§ 72. Die Neukantianer im engeren Sinne:

Cohen, Natorp, Stammler, Staudinger u. a.

Die Marburger Schule.

1. Hermann Cohen.

  • [425] Literatur: Über ihn vgl. außer den älteren Schriften von Lindheimer (S. 418) und Tocco, L'idealismo critico del Cohen, Napoli 1887, jetzt vor allem das Festheft der ›Kantstudien‹ (XVII, 3) zu Cohens 70. Geburtstag (4. Juli 1912), mit wertvollen Beiträgen von P. Natorp, A. Görland, E. Cassirer und W. Kinkel. Von Dissertationen: R. Odebrecht, Cs. Philos. der Mathematik. Erlangen 1906. J. Weise, Die Begründung der Ethik bei E. Cohen. Erl. 1911. Aus dem Jahre 1918 die Gedächtnisreden von E. Cassirer und P. Natorp (Marb. 1918), ferner Natorp, Cohens philosoph. Leistung, Berl. 1918.

a) Schriftstellerische Entwicklung. Hermann Cohen, geb. 1842, Herbst 1873 Privatdozent, nach Langes Tode 1676 ordentlicher Professor der Philosophie in Marburg, seit Herbst 1912 in Berlin lebend, wo er am 4. April 1918 starb. Er ist nie, wie man bisweilen liest, ein Anhänger oder gar Schüler Langes gewesen, sondern hat sich vollkommen selbständig zum Neukantianer entwickelt; im Gegenteil, Lange steht in der zweiten Auflage seines Hauptwerks, wie er selbst ausdrücklich erklärt, hinsichtlich der Auffassung Kants unter dem Einflusse des jüngeren Kollegen. Ebensowenig war Cohen der Kantphilologe, als den man ihn anfangs nahm, weil sein erstes Werk: Kants Theorie der Erfahrung (1871) die Forderung aufstellte, daß, wer über Kant urteilen wolle, sich vor allem erst einmal den historischen, urkundlich vorhandenen Kant zu eigen machen müsse, und daß der letztere zu diesem Zwecke »mit philologischer Genauigkeit« zu behandeln sei. Vielmehr schwebte ihm von Anfang an eine Verbindung der historisch-philologischen Aufgabe mit dem systematischen Gesichtspunkt, eine Weiterbildung von Kants System, eine Neubegründung des Kritizismus vor. Das macht sich bei jedem folgenden Werke in steigendem Maße geltend. Schon das nächste Buch: Kants Begründung der Ethik (1877) redet von einer »Auslegung« der Kantischen Lehre, von einer zwar »gemäß der kritischen Methode und im Anschluß an Kants Worte« erfolgenden, aber »selbständigen Behandlung der philosophischen Probleme«. Kants Philosophie bedeutet ihm: Philosophie als Wissenschaft, Kants Begründung die erkenntnistheoretische Begründung der Ethik, in die deshalb als erster Teil die bei Kant der[425] theoretischen Philosophie angehörige Ideenlehre einbezogen wird. Die zweite Auflage von Kants Theorie der Erfahrung (1885) bringt sodann eine einschneidende Neubearbeitung der Kantischen Erfahrungslehre. Vor allem wird noch entschiedener die Einheit des Bewußtseins als die Einheit der Grundsätze geltend gemacht und als Kern der letzteren, im Anschluß an die kurz vorher erschienene kleinere Schrift über Das Prinzip der Infinitesimalmethode (1883), der Grundsatz der intensiven Größe hervorgehoben. Nachdem so die beiden ersten Teile des Kantischen Systems, Erfahrungslehre und Ethik, bearbeitet waren, brachte das dritte Werk, Kants Begründung der Ästhetik (1889), eine mit reichen eigenen Ausführungen ausgestaltete Begründung der Ästhetik in und aus dem Systeme der kritischen Philosophie, mit klärenden systematischen Rückbeziehungen auf jene beiden ersten Erzeugungsweisen des Bewußtseins. Und ganz »frei von dogmatischer Abhängigkeit« prüfte die Einleitung mit kritischem Nachtrag zu F. A. Langes Geschichte des Materialismus in fünfter Auflage (1896) das Verhältnis der Logik zur Physik und das der Ethik zur Religion und Politik; wozu die 1902 erschienene siebente Auflage noch zwei Abschnitte über »das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte« und »das Verhältnis der Psychologie zur Metaphysik« fügte. Diejenigen aber, die trotz alledem Cohen noch vorzugsweise als Kant-Interpreten auffaßten erhielten endgültige Aufklärung durch den ersten Teil seines Systems der Philosophie (Berlin 1902), der in seinem Sondertitel Logik der reinen Erkenntnis zum erstenmal auch äußerlich den Namen Kants abwarf und, wenngleich unter Anlehnung an die kritische Methode, ein eigenes systematisches Lehrgebäude errichtete.

b) Das System des methodischen Idealismus.

Entsprechend den drei großen Richtungen der allgemeinen Kultur, in denen sich zugleich die verschiedenen Erzeugungsweisen des menschlichen Bewußtseins darstellen, nämlich: Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, zerfällt nach Cohen das System der Philosophie in Logik, Ethik und Ästhetik; dazu sollte als viertes Glied die nicht mehr zustande gekommene Psychologie, als die »Lehre vom Menschen in der Einheit seines Kulturbewußtseins« treten.

. Die Logik der reinen Erkenntnis. (2. Aufl. 1914).

