§ 78. Die philosophischen Einzelwissenschaften in der Gegenwart.

  • [492] Literatur: Außer den betr. Paragraphen von Ueberweg IV vgl. besonders: Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts, Festschrift für Kuno Fischer, unter Mitwirkung von Groos, Rickert, Wundt, Lipps u. a. herausgegeben von W. Windelband, 2. Aufl. 1907 (fast nur auf Deutschland bezüglich). Einzelne interessante Beiträge bringt auch der Sammelband ›Systematische Philosophie‹ in Teubners ›Kultur der Gegenwart‹.

Die anti-metaphysische Stimmung, welche der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Gepräge gab und sie zum Kritizismus, Positivismus und Empirismus hintrieb, hatte noch eine weitere charakteristische Zeiterscheinung im Gefolge. Sie hat in Verbindung mit der, wie auf dem wirtschaftlichen Gebiete, so auch in allen Wissenschaften[492] immer mehr zunehmenden Arbeitsteilung, das Studium der philosophischen Einzelfächer in vorher ungeahnter Weise befördert und entwickelt. So sehen wir denn eigentlich erst in der Philosophie der Gegenwart neben den an Bedeutung und Zahl abnehmenden philosophischen Systematikern eine stets wachsende Anzahl tüchtiger Spezialforscher erstehen: Psychologen, Logiker, Ethiker, Ästhetiker, Soziologen, Natur-, Religions- und Sprachphilosophen.

1. Am frühesten und am deutlichsten trat diese Erscheinung, wie wir an den Beispielen Fechners (§ 69) und besonders Wundts (§ 70) sahen, auf dem Felde der Psychologie hervor. Im Gegensatz zu der kritischen Auffassung, die besonders Natorp in seiner Allgemeinen Psychologie (s. S. 433 f.) vertritt, ist eine Art Psychologismus entstanden, indem die Psychologie von einer ganzen Reihe von Denkern für die philosophische Haupt- und Grundwissenschaft erklärt wird. Außer den schon an anderer Stelle von uns behandelten Herbartianern, der Wundtschen Schule und Dilthey, gehört hierher namentlich die österreichische oder Brentanosche Schule: Franz Brentano (1838-1917, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 1874), der, ursprünglich vom Aristotelismus ausgehend, als die drei seelischen Grundfunktionen das Vorstellen, Urteilen und Fühlen (= Wollen) betrachtet und auf ihnen die drei Disziplinen der Ästhetik, Logik und Ethik aufbaut; sowie die von ihm beeinflußten, wenn auch später selbständig vorgegangenen Universitätslehrer Meinong (geb. 1853, in Graz, Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, 1894) der jedoch in seinen neuesten Schriften mehr Erkenntniskritiker (s. S. 495) geworden ist, von Ehrenfels (geb. 1859, in Prag, System der Werttheorie, 2 Bände, 1897 f.), Kreibig (geb. 1863, Wien), der ebenfalls eine Psychologische Grundlegung eines Systems der Werttheorie (1902) geschrieben hat, A. Marty (geb. 1847, in Prag) und A. Höfler (geb. 1853, in Wien, Psychologie, 1897). Nachösterreich gehören ferner F. Jodl (S. 487), dessen Lehrbuch der Psychologie 1908 in 3. Auflage erschien, W. Jerusalem (geb. 1854, Lehrbuch der Psychologie, 6. Aufl. 1918) und Meinongs Schüler St. Witasek (1870-1915, Grundlinien der Psychologie, Leipzig 1908). Von Reichsdeutschen erwähnen wir, außer den schon früher genannten Ebbinghaus (1850-1909, Grundzüge der Psychologie, 1897, 3. Aufl. von E. Dürr 1911, vgl. desselben kurzen Abriß der Psychologie, 6. Aufl. 1919), Rehmke, Külpe, Münsterberg, Ziehen, weiter: Horwicz (Psychologische Analysen[493] auf physiologischer Grundlage, 1872-78), Karl Stumpf (geb. 1848, in Berlin, Tonpsychologie, 2 Bände, 1883-90), H. Cornelius (geb. 1863, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, 1897, vgl. S. 486), Kraepelin (Psychiater in München, Herausgeber der Psychologischen Arbeiten, Leipzig 1896 ff., 5 Bde.), W. Stern (Differentielle Psychologie, 2. Aufl. 1911), Th. Elsenhans (1862-1918, Lehrbuch der Psychologie, 1912) und Th. Lipps (Leitfaden der Psychologie, 3. Aufl. 1909; Raumästhetik 1893-96; Vom Fühlen, Wollen, Denken, 2. Aufl. 1907), der als Ethiker schon S. 444 genannt worden ist und Logik, Ethik und Ästhetik als ihrer Wurzel nach psychologische Disziplinen betrachtet, da alle wissenschaftliche Philosophie zunächst auf die unmittelbar psychologische Erfahrung (Betrachtung und Analyse der Bewußtseinszustände) gegründet sei. Seinem Lehrer G. Uphues folgend, vertritt eine Art kritischen Realismus Hermann Schwarz (geb. 1867, in Greifswald). Die geschichtliche Entwicklung der Psychologie haben namentlich Siebeck (vgl. I, 8) und Dessoir (geb. 1867, in Berlin) dargestellt. Internationale Kongresse für Psychologie fanden 1889 in Paris, 1892 in London, 1896 in München, 1900 in Paris, 1905 in Rom statt; ein solcher für experimentelle Psychologie zuletzt in Berlin 1912. Eine ganze Reihe von Zeitschriften widmet sich heute den verschiedenen Zweigen der psychologischen Wissenschaft (vgl. S. 418).

