Fünftes Kapitel.

Sturm, Schiffbruch, Erdbeben und was aus dem Doctor Pangloß, Kandid und dem Wiedertäufer Jakob wurde.

[53] Die Passagiere waren zur Hälfte abgemattet und halbtodt durch jene unbeschreiblichen Beängstigungen, denen beim Schwanken eines Schiffes die Nerven und die durcheinander geschüttelten Säfte des Körpers unterliegen, und hatten nicht einmal so viel Kraft, über die Gefahr in Unruhe zu gerathen. Die Uebrigen schrieen und beteten. Die Segel waren zerrissen, die Masten zersplittert, das Schiff hatte einen Leck. Mochte arbeiten, wer da konnte: Niemand verstand den Anderen, Niemand commandirte. Der Wiedertäufer[53] half ein wenig bei dem Schiffsmanöver; er befand sich auf dem Verdeck; ein wüthender Matrose versetzte ihm einen Stoß, der ihn auf die Planken niederstreckte, wovon er aber zugleich selbst eine so heftige Erschütterung empfing, daß er rücklings über Bord stürzte. Er blieb indessen hängen und klammerte sich an einen Theil des zertrümmerten Mastbaums fest. Der gute Jakob eilt zu seinem Beistande herzu, hilft ihm wieder an Bord, wird durch seine Anstrengung dabei ins Meer geschleudert und ertrinkt vor den Augen des Matrosen; ohne daß der es nur der Mühe werth hält, sich nach ihm umzusehen. Kandid kommt eben zeitig genug, um zu sehen, wie sein Wohlthäter einen Augenblick wieder zum Vorschein kommt und dann auf ewig von den Wogen verschlungen wird. Er will sich ihm nach ins Meer stürzen. Der Philosoph Pangloß verhindert ihn daran, indem er ihm beweist, die Rhede von Lissabon sei ausdrücklich dazu geschaffen, daß dieser Wiedertäufer darin ertrinke. Während er es a priori demonstrirt, kracht das Schiff auseinander, und Alles ersäuft bis auf Pangloß, Kandid und den nichtswürdigen Matrosen, der Schuld am Tode des braven Wiedertäufers war. Der Schurke schwamm glücklich ans Ufer, wohin Pangloß und Kandid sich auf einer Planke retteten.

Als sie ihre Lebensgeister ein wenig gesammelt hatten, richteten sie ihren Weg nach Lissabon. Sie hatten noch etwas Geld, womit sie sich vor dem Hungertode zu schützen hofften, nachdem sie den Sturm glücklich entronnen waren.

Kaum haben sie, die Augen noch voll Thränen über den Tod ihres Wohlthäters, den Fuß in die Stadt gesetzt, da fühlen sie, wie die Erde unter ihnen erzittert; siedend und schäumend wallt das Meer im Hafen empor und zerschmettert die vor Anker liegenden Schiffe. Ströme von Feuer und Asche[54] bedecken, vom Wirbelwind umhergetrieben, die Straßen und öffentlichen Plätze; die Häuser wanken und fallen ein, die Dächer stürzen über den Grundmauern zusammen, und diese weichen aus ihren Fugen. Dreißigtausend Einwohner jeglichen Alters und Geschlechts werden unter den Ruinen zerschmettert.

»Hier giebt's was zu gewinnen!« sprach pfeifend und mit einem Kernfluch der Matrose.

»Was kann wohl der zureichende Grund dieser Naturerscheinung sein?« philosophirte Pangloß.

»Der jüngste Tag ist gekommen!« schrie Kandid.

Der Matrose stürzt sich ohne Weiteres mitten unter die Trümmer, bietet dem Tode Trotz, um Geld zu finden, erspäht, was er sucht, steckt es zu sich, betrinkt sich und erkauft, nachdem er kaum seinen Rausch ausgeschlafen, die Gunst der ersten besten gutwilligen Mädchens, die ihm auf den Trümmern zerstörter Häuser mitten unter Todten und Sterbenden in den Wurf kommt.