Logik bedeutet in dem umfassenden und doch zugleich sehr speziellen Sinn, in dem Cohen das Wort versteht:[426] Logik der Mathematik und, durch sie, der mathematischen Naturwissenschaft (Physik). In der von der Kritik der reinen Vernunft vollzogenen Scheidung zwischen Logik und Metaphysik sieht er die weltgeschichtliche Tat Kants, von der alle gesunde philosophische Forschung auszugehen hat. Die mächtigen und schöpferischen Geister in der Philosophie haben zu allen Zeiten nach diesem Kompaß gesteuert: Parmenides, Pythagoras, Demokrit und Plato im Altertum, Galilei, Kepler, Newton als Begründer der modernen Naturwissenschaft, Nikolaus von Kusa, Descartes und Leibniz als Urheber der neueren Philosophie. Freilich nicht ohne Irrungen und Abweichungen von der selbstgesetzten Richtlinie. Selbst der größte unter ihnen, Immanuel Kant, hat die eigene, kritische Methode noch nicht völlig konsequent ausgestaltet. Eine solche Inkonsequenz bezw. Mangelhaftigkeit der systematischen Durchbildung erblickt Cohen namentlich in Kants Ausgehen von der reinen Sinnlichkeit. Wenn nur das reine Denken das Bestimmbare bestimmen, d.i. wahres Sein erzeugen kann, so darf es seinen Ursprung nicht in irgendwelchem »Gegebenen«, d.i. einem Etwas außerhalb seiner selbst haben. Nicht mit der reinen Anschauung, sondern mit dem reinen Denken hat die Philosophie zu beginnen: also mit einer tranzendentalen Logik. Denn das Denken der Logik ist das sich selbst erzeugende Denken der Wissenschaft, die Logik ist Logik des Ursprungs, aus dem sie alle reinen Erkenntnisse ableitet.

Die Grundform des Seins, d. i. Denkens, ist nicht der Begriff, sondern das Urteil, das sich seinerseits in den Kategorien, als seinen Grundrichtungen, vollzieht, die den reinen Erkenntnissen oder Gesetzen der Gegenstände, d. i. der Verwandlungsformen des Seins, entsprechen und aus den Arten und Richtungen dieser reinen Erkenntnisse abzuleiten sind. Cohen unterscheidet:

  • 1. Die Urteile der Denkgesetze: a) des Ursprungs, b) der Identität, c) des Widerspruchs.

  • 2. Die Urteile der Mathematik: a) der Realität, b) der Mehrheit, c) der Allheit.

  • 3. Die Urteile der mathematischen Naturwissenschaft: a) der Substanz, b) des Gesetzes, c) des Begriffs.

  • 4. Die Urteile der Methodik: a) der Möglichkeit. b) der Wirklichkeit, c) der Notwendigkeit.

Auf diese methodische Grundlegung und in dem Rahmen dieser Klassifikation folgen nun die weitverzweigten[427] und tiefgehenden, beständig mit den philosophischen Klassikern wie mit den Grundproblemen und Grundbegriffen der Wissenschaften bis in ihre feinste Verästelung sich auseinandersetzenden Einzelausführungen des Werkes zu dem A. Görland einen ausführlichen, sorgfältigen Index (Berlin 1906) geliefert hat.


I. Die Ethik des reinen Willens (1904, 2. Aufl. 1907).

Der Logik des reinen Denkens entspricht die Ethik des reinen Wollens. Wie jene auf die Mathematik, so wird diese auf die Rechtswissenschaft, als die »Mathematik der Geisteswissenschaften«, begründet. Die Ethik ist die Prinzipienlehre der Philosophie von Recht und Staat. Der reine Wille ist vom Affekt, selbst dem religiösen, loszulösen; aber er darf nicht bloß Gesinnung bleiben wollen, sondern muß sich in Handlung, diesen Grundbegriff des Rechtes, umsetzen. Doch bedeutet die Handlung ebensowenig, wie in der reinen Logik der Begriff, etwas Abgeschlossenes, sondern eine Aufgabe, in der die Bewegung des Affekts mit der Ruhe des Denkens sich verbindet. Der Ursprung des sittlichen Ich liegt in der Idee des Nebenmenschen und damit der Menschheit überhaupt, die wissenschaftlich nicht in Religion und Ästhetik, sondern nur als höchstes Rechtsprinzip durchgeführt werden kann. Der Begriff der juristischen Person, vor allem in der Genossenschaft, ist eine Folgerung aus dem Grundbegriff der einheitlichen moralischen Persönlichkeit; sie erweitert sich schließlich zu dem Inbegriff, zur rechtlichen Verfassung einer Vielheit dieser Persönlichkeiten: dem Staate. Die Ethik ist es, welche die natürliche Gemeinschaft des Volkes zur sittlichen des Staates erhebt. Und da der Wille des Staates sich in Gesetzen bekundet, so muß das ungeschriebene Gesetz des Selbstbewußtseins der Leitstern der positiven Satzungen werden, muß an die Stelle des auch von Kant noch als obersten Rechtsprinzips festgehaltenen Zwanges die Rechtsnorm treten, die für alle gilt und von der Rücksicht nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft diktiert ist. In der von Kant formulierten Idee des Menschen als Selbstzwecks liegt das sittliche Programm der neuen Zeit, das Ziel der modernen Politik und modernen Ethik. In ihr verbindet sich die antike Staatsidee mit dem christlich-protestantischen Gedanken des freien Individuums zur Idee der Gesellschaft, des Sozialismus. Die Autonomie des sittlichen Selbstbewußtseins beweist sich als Selbstgesetzgebung,[428] d.h. Gesetzgebung des und zum Selbst, als Selbstbestimmung im Vorsatz zur einzelnen Handlung, als Selbstverantwortung bei aller Kausalität der Natur, endlich als Selbsterhaltung in der Idee der Strafe und der ausnahmslosen Durchführung theoretischer wie sittlicher Kultur.

