§ 22. Liebesstreit.

[233] Nun wollen wir den Liebesstreit beschreiben: So gut wie bei den vertrauten Liebenden unbegrenzte Liebe herrscht, so entsteht doch auch aus Zuneigung Streit. So spricht man von einem Liebesstreite. – Hier nennt der Verfasser nun die Ursachen des Streites:


Eine Liebhaberin, deren Zuneigung wächst, soll sich das Erwähnen des Namens der Nebengattin, eine auf sie bezügliche Unterhaltung oder auch ein Verwechseln des Namens und eine Übeltat des Liebhabers nicht ruhig gefallen lassen.


»Deren Zuneigung wächst«: in dem Maße, wie ihr Zutrauen wächst, ebenso soll sie wenig, mäßig und außerordentlich zürnen, ist der Sinn. Gewöhnlich ist es der Liebhaber, der Unliebsames tut. Darin wurzelt eben der Streit Das zeigt (der Verfasser), indem er sagt: »Eine Liebhaberin«. Der Liebhaber kann Unliebsames tun mit Worten und mit der Tat. Mit Worten: »das Erwähnen des Namens der Nebengattin«. »Eine auf sie bezügliche«: selbst wenn der Name nicht genannt wird, eine auf die Nebengattin bezügliche »Unterhaltung«, die deren Vorzüge andeutet. – »Ein Verwechseln des Namens«: wenn er die Liebhaberin mit dem Namen jener anredet. – »Eine Übeltat des Liebhabers«: daß er das Haus der Nebengattin besucht, Betel usw. schickt, mit ihr vertrauten Umgang hat: solche Vergehen des Liebhabers soll sie »sich nicht ruhig gefallen lassen«. – Das sind unliebsame Begehungen mit der Tat.

Sie soll auch ihren Unmut äußern: so sagt (der Verfasser):


Dann erhebt sich sehr heftiger Streit, Weinen, Erregung, Schütteln des Haupthaares, Schläge, Heruntergleiten von dem Sitze oder dem Lager auf die Erde, Wegwerfen der Kränze und Schmucksachen und Lagern auf dem Fußboden.
[233]

»Dann«, bei der Erwähnung des Namens der Nebengattin usw. Die Äußerungen des Ärgers bestehen in Wort und Tat. Mit Worten: »Sehr heftiger Streit«, außerordentlich großer, daß er es nicht wieder tun solle. Mit der Tat: »Weinen« usw., »Erregung«, Zittern wie bei körperlichem Schmerze usw., »Schütteln«, Hinundherbewegen. »Schläge«, gegen sich selbst. Andere meinen, sie packt den Liebhaber bei den Haaren und schlägt ihn. – »Auf die Erde«, weil sie bei einem solchen Falle kein Ungemach empfindet. – »Wegwerfen«, Beseitigen der nicht befestigten Kränze und Schmucksachen. – »Lagern auf dem Fußboden«: nicht mit jenem zusammen.

Was soll nun der Liebhaber in seinem Schuldbewußtsein anfangen? Darauf antwortet (der Verfasser):


Hierbei soll er sie durch passende beschwichtigende Worte oder einen Fußfall ruhigen Sinnes besänftigen, an sie herantreten und sie auf das Lager setzen.


»Hierbei«, bei diesem Benehmen. – »Durch passende beschwichtigende Worte«, freundliche Reden. Sie sollen »passend« sein, wegen der besonderen Art der Vergehung. – »Fußfall«, der dem Liebhaber besonders zukommt. – »Ruhigen Sinnes«, ohne eine Veränderung zu zeigen; denn: »Eine Wunde soll man nicht noch ätzen«. – »Sie«, die auf dem Fußboden schläft. »Besänftigen«, beschwichtigen. – »Herantreten«, um sie aufzurichten. »Auf das Lager setzen«: »Sei gut, erhebe dich und setze dich auf das Lager!«


Als Antwort auf dessen Worte zeige sie nur noch heftigeren Zorn, ziehe sein Gesicht herunter, indem sie ihn bei den Haaren packt, und trete ihn mit dem Fuße ein-, zwei- oder dreimal gegen den Arm, Kopf, Brust oder Rücken. Sie gehe nach der Tür, setze sich dort nieder und vergieße Tränen. Aber wenn sie auch außerordentlich zornig ist, soll sie doch von der Türgegend nicht weiter gehen, weil das fehlerhaft ist, lehrt Dattaka. Dort mit List beschwichtigt soll sie nach Versöhnung verlangen. Aber auch versöhnt soll sie ihn mit unwilligen Worten gleichsam stoßen und endlich, voll Verlangen nach Liebesgenuß mit dem Versöhnten, von dem Liebhaber umarmt werden.


