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Erstes Kapitel.

Wie Kandid in einem schönen Schlosse erzogen wurde und wie man ihn von dannen jagte.

[39] Im Schlosse des Freiherrn v. Thundertentronckh in Westfalen lebte um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein junger Bursche, der von Natur die Sanftmuth selbst war. Seine Gesichtszüge waren der Spiegel seiner Seele. Er besaß eine ziemlich richtige Urtheilskraft und ein Gemüth ohne Arg und Falsch; aus diesem Grunde vermuthlich nannte man ihn Kandid. Die ältern Bedienten des Hauses hatten ihn in starkem Verdacht, der Sohn einer Schwester des Freiherrn und eines braven, ehrenwerthen Edelmannes aus der Nachbarschaft zu sein, zur Vermählung mit welchem sich das Fräulein nicht hatte entschließen können, weil er nun einundsiebenzig Ahnen aufzuweisen vermochte, und die Wurzel seines Stammbaums durch den zerstörenden Zahn der Zeit verloren gegangen war.

Der Freiherr war einer der ansehnlichsten Landedelleute Westfalens, denn sein Schloß war mit Thorweg und[39] Fenstern versehen, ja den großen Saal zierte sogar eine Tapete. Alle Hunde seines Viehhofes machten im Nothfall eine Meute aus; die Stallknechte waren seine Bereiter, der Dorfpastor war sein Großalmosenier; sie nannten ihn alle »Gnädiger Herr« und lachten, wenn er Anekdoten erzählte.

Die gnädige Frau, die etwa 350 Pfund wog, hatte sich dadurch in hohes Ansehen gesetzt und machte bei Gelegenheit die gnädige Wirthin mit einer Würde, wodurch sie noch größere Ehrfurcht einflößte. Ihre siebenzehnjährige Tochter Kunigunde war ein frisches, üppiges, rothwangiges, reizendes Kind. Der Sohn des Freiherrn schien in allen Stücken seines Papas würdig. Der Hauslehrer Pangloß war das Orakel des Hauses, und der kleine Kandid hörte auf seinen Unterricht mit der treuherzigen Leichtgläubigkeit, die sein Alter und seine Gemüthsart mit sich brachte.

Pangloß lehrte die Metaphysikotheologokosmonarrologie. Er bewies auf unübertreffliche Weise, daß es keine Wirkung ohne Ursache gebe, und daß in dieser besten aller möglichen Welten das Schloß des gnädigen Herrn das beste aller möglichen Schlösser und die gnädige Frau die beste aller möglichen gnädigen Freifrauen sei.

»Es ist erwiesen,« sagte er, »daß die Dinge nicht anders sein können: denn da Alles zu einem Zweck geschaffen worden, ist Alles nothwendigerweise zum denkbar besten Zweck in der Welt. Bemerken Sie wohl, daß die Nasen geschaffen wurden, um den Brillen als Unterlage zu dienen, und so tragen wir denn auch Brillen. Die Beine sind augenscheinlich so eingerichtet, daß man Strümpfe darüber ziehen kann, und richtig tragen wir Strümpfe. Die Steine wurden gebildet, um behauen zu werden und Schlösser[40] daraus zu bauen, und so hat denn auch der gnädige Herr ein prachtvolles Schloß; der größte Freiherr im ganzen westfälischen Kreise mußte natürlich am besten wohnen, und da die Schweine geschaffen wurden, um gegessen zu werden, essen wir Schweinefleisch Jahr aus, Jahr ein. Folglich sagen die, welche bloß zugeben, daß Alles gut sei, eine Dummheit: sie mußten sagen, daß nichts in der Welt besser sein kann, als es dermalen ist.«

Kandid hörte aufmerksam zu und glaubte in seiner Unschuld Alles; denn er fand Fräulein Kunigunden äußerst reizend, obgleich er sich nie erdreistete, es ihr zu sagen. Er hielt es nächst dem Glücke, als Freiherr von Thundertentronckh geboren zu sein, für die zweite Stufe der Glückseligkeit, Fräulein Kunigunde zu sein, für die dritte, sie alle Tage zu sehen, und für die vierte, der Weisheit des Magister Pangloß lauschen zu dürfen, des größten Philosophen Westfalens und folglich der ganzen Erde.

Eines Tages lustwandelte Kunigunde in einem kleinen Gehölz in der Nähe des Schlosses, das man den Park nannte, da erblickte sie im Gebüsch den Doctor Pangloß, als er gerade der Kammerjungfer ihrer Mutter, einer kleinen sehr hübschen und gelehrigen Brünette, Privatunterricht in der Experimental-Physik ertheilte. Da Fräulein Kunigunde sehr wißbegierig war, beobachtete sie mit angehaltenem Athem die wiederholten Experimente, die vor ihren Augen vorgenommen wurden. Sie sah deutlich die ratio sufficiens des Doctors, die Wirkungen und die Ursachen. Auf dem Heimwege war sie höchst aufgeregt, tiefsinnig und voll des Verlangens, ihre Kenntnisse zu bereichern, wobei sie sich dachte, daß sie wohl die ratio sufficiens des jungen Kandid und er die ihrige vorstellen könnte.[41]

Als sie zum Schlosse zurückkam, begegnete sie ihm und erröthete; Kandid erröthete gleichfalls, sie begrüßte ihn mit unsichrer Stimme, und Kandid sprach mit ihr, ohne zu wissen, was er sagte. Am folgenden Tage nach dem Mittagessen, als man eben vom Tisch aufstand, trafen Kunigunde und Kandid sich zufällig hinter einer spanischen Wand. Kunigunde ließ ihr Taschentuch fallen; Kandid hob es auf; sie faßte ihn in ihrer Unschuld bei der Hand; der junge Mensch küßte in seiner Unschuld die Hand des jungen Fräuleins mit einer Lebhaftigkeit, einem Feuer der Empfindung, einer Anmuth, die ihm bis dahin fremd war. Ihre Lippen begegneten sich, ihre Augen glühten, ihre Kniee zitterten, ihre Hände verirrten sich. In diesem Augenblick ging der Freiherr von Thundertentronckh an der spanischen Wand vorüber, und da er jene Ursache und jene Wirkung sah, jagte er unsern Kandid mit derben Fußtritten zum Schlosse hinaus. Kunigunde fiel in Ohnmacht; mit Ohrfeigen brachte die gnädige Frau Mama sie wieder zu sich selbst; und allgemeine Bestürzung herrschte in dem schönsten und angenehmsten aller möglichen Schlösser.

Quelle:
Kandid oder die beste Welt. Von Voltaire. Leipzig 1844, S. 39-42.
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