Auf die Grundlegung (Kap. 1 – 7) folgt die angewandte Ethik (Kap. 8-16). Die Wirklichkeit des Sittlichen besteht in seiner beständigen Verwirklichung, in der Ewigkeit des sittlichen Fortschritts. Der Idee Gottes bedarf die Ethik zwar keineswegs zu ihrer Begründung, wohl aber zu einem befriedigenden Abschluß, weil nur sie die Übereinstimmung von Natur und Sittlichkeit gewährleistet. Grundbegriff der angewandten Ethik ist die Tugend, in der sich Gesinnung mit Betätigung in stetigem Handeln eint. Es werden von Tugenden unterschieden: Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit, Tapferkeit, Treue, Gerechtigkeit und Humanität. Die Wahrhaftigkeit ist die eigentliche Tugend der Wissenschaft, der allen ohne Ausnahme zugänglich zu machenden Bildung, der Philosophie und schließlich auch wahrer Politik (allgemeine Staatsschule, allgemeines Wahlrecht); die Bescheidenheit die der Kritik, der Gescheitheit, der Geduld, der Sachlichkeit, des Friedens mit sich und anderen gegenüber aller Sittenrichterei, allem Dünkel, falschem Heroentum und Chauvinismus, allem Neid und Haß. Die Tapferkeit bedeutet nicht bloß Mut, Selbstzucht und Standhaftigkeit im Leiden, sondern auch den Fleiß der Kulturarbeit, insbesondere der politischen, entgegen dem Übermenschentum, der Herrenmoral, der falschen Ritterlichkeit und der Herrschsucht. Die Treue oder Beharrlichkeit bedeutet Stetigkeit der eigenen Entwicklung, zeigt sich gegenüber den anderen in der Freundschaft, Keuschheit und Ehe, arbeitet an der Ethisierung der Religion und bewährt sich in der Hingabe an Familie, Volk und Staat. Die spezifische Tugend des Rechtes und des Staates aber ist die Gerechtigkeit. Recht und Staat können durch Liebe nicht ersetzt werden; die Gerechtigkeit erfordert den Staat und eine methodische Rechtswissenschaft, deren wichtigstes Problem das Verhältnis der Person zur Sache ist. Die Teilung der Arbeit darf nicht so weit gehen, daß die Einheit der Persönlichkeit vernichtet wird; das Verhältnis von Arbeitsprodukt und Arbeitsertrag bildet die Grundfrage der sittlichen Kultur, das Problem des Eigentums die alte crux der[429] Ethik. Aus dem empirischen Machtstaat der Stände und herrschenden Klassen muß der Rechtsstaat werden, der das Menschenrecht verwirklicht. So gipfeln in der Gerechtigkeit alle anderen Tugenden; sie ist die Tugend des sittlichen Ideals, im festen Glauben an eine neue Welt. Die notwendige Ergänzung endlich zum strikten Rechte für die Unerschöpflichkeit der Einzelfälle bildet die Billigkeit. Sie vertieft sich, indem ich jeden Menschen nach meinem eigenen Werte zu behandeln lerne, zur letzten Tugend, der Humanität oder Menschlichkeit, dem Zentrum und Richtmaß aller anderen.


II. Die Ästhetik des reinen Gefühls (2. Bde. 1911).

Die Ästhetik ist nach C. weder Kunstgeschichte, d. i. Geschichte der Künstler, noch Kunstwissenschaft, d. i. bloße Logik der Kunst, sondern das dritte notwendige Glied des Systems: Philosophie der Kunst als der dritten großen Kulturtatsache der Menschheit, die gegenüber Logik und Ethik eine neue, eigene, von jenen beiden grundsätzlich unterschiedene und ihnen doch gleichwertige Art der Gesetzlichkeit verlangt. Die Gesetzlichkeit besteht hier wie dort in der methodischen Grundlegung durch eine besondere den Gegenstand erst erzeugende Art des Bewußtseins; sie liegt für das ästhetische Bewußtsein im reinen Gefühl. Denn die Urform des Bewußtseins ist das Fühlen, das in dem Bewegungsgefühl der Empfindung seinen ersten Inhalt erzeugt, aber, um ›rein‹ zu werden, der methodischen Vorbedingungen des reinen Denkens wie des reinen Willens bedarf. Die Grundform der Bewegung wirkt ebenso in dem Tastsinn der Plastik und in der Erzeugung der menschlichen Gestalt, wie in dem Rhythmus der Musik und der Rührung, die sie erweckt, und in ihrer höchsten Vollendung, der Liebe, der Liebe zu der Natur des Menschen und dem Menschen der Natur. Natur wie Sittlichkeit sind Stoff der Kunst, die sich objektiviert im Kunstwerk. Der Oberbegriff aller Kunst ist die Idee des Schönen, von dem das Erhabene und der Humor nur einzelne Momente darstellen. Und als unendliche Aufgabe gefaßt, führt das Schöne auch zur Entwicklung, zur Geschichte der Kunst, wie anderseits zur subjektiven Erfüllung im reinen Selbst. Dabei bleibt das ästhetische Gefühl doch unabhängig von dem religiösen.