2. Mehr und mehr zieht neuerdings auch die Logik, die – außerhalb der Neuscholastik – in der Regel mit Erkenntniskritik und Methodologie der Wissenschaften verbunden wird, die modernen Denker wieder an. Als Hauptvertreter derselben nennen wir, außer den schon behandelten v. Hartmann, Wundt, Schuppe, der Marburger (S. 440 f.) und der Badener Schule (S. 444), Sigwart (1830 bis 1904, Logik, 2 Bde., 1873-78, 4. Aufl. hsg. von Maier 1911), Benno Erdmann (geb. 1851, in Berlin, Logik, 1. Bd.: Logische Elementarlehre, 1892, 2. Aufl. 1907); Th. Lipps (Grundzüge der Logik, 1893) und Edmund Husserl (geb. 1859, in Göttingen, seit 1916 in Freiburg), der in seinen Logischen Untersuchungen (I. Teil: Prolegomena zur reinen Logik, II. Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 1900 f., 2. erweiterte Auflage: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1913) eine streng apriorische Begründung der Logik fordert, daneben aber auch die Wichtigkeit der Erscheinungen betont und 1913 mit M. Geiger, A. Pfänder u. a.[494] ein Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung begründet hat. Husserls »Phänomenologie« fordert eine »Reduktion« der individuell erfahrenen Einzeltatsachen zum notwendig-allgemeinen »Wesen« und der in die Weltkonstruktion eingefügten »Realen« zum reinen Bewußtsein. Die Wesenserkenntnis vollzieht sich durch unmittelbare Intuition und durch Deduktion; der fortlaufende Denkprozeß tritt dabei zurück. Die reinen Phänomene sind gegeben nach Ausschaltung der psychisch-physischen Natur und werden durch Akte der Reflexion aus dem unendlichen Felde absoluter Ergebnisse gewonnen. H. Maier (geb. 1867, in Göttingen, Psychologie des emotionalen Denkens, Tüb. 1907) stellt dem urteilenden Denken als zweite Grundform das aus dem Gefühl- und Willensleben hervorgehende »emotionale« zur Seite, das in der ästhetischen Phantasie und Betrachtung, im religiösen Glauben, in Sitte und Recht zum Ausdruck kommt. Vgl. ferner J. Cohn (geb. 1869, in Freiburg, Voraussetzungen und Ziele des Erkennens, 1908), Meinong (Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften, 1907, 2. Aufl. 1908, Über Annahmen, 2. Aufl. 1911, Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, Lpz. 1915), Ernst Cassirer (vgl. S. 440, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910), Störring (Logik, 1915).