Pangloß zupfte ihn inzwischen am Aermel. »Mein Freund,« sprach er, »daß ist nicht wohlgethan: Ihr fehlt gegen die allgemeine Vernunft; Ihr wählt Eure Zeit schlecht.«

»Mordelement!« erwiderte jener, »ich bin Matrose und in Batavia geboren. Auf vier Reisen nach Japan hab' ich viermal unsern Herrn Christus am Kreuze mit Füßen getreten: Du kommst just an den rechten Mann mit Deiner allgemeinen Vernunft!« –

Einige herunterfallende Steine hatten Kandid verwundet; fast ganz von Trümmern bedeckt, lag er am Boden.

»Verschaff' mir etwas Wein und Oel,« bat er ächzend den Doctor, »ich sterbe!«

»Dies Erdbeben ist nichts Neues,« antwortete Pangloß; »die Stadt Lima in Amerika erfuhr im letztverflossenen[55] Jahre ganz dieselben Erschütterungen. Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen. Sicher erstreckt sich eine Schwefelader unter der Erde von Lima bis nach Lissabon

»Nichts ist wahrscheinlicher,« stöhnte Kandid; »aber um Gotteswillen, einen Tropfen Wein und Oel!«

»Wie so nur wahrscheinlich?« entgegnete der Philosoph; »ich behaupte, die Sache ist erwiesen!«

Kandid verlor die Besinnung, und Pangloß brachte ihm ein wenig Wasser aus einer nahen Quelle. –

Da sie den andern Tag allerlei Mundvorrath gefunden hatten, indem sie sich durch den Schutt hindurch arbeiteten, schöpften sie wieder einige Kraft. Sie thaten darauf, wie die Andern, ihr Möglichstes, den Einwohnern, die dem Tode entronnen waren, ihr Loos zu erleichtern. Einige Bürger, denen sie hülfreiche Hand geleistet hatten, bewirtheten sie mit einem so guten Mittagessen, als es bei solchem Mißgeschick möglich war. Freilich herrschte kein Frohsinn bei diesem Mahle, die Gäste benetzten das Brot mit ihren Thränen; allein Pangloß tröstete sie.

Er versicherte, daß die Sachen nicht anders sein könnten. »Denn,« sprach er, »dies Alles ist so gut, daß kein besserer Zustand denkbar ist; denn wenn es zu Lissabon einen Vulkan giebt, so kann er nicht anderswo sein. Denn es ist unmöglich, daß die Dinge nicht da wären, wo sie sind. Denn Alles ist gut«.

Ein kleiner schwarzer Mann, seines Zeichens ein Familiar der heiligen Inquisition, der neben ihm saß, nahm sehr höflich das Wort und sprach: »Augenscheinlich glaubt der Herr nicht an die Erbsünde; denn wenn Alles aufs beste angeordnet ist, so giebt es demnach weder Sündenfall, noch Strafe.«

»Ich bitte Ew. Excellenz ganz gehorsamst um Verzeihung,«[56] antwortete Pangloß noch höflicher; »denn der Sündenfall des Menschen und die Verfluchung gehörten nothwendig in die beste aller möglichen Welten«.

»Der Herr glaubt also nicht an die Freiheit?« sprach der Familiar.

»Ew. Excellenz werden gütigst entschuldigen,« erwiderte Pangloß; »die Freiheit verträgt sich mit der absoluten Nothwendigkeit sehr wohl; denn es war nothwendig, daß wir frei seien; denn der determinirte Willen endlich...«

Pangloß steckte noch mitten in seiner Phrase, als der Familiar seinem Bedienten, der ihm Portwein servirte, einen bedeutungsvollen Wink gab.

Quelle:
Kandid oder die beste Welt. Von Voltaire. Leipzig 1844, S. 53-57.
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