Von diesem systematischen Standpunkt des reinen Gefühls aus werden dann die einzelnen Künste und die[430] Werke des künstlerischen Genius beleuchtet. Die innere Sprachform aller Künste ist die Poesie, während aus der Notenbegriffssprache die Sprache des musikalischen Gefühls herauswächst. Der Oberbegriff der bildenden Künste ist die Baukunst, aus der durch das Hinzukommen der sittlichen Vorbedingung Plastik und Malerei hervorgehen. Auf die reiche Ausführung dieser Grundgedanken, die den Hauptreiz des Werkes bildet, können wir hier nur hinweisen.

Die reine Erkenntnis (Logik), der reine Wille (Ethik), das reine Gefühl (Ästhetik) bilden vereinigt die Einheit des Kulturbewußtseins, welches die Psychologie erforscht und beschreibt. Der vierte Teil von Cohens System des Idealismus oder methodischen Rationalismus, die Psychologie, ist nicht mehr erschienen.

Seine religionsphilosophische Stellung legte eine kleinere Schrift Religion und Sittlichkeit, eine Betrachtung zur Grundlegung der Religionsphilosophie (1907), dar. Der Begriff der Religion im System der Philosophie (Gießen 1915) bestimmt die Religion in ihrem Verhältnis zu Logik, Ethik, Ästhetik und Psychologie, denen sie als wenn auch nicht gleich selbständiges, so doch eigenartiges Glied des Systems zur Seite tritt, indem sie die »Einigkeit« Gottes und der Menschenseele betont. Daneben erfuhr seine frühere Darstellung der Kantischen Ethik eine umfassende Erweiterung, indem sein Buch von 1877 (s. oben) in um mehr als die Hälfte erweitertem Umfang (557 statt 328 Seiten) unter dem Titel Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte (Berlin 1910) neu erschien. Cohen behandelt hier zum ersten Male ausführlicher Kants Rechts-, Religions- und Geschichtsphilosophie.

Als echter Jünger Kants hat Cohen in Lehre und Schrift das Hauptgewicht stets mehr auf die Methode des Philosophierens als auf den fertigen Inhalt philosophischer Lehrsätze gelegt. Daher sind denn auch die von ihm beeinflußten Denker, die wir nun (Nr. 2-4) folgen lassen, nicht als Schüler, die auf des Meisters Worte schwören, sondern als Denker aufzufassen, die von ihm nur die methodische Grundrichtung empfangen, sich dann aber selbständig nach verschiedenen Seiten weitergebildet haben. Dahin gehören zunächst sein langjähriger Marburger Kollege Natorp, ferner Stammler, Staudinger, K. Vorländer, A, Stadler, K. Lasswitz. In [431] engerem Anschluß an Cohen und Natorp steht die sogenannte »Marburger Schule« (s. unten).


2. Paul Natorp.

a) Schriften. Natorp, geboren 1854, seit 1885 Professor in Marburg, ging ursprünglich von Laas' (vgl. § 77) Positivismus aus. Allein schon seine erste größere Arbeit über Descartes' Erkenntnistheorie (1882) ist unter dem Einflusse des (Cohenschen) Kritizismus geschrieben, dessen Methode er dann in eigenartiger Weise weitergebildet und fast auf alle philosophischen Fächer angewandt hat, wie die folgenden Titel seiner wichtigeren Schriften zeigen: Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum (1884); Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode (1888), jetzt völlig umgestaltet und bedeutend erweitert zu dem Buch: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode (1912); Religion innerhalb der Grenzen der Humanität (1894, 2. erweiterte Auflage 1908); Herbart, Pestalozzi und die heutigen Aufgaben der Erziehungslehre (1899); Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft (1899, 3. Aufl. 1909); Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (1910). Eine Ergänzung zur Sozialpädagogik bieten die Gesammelten Abhandlungen zur Sozialpädagogik I.: Historisches (Stuttgart 1907), das die Grenzgebiete beider Wissenschaften regelnde Werk Philosophie und Pädagogik (Marburg 1909) und die populär gehaltenen Vorträge über Volkskultur und Persönlichkeitskultur, Leipz. 1911. Ferner hat Natorp kürzere Hefte über Philosophische Propädeutik, Logik (2. Aufl. 1910), Allgemeine Psychologie, Pädagogische Psychologie (1901), Allgemeine Pädagogik in Leitsätzen zu akademischen Vorlesungen (Marburg 1903 ff.) herausgegeben. Eine knappe Zusammenfassung seiner Ansichten gibt das kleine Buch: Philosophie, ihr Problem und ihre Probleme, eine Einführung in den kritischen Idealismus (Göttingen 1911, 2. Aufl. 1918). Auch sein Plato-Werk (Bd. I, S. 89) trägt zugleich den systematischen Charakter einer »Einführung in den Idealismus«. Zeitgemäße Einzelfragen der Pädagogik, besonders die; Religionsunterricht oder nicht?, hat Natorp häufig behandelt und die Schriften des von ihm an die Spitze der Pädagogen gestellten Pestalozzi, mit einem Einleitungsband über Pestalozzis Leben und Wirken, in Greßlers Klassikern der Pädagogik Bd. XXIII – XXV (Langensalza 1905) in Auswahl[432] herausgegeben. Am zusammenhängendsten hat er seine Theorie bisher in der Sozialpädagogik entwickelt, die in ihrem ersten Teile auch eine erkenntniskritische Grundlegung gibt.