Husserl hat auch eine Philosophie der Arithmetik (1891) geschrieben, während im übrigen die Philosophie der Mathematik namentlich von Gauß, Riemann (1826-1866, in Göttingen), Zöllner, Helmholtz, B. Erdmann (Die Axiome der Geometrie, 1877), Cantor, Dedekind, Brunschwig(1831-1916), Kronecker, O. Schmitz-Dumont (Mathematische Elemente der Erkenntnistheorie, 1878, Naturphilosophie als exakte Wissenschaft, 1895), H. Grassmann (Ges. mathem. WW., Bd. I, 1894-96) und neuerdings von G. Frege (Grundgesetze der Arithmetik, 2 Bde., 1893-1901), O. Stolz und J. Gmeiner (Theoretische Arithmetik, 1902), Hilbert (Grundlagen der Geometrie, 3. Aufl. 1908) und E. Schröder (Algebra der Logik, 3 Bde., 1890-1909) behandelt worden ist. Neben den Neukantianern Cohen, Natorp (s. dessen Logik der exakten Wissenschaften, 1910) und Cassirer (s. oben), welche die theoretische Philosophie in engste Beziehung zur Mathematik und mathematischen Physik gesetzt wissen wollen, beginnen auch die Mathematiker selbst neuerdings immer mehr auf eine apriorische, den bloßen Empirismus bekämpfende Begründung[495] der Mathematik hinzusteuern: so namentlich der Engländer B. Russel (The Principles of Mathematics, Bd. I, 1903), die Franzosen L. Couturat (1868-1914, Les Principes des Mathématiques, Paris 1905, deutsch von Siegel, Leipzig 1908) und Poincaré (1857-1912, Wissenschaft und Hypothese, deutsch 1904, 2. Aufl. 1906, Der Wert der Wissenschaft, deutsch 1906, Die neue Mechanik, 1911, Letzte Gedanken, deutsch Lpz. 1913). Insbesondere der der Wissenschaft zu früh entrissene Poincaré hat gezeigt, daß die Wissenschaft niemals die Dinge selbst, wie der naive Dogmatismus meint, sondern stets bloß die Beziehungen zwischen den Dingen erkennt; außerhalb dieser Beziehungen gibt es keine erkennbare Wirklichkeit. Letzte unerklärbare, aber für den Bestand der Wissenschaft notwendige Annahmen sind die Sätze des Widerspruchs und der Identität für die Verstandesbegriffe, das Prinzip der vollständigen Induktion für die Begriffe der Sinnlichkeit. Die geometrischen Axiome wie die physikalischen Hypothesen sind konventionelle Festsetzungen, die für die Erklärung der Erscheinungen »bequem« sind; der Forscher selbst schafft die Tatsachen, indem er die Natur in den Rahmen seiner Begriffe spannt.

3. Seltener wurde bis zu Anfang des neuen Jahrhunderts die Ästhetik in größeren Einzelwerken behandelt. So von: E. von Hartmann (Ästhetik, 2 Bde., 1886-87), Groos (geb. 1861, in Gießen), Einleitung in die Ästhetik, 1892, Die Spiele des Menschen, 1899; Die Spiele der Tiere, 2. Aufl. 1907), Volkelt (Ästhetische Zeitfragen, 1894, Ästhetik des Tragischen, 1897, 2. Aufl. 1906), H. von Stein (Vorlesungen über Ästhetik, 1897), K. Überhorst (in Innsbruck, Das Komische, 1896-99). Seitdem ist jedoch auch auf diesem Gebiete ein Umschwung eingetreten. Wir besitzen heute eine ganze Reihe allgemein-ästhetischer Werke, von: Konrad Lange (Tübingen, Das Wesen der Kunst, 2. Aufl. 1907), J. Cohn (Freiburg i. Br., Allgemeine Ästhetik, 1901), Witasek (Grundzüge der allgemeinen Ästhetik, Leipzig 1904), B. Croce, Ästhetik als Wissenschaft des Ausdrucks usw. (aus dem Italienischen übersetzt 1905), Lipps (Ästhetik, 2 Bde., 1903-06), wiederum Volkelt (System der Ästhetik, 3 Bde., 1905-1912), Christiansen (Philosophie der Kunst, 1909), Dessoir (Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1906) und H. Cohen, Die Ästhetik des reinen Gefühls, 1912 (vgl. § 72, 1, III). Seit 1906 besteht eine besondere Zeitschrift, 1913 fand ein Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft statt.[496]