»Dessen«, der sie beruhigen will. »Als Antwort auf dessen Worte«, wie sie dem Augenblicke angemessen ist, »zeige sie nur[234] noch heftigeren Zorn«, indem sie immer wieder an das Vergehen denkt. »Ziehe sein Gesicht«, den Kopf, »herunter, indem sie ihn bei den Haaren packt« und trete ihn »einmal«, um zu erfahren, ob da etwas geschieht oder nicht; »zwei- oder dreimal«, aus Zorn. Selbst ein Tritt gegen den Kopf bringt dann keine Verfehlung mit sich; vielmehr halten das alterfahrene Lebemänner für ein Zeichen von Gunst. – »Dort«, an der Türgegend. »Vergieße Tränen«, lasse sie fallen. – »Nicht weiter«, nicht hinaus, weil ein Weitergehen »fehlerhaft« ist, da die Befürchtung entsteht, sie könne in ihrem falschen Zorne anderswohin gehen. – Die Erwähnung des Dattaka geschieht ehrenhalber, indem seine Ansicht nicht verboten ist. – »Dort«, bei dem Tränenvergießen, suche der Liebhaber sie nochmals »mit List« zu beruhigen, indem er den Fußtritt für die Grenze ihres Zornes an sieht. Von ihm »mit List beschwichtigt soll sie nach Versöhnung verlangen«, indem sie den Füßfall als Grenze seiner Mittel zur Versöhnung ansieht. Dann wird sie »versöhnt« von dem Liebhaber umarmt. Aber trotzdem soll sie mit zornigen, unwilligen Worten »ihn«, den Liebhaber, »stoßen«, aus seiner Fassung bringen. – »Voll Verlangen nach Liebesgenuß mit dem Versöhnten«, indem sie von dem Versöhnten Liebeslust erwartet. Sonst, wenn sie sich nicht umarmen läßt, ist auch der Liebhaber wegen ihres Zornes, der über den Höhepunkt hinausgeht, unversöhnlich. – Diese Regeln gelten für anständige junge Frauen und Wiederverheiratete; für die Hetären und die Frauen anderer gibt (der Verfasser) die besonderen Regeln an:


Die in einem eigenen Hause wohnende Geliebte aber soll, wenn sie sich aus irgendeinem Grunde (mit dem Liebhaber) entzweit hat, unter ebensolchem Benehmen den Liebhaber angehen. Hierbei soll ihr Zorn durch den vom Liebhaber beauftragten Pīthamarda, Viṭa und Vidūsaka beschwichtigt werden; und durch sie versöhnt soll sie mit ihnen in seine Wohnung gehen und dort bleiben. – Das ist der Liebesstreit.


»Aus irgendeinem Grunde«, einem der oben genannten. »Entzweit«, wenn sie einen Streit begonnen hat; d.h. einen gewöhnlichen Streit hat. Das ist ein Unwille, der sich in Worten äußert; den mit der Tat beschreibt (der Verfasser) mit den Worten: »Unter ebensolchem Benehmen«, durch böse Blicke,[235] Brauenrunzeln usw., was Zorn ausdrückt. »Den Liebhaber angehen«, d.h. in seine Nähe treten. – »Hierbei«, bei diesem zornigen Verhalten. »Vom Liebhaber beauftragt«, um sie zurückzubringen. – »Ihr Zorn soll beschwichtigt werden«, durch freundliche Worte; und »durch sie versöhnt«, nicht durch einen Fußfall seitens des Liebhabers, da dies bei außerhalb wohnenden Frauen nicht statthaft ist, »soll sie mit ihnen« gehen, um ihre Hoheit wieder zur Geltung zu bringen; »und dort bleiben«, diese Nacht in der Wohnung des Liebhabers, um die Leidenschaft zu entfachen.

(Der Verfasser) faßt nun den Inhalt dieses Abschnittes zusammen, indem er sagt:


Es gibt hier einige Verse:

Wer diese von Bābhravya gelehrten vierundsechzig Künste so anwendet, der Liebhaber hat Glück bei den trefflichsten Frauen.