b) Theoretische Philosophie. Die Logik (Erkenntniskritik) will nicht, wie die Naturwissenschaft, die zeitliche Ordnung der Erscheinungen unter dem Gesichtspunkte von Ursache und Wirkung erforschen, sondern ist ausschließlich auf die Einheit der Erkenntnis und deren Bedingungen gerichtet; logische und mathematische Gesetze gelten unterschiedslos und zu aller Zeit. Nur auf erkenntniskritischem Wege, nämlich durch Unterordnung unter die »kategorialen Grundbestimmungen«: Zahl, Zeit, Ort, Größe, Ding, Ursache usw., entsteht Verknüpfung der sogenannten »Tatsachen«, und im weiteren Verlaufe Gesetzlichkeit dieser Verknüpfung, d. i. Naturerkenntnis. Erkenntnis ist dabei zu verstehen als unendlicher Prozeß (fieri), logische Aufgabe, denn Tatsachenbestimmung gibt immer nur Näherungswerte; Aufgabe der Naturwissenschaft kann es nur sein, »Unbestimmtheiten immer enger in Grenzen des Denkens einzuschließen«. So bleibt auch der »Gegenstand« für die wissenschaftliche Erkenntnis stets unendliche Aufgabe. Letzter Grund und Ausgangspunkt der Logik ist das Prinzip des Ursprungs (vgl. Cohen), das zugleich den systematischen Zusammenhang, d.h. die Möglichkeit des Fortgangs im Denken bedeutet. Der Urakt des logischen Denkens ist eine begriffliche Neuschöpfung. Es folgt der logische Aufbau der exakten Wissenschaften. Zunächst der Mathematik in: Zahl und Rechnung, Unendlichkeit und Stetigkeit, Richtung und Dimension als Bestimmungen der reinen Zahl. Dann der mathematischen Physik: Mathematische Gesetze der Zeit und des Raumes, zeitlich-räumliche Bestimmung des Existierenden, mechanische Prinzipien, Übergang zur Physik, Energie- und Relativitätsprinzip, durch das die Eindeutigkeit der Naturgesetze nicht berührt wird.

Natorps »Allgemeine Psychologie« will die logischen Grundlagen dieser Wissenschaft klären, also eine Art Philosophie der Psychologie sein, indem sie vor allem nach deren Objekt und Methode fragt. Objekt oder Problem der Psychologie ist die »Totalität alles Erlebten« oder der Gesamtinhalt des Bewußtseins. Die Methode hat davon auszugehen, daß einunddieselbe Erscheinung einerseits Erscheinung für ein Bewußtsein, anderseits Erscheinung eines Gegenstandes ist. Das Physische ist immer auch[433] psychisch, das Psychische zeigt sich stets körperlich; beide bilden eine Einheit in steter Wechselbeziehung aufeinander (korrelativistischer Monismus). Gegenüber der objektiven Erkenntnis der Gesetzeswissenschaften, von denen die Naturwissenschaft auch alle psychischen Erscheinungen uneingeschränkt zu bearbeiten hat, geht die philosophische Psychologie weder in naturwissenschaftlicher Kausalgesetzlichkeit noch in bloßer Beschreibung auf, sondern sucht das Unmittelbare im Bewußtsein zu »rekonstruieren«, gedanklich wiederzuerzeugen.

c) Praktische Philosophie. Das Gesetz der Einheit, als Grundgesetz des Bewußtseins, ist auch für die Ethik, die Zielsetzung des Willens, gültig. Kants formales Sittengesetz bedeutet nichts anderes als unbedingt einheitliche Ordnung der Zwecke, unter der Leitung des aus dem »Triebe« durch den »Willen im engeren Sinne« zur höchsten möglichen Konzentration sich erhebenden »reinen oder Vernunftwillens«. Aus den drei »Grundfaktoren der Aktivität« (Trieb, Wille, Vernunft) leitet Natorp sodann – in freier Anlehnung an Plato – ein »System der individuellen Tugenden« ab: der Wahrheit als Tugend der Vernunft, der Tapferkeit oder sittlichen Tatkraft als Tugend des Willens, der Reinheit oder des Maßes als Tugend des Trieblebens, endlich der Gerechtigkeit als Einheit der übrigen und zugleich individuellen Grundlage der sozialen Tugend. Menschenbildung ist nur in menschlicher Gemeinschaft möglich. Die »Sozialpädagogik« handelt daher ebensowohl von den »sozialen Bedingungen der Bildung« als von den Bildungsbedingungen des sozialen Lebens.

Auf dem Gebiete der Sozialphilosophie ergeben sich als die drei Hauptstufen des sozialen Lebens: Arbeitsgemeinschaft, äußere soziale Willensregelung durch Technik und Recht (vgl. Stammler S. 436) und. vernünftige Kritik der letzteren unter dem Gesichtspunkte unbedingter Einheit der Zwecke. Ihnen ent sprechen, als die drei Grundklassen sozialen Tuns, die wirtschaftliche, regierende und bildende Tätigkeit, die in dem einen letzten Zweck der Menschenbildung zusammenlaufen. Das »Grundgesetz der sozialen Entwicklung« in Natorps Sinn will kein Natur oder Erfahrungsgesetz, sondern ein regulatives »Gesetz der Idee« sein, das, über die Vorstufen der Naturerkenntnis – Technik – äußeren sozialen Regelung, bis zu dem obersten Ziel- und Leitgedanken einer einheitlichen Ordnung der Zwecke vordringt. Das sittliche Endziel der[434] sozialen Entwicklung erblickt Natorp, an Pestalozzi erinnernd, in der »allseitigen Entfaltung des Menschenwesens im lückenlosen, harmonischen Zusammenhang seiner Grundkräfte«.