4. Besonders zahlreiche Bearbeiter haben in den letzten Jahrzehnten die Ethik und die damit verwandten Gebiete (s. unten 5) gefunden. Die meisten derselben sind jedoch von uns schon an früherer Stelle erwähnt, so Cohen, Gizycki, Görland, Jodl, Lipps, Natorp, Paulsen, Schuppe, Staudinger, Weltmann, Wundt und Ziegler. Außerdem, seien von neueren Versuchen, deren Grundtendenz meist schon aus ihrem Titel hervorgeht, hervorgehoben: A. Döring (1834-1912, Philosophische Güterlehre, 1888), Georg Simmel (1858-1918, Einleitung in die Moralwissenschaft, 2 Bände, 1892 f., 3. Aufl. 1910), W. Stern (1844-1918, Kritische Grundlegung der Ethik als positiver Wissenschaft, 1897), M. Wentscher (Ethik, 2 Bde., 1902-05). Auch die moralpsychologischen Untersuchungen von Th. Elsenhans (Wesen und Entstehung des Gewissens, 1894) und P. Rée (Entstehung des Gewissens, 1885) sowie die Werttheorien von Meinong und v. Ehrenfels (S. 494) gehören hierher. Mehr anthropologischer Natur ist des Finnen Westermarck Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe, 2 Bde., 1907-09.

5. Um die Förderung der Sozialphilosophie (So ziologie) haben sich, abgesehen von den schon in § 74 behandelten Sozialisten, von Ferd. Tönnies (§ 77) und den Neukantianern Natorp, Stammler, Staudinger, Vorländer (§ 72), verdient gemacht; die der organisch-biologischen Richtung Spencers nahestehenden P. von Lilienfeld (Deutschrusse, 1829-1903, Gedanken über die Sozialwissenschaft der Zukunft, 5 Bände, 1873-81) und A. Schäffle (1830-1908, Bau und Leben des sozialen Körpers, 4 Bde. 1875-78, 2. Aufl. 2 Bde. 1896), der den Rassenkampf zur Leitidee machende Ludwig Gumplowicz (in Graz, 1838 bis 1909, Grundriß der Soziologie, 2. Aufl. 1905) und der ihnen verwandte, auch als Naturphilosoph zu erwähnende Österreicher G. Ratzenhofer (1842-1904, Die soziologische Erkenntnis, 1898), wozu als älterer Versuch noch E. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik (1877) kommt. Dem Positivismus steht weiter nahe F. C. Müller-Lyer (München, † 1916), der, von der Naturwissenschaft herkommend, ein eigenartiges soziales System unter dem Titel Phasen der Kultur und Richtungslinien des Fortschritts (1908 ff.) unvollendet hinterließ. Seine philosophische Weltanschauung (Der Sinn des Lebens, 1910) nannte er »Euphorismus«, eine Philosophie, welche »die vollkommene Persönlichkeit als obersten Zweck und den vollkommenen Staat als letztes Ziel betrachtet und diese[497] beiden höchsten Werte durch Kulturbe herrschung zu verwirklichen strebt«. Ferner der soeben als Ethiker genannte G. Simmel (Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 3. Aufl. 1907, Philosophie des Geldes, 2. Aufl. 1908, Soziologie, 1908), sowie der sozialistisch gestimmte R. Goldscheid (geb. 1870, in Wien, Zur Ethik des Gesamtwillens, 1902, Grundlinien zu einer Kritik der Willenskraft, 1906, Entwicklungswerttheorie, Entwicklungsökonomie, Menschenökonomie, 1908, Höherentwicklung und Menschenökonomie, Bd. I, 1911), der auch eine »Gesellschaft für Soziologie« gründete; vgl. auch L. Stein, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie, 2. Aufl. 1903 (mehr literarhistorisch). A. Eleutheropulos (in Zürich, geb. 1870, Soziologie, 2. Aufl. 1908, vgl. auch Philosophie, 1911) gab seit 1909 eine Zeitlang eine Monatsschrift für Soziologie heraus. Werner Sombart will in seinem Werke Der moderne Kapitalismus, von dem jedoch erst die beiden ersten wirtschaftsgeschichtlichen Bände (1902, 2. Aufl. 1917) erschienen sind, »das kapitalistische Wirtschaftssystem von seinen Anfängen bis zur Gegenwart verfolgen, seine eigenen Bewegungsgesetze aufdecken und die Gesetzmäßigkeit seines Übergangs in eine zukünftige Wirtschaftsepoche (eine sozialistisch-genossenschaftliche) darstellen, unter kausalem Gesichtspunkt«. Auf »der Grundlage der durch diese historisch-theoretischen Betrachtungen gewonnenen Einsicht« soll sich dann später »ein wissenschaftliches System praktischen Handelns, also ein System der Sozialpolitik« aufbauen, »unter teleologischem Gesichtspunkt«; endlich »die Krönung des Gebäudes ein System der Sozialphilosophie bilden, unter kritischem Gesichtspunkt«.