»Die vierundsechzig Künste«, die Umarmungen usw. – »Von Bābhravya«, Pāñcāla. – »Bei den trefflichsten Frauen«, die dieselben kennen. – »Hat Glück«, erlangt Beliebtheit. Darum soll man die vierundsechzig Künste der Umarmungen usw. kennen lernen; sonst erlangt man nämlich, wenn man sie nicht kennt, nicht nur kein Glück, sondern wird auch anderswo nicht besonders beachtet, selbst wenn man andere Lehrbücher kennt.

Selbst wenn man auch andere Lehrbücher nicht kennt, hat man Glück und ist achtbar und von hohem Ansehen, wenn man nur jene Künste versteht: das zeigt (der Verfasser) mit den Worten:


Wer der vierundsechzig Künste ermangelt, mag er auch von anderen Lehrbüchern reden, wird bei den Unterhaltungen in der Gesellschaft der Wissenden nicht besonders beachtet.


»Mag er auch reden«, nach Inhalt und Anwendung erzählen. – »In der Gesellschaft der Wissenden«: Wissende sind solche, die in (dem Kapitel) »Erreichung der drei Lebensziele« im Vordergrunde stehen; in deren Versammlung. »Bei den Unterhaltungen«: über die drei Lebensziele.


Wer mit diesen geschmückt ist, mag er auch anderer Kenntnisse ermangeln, der nimmt in der Gesellschaft bei den Unterhaltungen unter Männern und Frauen die erste Stelle ein.
[236]

»Anderer Kenntnisse«, der Erfahrung in Grammatik und anderen Fächern. – »Mit diesen«, den vierundsechzig Künsten, »geschmückt«, durch theoretische und praktische Kenntnis. – »In der Gesellschaft«, wenn man sich im Vereine gesetzt hat, wird kein anderes Lehrbuch behandelt. »Bei den Unterhaltungen« über das Lehrbuch der Liebe. »Nimmt die erste Stelle ein«, d.h. steht im höchsten Ansehen.

Da die vierundsechzig Künste doch wohl nicht zu verehren sind, wie kann da ihre Kenntnis in der Gesellschaft der Wissenden im Ansehen stehen? – Darauf erwidert (der Verfasser):


Jene von den Wissenden verehrte, selbst von dem gemeinen Volke hochverehrte, von den Scharen der ganikās verehrte Freudenbringerin1 – wer sollte die nicht verehren?


»Von den Wissenden«, den Kennern der drei Lebensziele, »verehrte«, weil sie das Mittel ist, die Frauen zu beschirmen. – »Selbst von dem gemeinen Volke hochverehrte«, weil ihr Wesen in Wirklichkeit danach ist. – »Von den Scharen der gaṇikās verehrte«, weil sie ihnen die Mittel zum Lebensunterhalte gewahrt Wegen solcher Vollbringungen heißt sie Freudenbringerin. So sagt der (Verfasser): »Die Freudenbringerin«; Freude, Lust und Ehre: das findet sich bei ihr.

Wie sie diese sinngemäße Bezeichnung führt, so hat sie auch noch andere: so sagt (der Verfasser):


Diese Freudenbringerin wird von den Meistern in den Lehrbüchern beschrieben als die geliebte, glückbringende, bezaubernde, den Frauen liebe.


»Geliebte«, indem alle Hausherren ihr frönen. – »Glückbringend«, wie das Wissen für sich einnehmend. – »Bezaubernd«, indem sie bei Mann und Weib Beliebtheit verursacht. – »Den Frauen lieb«, indem sie denen besonders Gluck bringt. – So verschafft sie verschiedenes. Wer sollte diese nicht verehren?

Darum ist einer, der sie kennt, schon achtbar, nun vollends einer, der sie anwendet! Besonders bei den Liebhaberinnen: so sagt (der Verfasser):


[237] Von Mädchen, verheirateten fremden Frauen und ganikās wird ein Mann, der in den vierundsechzig Künsten erfahren ist, mit Zuneigung und Hochachtung angesehen.


Die Wiederverheiratete fällt unter die verheirateten Frauen. Denn sie, die Witwe, wird wieder verheiratet. Unter der Rubrik »Hetären« ist die ganikā genannt, um anzudeuten, daß das auch eine Frau ist, die die vierundsechzig Künste kennt. »Mit Zuneigung«, aus Zuneigung: der Grund, weshalb. »Hochachtung«, Ansehen.

Fußnoten

1 Die Summe der vierundsechzig Künste nach Bābhravya.

Quelle:
Das Kāmasūtram des Vātsyāyana. Berlin 71922, S. 233-238.
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