Den Weg zur Annäherung an dieses soziale Ideal weist die soziale Pädagogik als Organisation und Methode der Willenserziehung; 1. als Organisation in Haus (Familie), Schule und öffentlichem Gemeinleben der Erwachsenen (freier Selbsterziehung); 2. als Methode in Übung und Lehre, enger Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden. Im Gegensatz zu Herbarts vielgepredigter Lehre vom »erziehenden Unterricht« (vgl. oben S. 340 Anm.) verficht Natorp auch auf dem Felde der theoretischen Pädagogik Kants reinliche Scheidung der einzelnen Bewußtseinsgebiete (Verstand, Wille, Gefühl), indem er den Anteil des Verstandes, der ästhetischen und der religiösen Bildung an der Willenserziehung untersucht und zugleich in Anlehnung an Pestalozzi die formalen Grundelemente der Vorstellung und die Selbsttätigkeit des Lernenden besonders betont.

Neben Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst besitzt die Religion keine ihr allein eigentümliche Gestaltungsweise, wohl aber einen ihr eigenen Quell im Gefühl: Gefühl, im Sinne Schleiermachers (dem Natorp hier weit näher steht als der Kantischen Religionsphilosophie), als Unmittelbarkeit subjektivsten, innerlichsten Lebens, das alles Denken und Wollen in sich auflöst und sich selbst als unendlich fühlt. Mit diesem Unendlichkeitsgefühl wird der Humane freilich keinen Jenseitsglauben mehr verbinden, sondern den wahren Grund und die reinste Form der Religiosität in echter Menschlichkeit (Humanität) erblicken, unter Wegfall aller Dogmatik und des unwahren Anspruchs auf wissenschaftliche Objektivität, unter Verzicht auf eine andere »Rechtfertigung« und »Erlösung« als durch den »Glauben« an die unendliche Aufgabe des Sittengesetzes.


3. Rudolf Stammler.

  • Literatur: J. Breue, Der Rechtsbegriff auf Grund der Stammlerschen Sozialphilosophie 1912. P. Natorp, Recht und Sittlichkeit in: Kantstud. XVIII. Vgl. auch Stammlers eigene kurze Zusammenfassung seiner Lehre in: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft (Teubners, ›Kultur der Gegenwart‹ II, 8), 1906; Begriff und Bedeutung der Rechtsphilosophie (Ztschr. f. Rechtsphilosophie) 1913.

[435] Stammler (geb. 1856, lange Professor der Rechte in Halle, jetzt Berlin) hat die kritische Methode vor allem auf das sozial– und rechtsphilosophische Gebiet übertragen: auf ersteres in seinem Werke Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung (1896, 3. Aufl. 1914), auf das letztere in der Lehre von dem richtigen Rechte (1902) und Theorie der Rechtswissenschaft (1911).

a) Sozialphilosophie. Das erste Buch unternimmt eine systematische Begründung des sozialen Idealismus auf dem Grunde Kantischer Erkenntniskritik, die gegenüber Dogmatismus und Skeptizismus, Materialismus und Spiritualismus, psychologischer und genetischer Betrachtungsweise als die richtige Methode er kannt und durchgeführt wird. Zunächst wird der Gegenstand der Sozialwissenschaft, das soziale Leben, begrifflich festgestellt als das »durch äußerlich verbindende Normen geregelte Zusammenleben von Menschen«, dessen »Materie« die Wirtschaft, dessen »Form« das Recht bildet. Es gilt weiter, nach einem Worte Natorps »alles Erfahrbare in einer Einheit des gesetzlichen Zusammenhangs zu begreifen«, somit das soziale Leben als einen »Monismus« zu verstehen. Zu dessen Begründung hat den wertvollsten Beitrag bis jetzt die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung (der Marxismus) geliefert, indem sie auf den Zusammenhang der geistigen mit den zugrunde liegenden ökonomischen Bewegungen hinwies. Alle Wandlungen der Gesellschaft müssen nach einer einheitlichen Methode als Glieder einer und derselben sozialen Erfahrung begriffen werden: es kann auch hier nur eine Kausalität geben. Aber neben der kausalen Erklärung, die nach Ursache und Wirkung forscht, existiert als gleichberechtigter Standpunkt der der teleologischen Beurteilung, die nach Mittel und Zweck bis hinauf zu der obersten Einheit möglicher Zwecksetzung, dem Endzweck fragt. Die konkreten sozialen Bestrebungen erwachsen freilich stets aus gegebenen sozialen Zuständen, aber sie unterliegen der Leitung nach Wünschen und Zielen der Menschen, deren oberster Maßstab nur der formale Gedanke, d. i. richtunggebende einheitliche Gesichtspunkt eines Endzwecks (Endziels) sein kann. Als solches erscheint Stammler die »Gemeinschaft frei wollender Menschen«, in der »ein jeder die objektiv berechtigten Zwecke des anderen zu den seinigen macht«.[436]

b) Rechtsphilosophie. Die rechtsphilosophische Ergänzung dieser Sozialphilosophie brachte Stammler zunächst in der Lehre vom richtigen Recht.