Nahe verwandt mit der Soziologie ist die Geschichtsphilosophie, die von Paul Barth (geb. 1858, in Leipzig) sogar mit ihr gleichgesetzt wird. Der bisher allein erschienene 1. Band seiner Philosophie der Geschichte als Soziologie (1897, 2. stark erweiterte Auflage 1915) gibt eine gut orientierende »kritische Übersicht« seiner sozial- und geschichtsphilosophischen Vorgänger. Von Historikern haben sich neuerdings mit geschichtsphilosophischen Problemen beschäftigt K. Lamprecht (1856-1915, Alte und neue Richtungen der Geschichtswissenschaft, 1896, Moderne Geschichtswissenschaft, 1904), der in Leipzig auch ein Institut für Kultur- und Universalgeschichte ins Leben rief, und E. Bernheim (Lehrbuch der historischen Methode, 5. u. 6. Aufl. 1908), beide im Gegensatz zu der alten »individualistischen« eine mehr oder weniger »kollektivistische«[498] Anschauung vertretend; ferner Th. Lindner (in Halle, Geschichtsphilosophie, Einleitung zu einer Weltgeschichte seit der Völkerwanderung, 3. Aufl. 1912) und von Jüngeren Mehlis (Geschichtsphilosophie, 1915). Außer dem natürlich auch hierher gehörigen historischen Materialismus (§ 74), vgl. noch Eucken, Simmel (S. 498) und Dilthey, der freilich die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Geschichtsphilosophie bestreitet, ferner die völkerpsychologischen Untersuchungen von Wundt, Lazarus und Steinthal, desgleichen die schon S. 444 erwähnten methodologischen Schriften von Windelband und Rickert sowie verschiedene Abhandlungen des ihnen philosophisch verwandten Heidelberger Nationalökonomen Max Weber.

Als Hauptvertreter der der Ethik und Sozialphilosophie gleich nahe stehenden Rechtsphilosophie nennen wir außer H. Cohen. (S. 427), W. Schuppe (S. 480 f.) vor allem den schon S. 435 ff. besprochenen Rudolf Stammler (Berlin), den hegelianisierenden Philosophen A. Lasson (1832-1917, in Berlin, System der Rechtsphilosophie, 1882), die Juristen R. von Jhering (1818-92, Geist des römischen Rechts, 4 Bde. 1852-65, 6. Aufl. 1894 bis 1907, Der Zweck im Recht, 2 Bde. 1877 ff., 4. Aufl. 1904), Bergbohm (in Bonn, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892), Bierling (Juristische Prinzipienlehre, 4 Bde. 1894 bis 1911), J. Kohler (1849-1919, Berlin, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1909) und Berolzheimer (System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 5 Bde. 1904-07). Berolzheimer und Kohler haben 1907 ein Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, sowie 1909 eine ›Internationale Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie‹ begründet, während R. Stammler im Verein mit mehreren anderen seit Juli 1913 eine Zeitschrift für Rechtsphilosophie herausgibt.

6. Auch eine metaphysisch gerichtete Naturphilosophie ist neuerdings wieder aufgetreten. Nachdem Helmholtz es für das Endziel der Naturwissenschaft erklärt hatte, alle elementaren Naturkräfte in Bewegungskräfte, »also sich selbst in Mechanik aufzulösen«, und Du Bois-Reymond (1818-96) in Übereinstimmung damit in seinen beiden Vorträgen Über die Grenzen des Naturerkennens (1872) und Die sieben Welträtsel (1882) Naturerkennen als »Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen« definiert, gegenüber gewissen letzten Problemen aber wie dem Wesen von Materie und Kraft, dem Ursprung der Bewegung, der Entstehung[499] der Sinnesempfindungen sein skeptisches: »Ignorabimus!« ausgesprochen hatte, schien eine Zeitlang der alte Vitalismus endgültig überwunden zu sein. Aber seitdem sind Monismus und Zellentheorie durch Bakteriologie und Elektronenlehre überholt worden, man beginnt der mechanischen Weltanschauung auch in den Kreisen der Naturforscher allmählich untreu zu werden.

