben, daß sie insofern frei seien, sofern sie ihren Lüsten frönen dürfen[394] und daß sie insofern ihr Recht vergeben, sofern sie verpflichtet sind, nach der Vorschrift des göttlichen Gesetzes zu leben. Frömmigkeit also und Religion wie überhaupt alles, was zur Geisteskraft gehört, halten sie für Lasten, und sie hoffen, nach dem Tode dieselben abzuwerfen und den Lohn für ihre Knechtschaft, nämlich Frömmigkeit und Religion, zu empfangen. – Aber nicht durch diese Hoffnung allein, sondern auch und hauptsächlich durch die Furcht, nach dem Tode mit schrecklichen Martern bestraft zu werden, lassen sie sich bewegen, nach der Vorschrift des göttlichen Gesetzes zu leben, soweit es ihre Schwächlichkeit und ihr unvermögender Geist erlaubt.

Würde diese Hoffnung und diese Furcht den Menschen nicht innewohnen, würden sie vielmehr glauben, daß der Geist mit dem Körper vergehe und daß den Unglücklichen, die von der Last der Frömmigkeit ganz erschöpft sind, kein anderes Leben bevorstehe, so würden sie zu ihrer natürlichen Sinnesweise zurückkehren und es vorziehen, alles nach ihren Lüsten zu regeln und dem Ungefähr mehr als sich selbst zu gehorchen.

Mir kommt dies nicht minder widersinnig vor, als wenn jemand deshalb, weil er weiß, daß er seinen Leib nicht für alle Ewigkeit mit guten Nahrungsmitteln erhalten kann, sich lieber mit Giften und tödlichen Stoffen sättigen wollte; oder weil er sieht, daß der Geist nicht ewig und unsterblich ist, lieber aberwitzig sein und ohne Vernunft leben will. Dies ist so widersinnig, daß es kaum einer Erwähnung bedarf.


Zweiundvierzigster Lehrsatz

Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst; und wir erfreuen uns derselben nicht, weil wir die Lüste einschränken, sondern umgekehrt, weil wir uns derselben erfreuen, können wir die Lüste einschränken.


Beweis

[395] Die Glückseligkeit besteht in der Liebe zu Gott (nach Lehrsatz 36 dieses Teils und seiner Anmerkung). Diese Liebe entspringt aus der dritten Erkenntnisgattung (nach Zusatz zu Lehrsatz 32 dieses Teils). Daher muß diese Liebe (nach den Lehrsätzen 59 und 3, Teil 3) auf den Geist, sofern er tätig ist, sich beziehen. Mithin ist sie (nach Definition 8, Teil 4) die Tugend selbst. – Damit ist das erste bewiesen. – Je mehr sodann der Geist dieser göttlichen Liebe oder Glückseligkeit sich erfreut, desto mehr erkennt er (nach Lehrsatz 32 dieses Teils), d.h. (nach Zusatz zu Lehrsatz 3 dieses Teils), eine um so größere Macht hat er über die Affekte und (nach Lehrsatz 38 dieses Teils) desto weniger leidet er von den Affekten, welche schlecht sind. Dadurch also, daß der Geist dieser göttlichen Liebe oder Glückseligkeit sich erfreut, hat er die Macht, die Begierden einzuschränken. Und weil das menschliche Vermögen, die Affekte einzuschränken, in der Erkenntnis allein besteht, darum erfreut sich niemand der Glückseligkeit, weil er die Affekte eingeschränkt hat, sondern umgekehrt entspringt die Macht, die Affekte einzuschränken, aus der Glückseligkeit selbst. – W.z.b.w.


Anmerkung

Damit habe ich alles erledigt, was ich von der Macht des Geistes über die Affekte und von der Freiheit des Geistes dartun wollte. Es erhellt daraus, wie sehr der Weise dem Unwissenden überlegen ist und wie viel er an Macht voraushat vor diesem, der nur von den Lüsten getrieben wird. Denn außerdem, daß der Unwissende von äußern Ursachen auf vielfache Weisen gehetzt wird und nicht im Besitze der wahren Befriedigung der Seele ist, lebt er überdies gleichsam ohne Bewußtsein seiner selbst, Gottes und der Dinge, und sobald er aufhört zu leiden, hört er auf zu sein. Der Weise dagegen, sofern er als solcher betrachtet[396] wird, wird in der Seele kaum beunruhigt, sondern, seiner selbst, Gottes und der Dinge mit einer gewissen ewigen Notwendigkeit bewußt, hört er niemals auf zu sein und ist immer im Besitze der wahren Befriedigung der Seele.

Wenn nun auch der von mir gezeigte Weg, welcher dahin führt, sehr schwierig scheint, so kann er doch gefunden werden. Und allerdings muß eine Sache schwierig sein, die so selten angetroffen wird. Denn wenn das Heil so bequem wäre und ohne große Mühe gefunden werden könnte, wie wäre es dann möglich, daß es fast von jedermann vernachlässigt wird?

Alles Erhabene aber ist ebenso schwierig wie selten.[397]


Quelle:
Spinoza: Ethik. Leipzig 1975, S. 352-398.
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