Recht und Ethik haben zwar den gleichen Stoff, aber verschiedene Aufgaben. Wenn auch das Recht, d. i. der Zwangsversuch zum Richtigen, zu seiner vollkommenen Erfüllung der sittlichen Lehre bedarf, wie diese des richtigen Rechts zu ihrer Verwirklichung, so ist doch die wissenschaftliche Begründung beider nach kritischer Methode zu scheiden. Wissenschaft geht auf Einheit, reine Wissenschaft auf unbedingte Einheit. Zu dem geschichtlichen (gesetzten, positiven) Recht als Stoff ist im Begriffe des richtigen Rechts die logisch bedingende Form, (Kants a priori) zu suchen. Da nun die rechtliche Regelung dazu da ist, ein bestimmtes Verhalten der ihr Unterstellten zu bewirken, so ist eine systematische Gesetzmäßigkeit der Zwecke, d.h. zu bewirkender Gegen stände herzustellen, die nicht den kausalen Verlauf irgendeines zeitlichen Geschehens, sondern die einheitliche Verknüpfung von Bewußtseinsinhalten im Auge hat. Als Norm und Grundgesetz dieser Einheit der Zwecke kann weder Freiheit noch Gleichheit, weder Nutzen und Wohlfahrt, auch wenn sie unter dem schönen Namen »Gemeinwohl« verkappt sind, noch Vollkommenheit in Frage kommen, sondern nur der formale Gedanke der Einheit selber, der in jenem sozialen Ideal der »Gemeinschaft frei wollender Menschen« seinen Ausdruck findet. Er enthält, als die Einheit seiner Bedingungen, die Idee des »richtigen« Rechtes. Aus ihr sind dann die »Grundsätze« des letzteren, insbesondere die der gegenseitigen Achtung und wechselseitigen Teilnahme, und in weiterer Abstufung die »Vorbilder« desselben bis herab zu den »begründeten Urteilen im Einzelfalle« abzuleiten.

In noch umfassenderer Weise sucht Stammlers drittes Werk, die Theorie der Rechtswissenschaft (1911), eine reine Rechtslehre nach formal-kritischer Methode zu begründen, wie Kant selbst sie nicht ausgeführt hat, da seine Rechtslehre »die kritische Methode fallen ließ und in den Bahnen des damals herrschenden Naturrechts verblieb«. Stammlers Theorie dagegen will »die allgemeingültige Art und Weise des juristischen Denkens« feststellen im Sinne der kritischen Methode, die nach unbedingter systematischer Einheit strebt. Zu dem Ende wird zunächst der Begriff des Rechts untersucht und letzteres schließlich als das unverletzbar selbstherrlich verbindende Wollen[437] be stimmt. Geltung des Rechts bedeutet die Möglichkeit seiner Durchsetzung; das geltende Recht bleibt ein Teil des gesetzten Rechts und hängt mit seiner Beziehung auf bestimmte Menschen zusammen. Aus dem obersten Begriffe des Rechts leiten sich dessen Kategorien, d.h. diejenigen Grundbegriffe ab, welche die Jurisprudenz erst zur Wissenschaft machen: z.B. vom Wollen die des Rechtssubjekts und -objekts, vom Verbinden die des Rechtsgrundes und Rechtsverhältnisses usf. Aus diesen einfachen entstehen dann durch ihre Kombination 24 »zusammengezogene« Grundbegriffe, weiter zeitlich und logisch »einreihende«. Aus den einfachen rechtlichen Grundbegriffen ergeben sich auch die Grundaufgaben des Rechts. Die Methodik des Rechts besteht in der eigentümlichen juristischen Begriffbildung, der Geschlossenheit der Rechtsbetrachtung und der Darlegung der verschiedenen Arten der Rechtssätze, worauf dann der einheitliche Zusammenschluß in der juristischen ›Konstruktion‹ folgt. Das System, d.h. die erschöpfend gegliederte Einheit des Rechts, leitet zunächst aus dem Rechtsgedanken die »reinen« Einteilungen des Rechts ab, behandelt sodann das systematische Einteilen bestimmter Rechtsordnungen und weist schließlich auf die Unbegrenztheit des Rechtsgedankens hin. Damit ist der Übergang zur Rechtsidee gegeben, d. i. dem »Gedanken eines unbedingt gültigen Verfahrens, den Inhalt aller jemals möglichen Zwecke und Mittel einheitlich zu richten«, wobei das rechtliche Wollen der Idee des ›freien‹ Wollens überhaupt untergeordnet wird. Von diesem obersten Gipfel der Rechtsphilosophie führen dann die letzten Abschnitte des umfassenden Werkes (850 S.) wieder zu den Anwendungen: der Technik, der Praxis und der Geschichte des Rechts zurück, von denen der letzte mit einem Ausblick auf den Endzweck des ganzen menschlichen Getriebes schließt.


4. Weitere Neukantianer. – Die Marburger Schule.

1. Franz Staudinger (geb. 1849, Gymnasialprofessor a. D. in Darmstadt) ist, neben K. Vorländer (s. u.), derjenige unter den Neukantianern, der die Möglichkeit einer Vereinigung von Marxismus und Kritizismus am schärfsten zum Ausdruck bringt. Er sucht die intellektuellen, ethischen, religiösen und sozialen Fragen methodisch einheitlich, nach ihrer Funktion wie nach ihrer Entstehung, zu verbinden. Seinem methodischen Standpunkte nach steht Staudinger seiner eigenen Angabe zufolge Cohen,[438] Natorp, Stammler und Vorländer am nächsten; doch hält er Kants Lehre, daß Raum, Zeit und Kategorien im Bewußtsein begründet seien, für eine ontologische Behauptung. Die »Einheit des Bewußtseins« ist ihm nur die methodische Form, in der Einheit der Wissenschaft zustande kommt; diese weist aber auf eine Welteinheit, die nicht als Einheit des Bewußtseins zu fassen ist. Hauptschriften außer den Noumena (oben S. 188): Das Sittengesetz, Untersuchungen über die Grundlagen der Freiheit und Sittlichkeit (Berlin 1887), Ethik und Politik (1899); Die wirtschaftlichen Grundlagen der Moral (1906). Neuerdings hat er seine sozialphilosophischen Anschauungen zusammengefaßt in Kulturgrundlagen der Politik (Jena 1914), die alles Gemeinschaftsleben auf vier sich beständig kreuzende und verflechtende Willensformen: Kampf, Beherrschung, Tausch und Gemeinschaftlichkeit, zurückführen.