So hat zunächst nach dem Vorgang von Bunge (geb. 1844, in Basel, Vitalismus und Mechanismus, 1886, Lehrbuch der Physiologie des Menschen, 2. Aufl. 1905) ein Neu-Vitalismus wieder sein Haupt erhoben, der zur Erklärung der organischen Natur eine besondere »Lebenskraft« für notwendig hält und überhaupt »von dem Bekannten, von der Innenwelt ausgehen« will, um »das Unbekannte, die Außenwelt« zu erklären. Neuerdings hat sich als Wortführer dieser Richtung namentlich Hans Driesch (Heidelberg, geb. 1867, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, 1905) bekannt gemacht, der mit seiner Annahme einer selbständig wirkenden »Entelechie« nicht bloß dem Namen, sondern auch der Sache nach an Aristoteles erinnert (Naturbegriffe und Natururteile, 1904, Philosophie des Organischen, 2 Bde., 1909) und in seiner logisch gerichteten Ordnungslehre, 1912, ein »System des nicht-metaphysischen Teiles der Philosophie« entworfen hat. Weiter steht P. N. Cossmann (München, Elemente der empirischen Teleologie, Stuttgart 1898) dem Vitalismus nahe. Noch teleologischer als er, nimmt Reinke (geb. 1849, Professor der Botanik in Kiel, Die Welt als Tat, 1899, 5. Aufl. 1908, Theoretische Biologie, 1911) für die organische Natur neben dem – für die anorganische Natur unbeschränkt geltenden – Kausalgesetze noch zweck- und zielbewußte Energielenker (»Dominanten«) an, deren letzter Grund eine schöpferische Intelligenz, d.h. Gott, ist. Gegenüber dem von Haeckel († Aug. 1919) und seinen Anhängern mit Begeisterung vertretenen »Monismus«, hat sich 1907 unter der Förderung von Reinke u. a. ein »Kepler-Bund« gebildet, der die Vereinbarkeit von Naturwissenschaft und Christentum auf seine Fahne geschrieben hat. Jüngere und moderner denkende Vitalisten scharen sich um die von R. H. Francé, dem bekannten Verfasser des Leben der Pflanze (1905-08), geleitete Zeitschrift für den Ausbau der Entwicklungslehre und huldigt einem, namentlich von Adolf Wagner (Innsbruck, Der neue Kurs in der Biologie, 1907, Geschichte des Lamarckismus, 1909) verfochtenen »Neu-Lamarckismus« oder Psycho-Vitalismus, dessen[500] philosophische Gewährsmänner jedoch die im letzten Grunde ja gleichfalls schon ›vitalistischen‹ Schopenhauer, Fechner und E. von Hartmann sind. Seit 1919 erscheint eine neue Zeitschrift: Abhandlungen zur theoretischen Biologie, hrsg. von J. Schaxel (Jena).

Wieder anderer Art ist die Energetik, wie sie W. Ostwald (geb. 1853, bis 1906 Professor der physikalischen Chemie in Leipzig, seitdem in seinem Landhaus Energie lebend) in der von ihm begründeten und seit 1913 von R. Goldscheid (S. 498) mitgeleiteten Zeitschrift Annalen der Naturphilosophie vertritt. Er glaubt »die alten Schwierigkeiten, welche der Vereinigung der Begriffe Materie und Geist sich entgegenstellen, durch die Unterordnung beider unter den Begriff der Energie aufheben« zu können. Energie bedeutet: »Arbeit und alles, was aus Arbeit entsteht und in sie verwandelt werden kann.« Sie tritt in verschiedenen Gestalten, als mechanische, Wärme-, elektrische, chemische, strahlende und magnetische Energie auf. Ihnen entspricht auf dem Gebiet des Bewußtseins die Nervenenergie, die z.B. in der »Aufmerksamkeit« gesammelt, in der »Erschöpfung« zerstreut erscheint, und die Willensenergie, deren Betätigung die Grundlage unseres Glückes bildet. »Vergeude keine Energie, sondern verwerte sie«, lautet der energetische Imperativ. Sie entsteht aus anderen Formen, z.B. aus der chemischen, durch Umformung und geht nach dem Ablauf des psychischen Prozesses auch wieder in andere Formen über. Bei allen diesen Umwandlungen erhält sich die Gesamtmenge der Energie in der Welt unverändert (wie das Gesetz der Erhaltung der Kraft von R. Mayer). Vgl. auch den von Ostwald verfaßten Abschnitt Naturphilosophie in Teubners Kultur der Gegenwart, den populären Grundriß der Naturphilosophie (bei Reclam, 1908), sowie sein Buch Vom energetischen Imperativ (1912). An Stelle der nach seiner eigenen Erklärung jetzt veralteten Vorlesungen über Naturphilosophie (1902) soll jetzt ein neues Werk Moderne Naturphilosophie treten, von dem je doch bisher erst ein erster Die Ordnungswissenschaften, d.h. Logik und Mathematik, behandelnder Teil (1914) erschienen ist.

Natürlich stehen dem Vitalismus in seinen verschiedenen Arten unter den exakten Forschern zahlreiche Verteidiger des ›Mechanismus‹ gegenüber. Wir nennen nur den Anatomen Wilhelm Roux (geb. 1865, in Halle) mit seiner Entwicklungsmechanik, 1905, für die auch ein besonderes Archiv (40 Bände) existiert. Roux nimmt eine durch mechanische[501] Faktoren, wie Kampf und Anpassung der einzelnen Elemente, bedingte Entwicklung des Organismus an. Vgl. auch Die Selbstregulation, Lpz. 1914 und Terminologie der Entwicklungsmechanik, ferner Über kausale und konditionale Weltanschauung, Lpz. 1913. Uns scheint die philosophische Lösung jener »Schwierigkeiten« in einem allen Dualismus von Psychischem und Physischem endgültig verbannenden erkenntniskritischen Monismus zu liegen, dem von den Naturforschern trotz seines Empirismus E. Mach (S. 484 f.) nahe steht. Verwandt damit sind der »Psychomonismus« Verworns und der ähnliche Standpunkt Ziehens (oben S. 481), sowie der von H. Kleinpeter († 1916) und H. Cornelius (S. 484). Auch Th. Lipps in seinem zu Anfang dieses Paragraphen erwähnten Beitrag faßt die Naturphilosophie als die zur Selbsterkenntnis gekommene Naturwissenschaft auf. Für die Physik bedeutsam ist A. Einsteins Formale Grundlage der allgem. Relativitätstheorie, Lpz. 1914.

7. Als Religionsphilosophen haben wir die vom Neukantianismus berührten Theologen Herrmann, Kaftan, Ritschl, Lipsius sowie die Philosophen Cohen, Eucken, Natorp, Seydel, W. Wundt und Th. Ziegler bereits früher namhaft gemacht. Hier seien noch hinzugefügt: die Theologen O. Pfleiderer (1839-1908, Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage, 1878, 3. Aufl. 1894), A. Harnack (Das Wesen des Christentums 1900) und neuerdings E. Troeltsch (geb. 1865, Berlin), die Philosophen Baumann (S. 409, Die Grundfrage der Religion, 1895), W. Bender (1845-1901, in Bonn, früher protestantischer Theologe, Das Wesen der Religion, 4. Aufl. 1888), Ed. von Hartmann (Religionsphilosophie, 1888), Siebeck (Lehrbuch der Religionsphilosophie, 1893) und Raoul Richter (Religionsphilosophie, 1912). Seit 1914 erscheint in Tübingen ein besonderes Archiv für Religionspsychologie. Den deutsch-englischen Sprach- und Religionsphilosophen F. Max Müller s. unter England (unten S. 506).

8. Mit Sprachphilosophie endlich haben sich unter den Neueren, außer dem soeben erwähnten F. M. Müller und dem S. 342 genannten Steinthal (Abriß der Sprachwissenschaft, 1871, 2. Aufl. 1881, Ursprung der Sprache, 4. Aufl. 1888), eingehend beschäftigt: H. Paul (Prinzipien der Sprachgeschichte, 1880, 4. Aufl. 1909), F. Mauthner (Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3 Bde., 1901/02, 2. Aufl. 1906-12, Philos. Wörterbuch, 2 Bde. 1910 f.), der eine Art von[502] »linguistischem Skeptizismus« vertritt, indem ihm die »objektive Wahrheit« mit dem »gemeinsamen Sprachgebrauch« zusammenfällt, endlich W. Wundt in Bd. I und II seiner Völkerpsychologie: Die Sprache, 3. Aufl. 1911 f.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 492-503.
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