Karl Vorländer (geb. 1860, Gymnnasialprofessor in Solingen, Sohn des S. 328 genannten Philosophen Franz Vorländer) hat sich hauptsächlich mit der Anwendung der kritischen Methode auf das Gebiet der praktischen Philosophie beschäftigt. Insbesondere sucht er zu zeigen, wie sehr gerade diese Methode zu einer philosophischen Vertiefung der Sozialwissenschaft geeignet und mit der entwicklungsgeschichtlichen des Marxismus vereinbar ist (Kant und Marx, Tüb. 1911). Seine Arbeiten über die Methode der Kantischen Ethik s. S. 224, seine Ausgaben Kantischer Werke und seine Kantbiographie S. 173, 177 f. Seine Untersuchungen über das Verhältnis von Schiller und Goethe zur Philosophie überhaupt, besonders der Kantischen, wurden später zusammengefaßt in dem Buche Kant-Schiller-Goethe (Leipzig 1907).

2. Den in erster Linie von H. Cohen beeinflußten Neukantianern ist ferner August Stadler (1850-1910, in Zürich) zuzuzählen, dessen zu § 33 zitierte Kantschriften über den Wert bloßer Interpretationsschriften weit hinausgehen und die Tragweite der Kantischen Methode der Erkenntniskritik für die moderne Wissenschaft nach den verschiedensten Richtungen hin in eigenen Ausführungen darlegen. Nach seinem Tode sind von J. Platter aus seinem Nachlaß seine am Züricher Polytechnikum gehaltenen Vorlesungen über Philosophische Pädagogik, Logik, Kant, Einleitung in die Psychologie und Grundbegriffe der Erkenntnis (Lpz. 1911-14) veröffentlicht worden.[439]

Nahe stand den Neukantianern weiter Kurd Lasswitz in Gotha (1848-1910), Verfasser der Geschichte der Atomistik (Bd. I, S. 8) der in seiner Essaisammlung: Wirklichkeiten (1900, 3. Aufl. 1908) Kants kritischen Idealismus, wenngleich mit persönlicher Färbung, vertritt. Die Philosophie hat die obersten Bedingungen unseres Denkens, Wollens und Fühlens aufzusuchen, die ihnen entsprechenden Kulturgebiete der Wissenschaft, Ethik, Kunst und Religion sind zunächst reinlich zu scheiden, um sich erst später zur Einheit des Kulturbewußtseins zusammenzuschließen. Kultur ist Selbstbestimmung des Menschen durch Vernunft, Vernunft die Grundgesetzlichkeit des Bewußtseins überhaupt. Ein zweites Buch: Seelen und Ziele (1908) dehnt die Erörterung auf die Fragen nach Raum und Zeit, Beseeltheit der Natur und besonders auf biologische Probleme aus. Daneben zeigt Lasswitz sich auch von Fechner beeinflußt, mit dem er sich mehrfach beschäftigt hat (vgl. S. 403 f.).

Verwandt dem Neukantianismus dieser Richtung ist auch A. Liebert Das Problem der Geltung (1914), Wie ist kritische Philosophie überhaupt möglich ? (1919).

3. In den letzten beiden Jahrzehnten zogen H. Cohen und P. Natorp in ihrem gemeinsamen Wirkungsort Marburg einen engeren Kreis von Anhängern, die sogenannte ›Marburger Schule‹, heran, welche Zielrichtung und Methode der philosophischen Arbeit gemein hat und besonders stark den Zusammenhang der Philosophie mit der Mathematik und mathematischen Physik betont. Ihre methodische Weiterbildung Kants und ihren Charakter überhaupt schildert Natorp in seinem Hallenser Vortrag Kant und die Marburger Schule (Berlin 1912). Seit 1906 besitzt sie ein eigenes Organ in den Philosophischen Arbeiten, herausgegeben von H. Cohen und P. Natorp. Zu Cohens 70. Geburtstag (4. Juli 1912) haben 20 seiner Anhänger eine Festschrift: Philosophische Abhandlungen herausgegeben, die sich auf fast alle Gebiete der Philosophie erstreckt. Systematisch schürfen am tiefsten: Ernst Cassirer (geb. 1874, in Berlin), dessen bedeutende Werke über das Erkenntnisproblem und den Substanz- und Funktionsbegriff wir an anderer Stelle erwähnt haben; Form und Freiheit (Berl. 1914). Ferner Albert Görland (geb. 1869, in, Hamburg) mit seinen Werken über Aristoteles (s. I, 123) und Leibniz (II, 95), und besonders seiner Ethik als Kritik der Weltgeschichte (Lpz. 1914), die, nach vorausgeschicktem Entwurf einer Logik, die Ethik zum ersten Mal aus den[440] drei ›Gemeinschaftswissenschaften‹ der Politik, Volkswissenschaft und Erziehungswissenschaft ableitet. Weiter zählen dazu N. Hartmann in Marburg, vgl. sein Plato-Werk I, 94, W. Kinkel (geb. 1871, Prof. in Gießen), Artur Buchenau, der Descartes herausgegeben, an der Leibniz-Ausgabe der Philos. Bibl. sowie der Kantausgabe Cassirers beteiligt ist und über Malebranche geschrieben hat, O. Buek (Herausgeber von Kants naturphilos. Schriften in der Philos. Bibl.). G. Falter, D. Gawronski, H. Heimsoeth, B. Kellermann, Joh. Paulsen u. a.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 425-441.
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