§ 11. Ältere Sophisten: Protagoras, Gorgias.

1. Der Relativismus des Protagoras.

  • [64] Literatur: Laas, Idealismus und Positivismus, Bd. I, 1879. Natorp, Forschungen usw. S. 1-62, 147 ff. Die Schriften und Abhandlungen von Halbfaß, Münz, Sattig u. a. siehe bei Ueberweg-Praechter, Anhang S. 38.

Der ernsteste und bedeutendste der Sophisten steht auch zeitlich an ihrer Spitze. Es ist Demokrits Landsmann Protagoras, um 480 zu Abdera geboren. Um seine Lehren in weiteren Kreisen zu verbreiten, führte er von seinem 30. Jahre ab ein Wanderleben, das ihn besonders oft und auf längere Zeit nach Athen führte. Dort fand er in den gebildeten Kreisen viele begeisterte Anhänger und wurde u. a. von Perikles und Euripides hoch geschätzt. »Wir bewunderten ihn wie einen Gott wegen seiner Weisheit,« läßt Plato (Theätet 161 C) seinen Sokrates von ihm sagen. 411 unter der Herrschaft der 400 (nach anderen schon 415) wegen Gottlosigkeit angeklagt und verurteilt, ertrank er, wie es heißt, auf der Flucht nach Sizilien; seine Schriften wurden auf dem Markte zu Athen auf Staatsbeschluß verbrannt. Sie erstreckten sich vorzugsweise auf Ethik nebst den verwandten Fächern der Rechtswissenschaft, Politik und Pädagogik, wie die zahlreich erhaltenen Schriftentitel beweisen. Von den Schriften selbst sind kaum 20 Zeilen überliefert, so daß wir auf andere Quellen mit angewiesen sind. Die wichtigste in betreff der Lehre ist Platos Theätet, dessen Zuverlässigkeit von Halbfaß (Straßburger Dissertat. 1882) bestritten, von Natorp, wohl mit Recht, verteidigt worden ist.

Der berühmte Fundamentalsatz des Protagoras lautet: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind.« Und zwar bedeutet hierbei »der Mensch« nicht etwa, wie der moderne Denker (z.B. Laas und Gomperz) anzunehmen geneigt ist, den Menschen überhaupt, sondern wenn anders wir Platos Theätet wie auch späterer Berichterstattung Glauben schenken dürfen, schlecht und recht das einzelne Individuum mit seinen wechselnden Vorstellungen[64] und Empfindungen. Jede Vorstellung besitzt relative Wahrheit, nämlich für den Wahrnehmenden unter den Bedingungen seines jedesmaligen Wahrnehmens. Es gibt keine allgemeingültigen Wahrheiten; dem Kranken z.B. erscheinen gewisse Dinge anders als dem Gesunden usw. Wie für Heraklit, so ist auch für Protagoras alles in beständigem Werden begriffen. Man kann von dem nämlichen Dinge zwei einander entgegengesetzte und dennoch gleich berechtigte Ansichten haben. Es ist vollendeter Relativismus und, insofern er sich auf die sinnliche Wahrnehmung als einzige Erkenntnisquelle stützt (eine Auslegung seiner Lehre, welcher Protagoras mindestens nicht vorgebeugt zu haben scheint), Sensualismus.

Dieser Relativismus dient aber unserem Sophisten im wesentlichen nur dazu, um die Menschen von den seines Erachtens unfruchtbaren theoretischen Spekulationen auf die praktischen Aufgaben des Lebens hinzulenken, für die er seinen »guten Rat« anbietet, um sie kluge Voraussicht, Erwägung der Folgen und damit Beherrschung der Naturkräfte wie der menschlichen, insbesondere der politischen Verhältnisse zu lehren. Hier ist er durchaus kein Umstürzler. Sitte und Recht erscheinen ihm vielmehr – vergl. den Mythus, den der platonische Dialog »Protagoras« ihm zuschreibt – als die unentbehrlichen Stützen des Staates und der Gesellschaft, wie er selbst denn auch 443 im Auftrage des Perikles Gesetze für die neugegründete athenische Kolonie Thurioi entwarf.

Bezüglich der Götter bekannte er, »nicht zu wissen, ob sie existieren oder nicht«; vieles verhindere ein sicheres Wissen über sie, die Dunkelheit der Sache und die Kürze des menschlichen Lebens. Dieser Freimütigkeit hatte er seine Verurteilung wegen »Gottlosigkeit« zu danken. Verdienstlich waren auch seine grammatischen Untersuchungen: über den rechten Wortgebrauch, die Modi und Tempora der Verba, das Geschlecht des Nomens, desgleichen die rhetorischen Übungen über allgemeine Themata, durch die er die Fähigkeiten seiner Schüler zu entwickeln und ihre geistige Kraft zu stählen strebte. Vielleicht gehört in diesen Zusammenhang der an sich bedenkliche, ihm von Aristoteles zugeschriebene Satz, die Kunst der Rede vermöge »auch die schwächere Sache zur stärkeren zu machen«.

Auf die Schränken und die Subjektivität des menschlichen[65] Denkens mit Nachdruck hingewiesen zu haben, ist das Verdienst dieses ersten Sophisten. An einem Maßstab objektiven Erkennens hat es ihm anscheinend gänzlich gefehlt. So griff er denn auch die exakteste aller Wissenschaften, die Mathematik, an, weil sein auf das Handgreifliche gerichteter Sensualismus die reinen Linien, Kurven usw. in der »Wirklichkeit« vermißte. Damit war jede allgemeingültige Erkenntnis aufgehoben. Noch weiter in dieser Anzweiflung aller Wissenschaft ging sein Nachfolger


2. Gorgias,

den 427 seine Vaterstadt, das sizilische Leontinoi, an der Spitze einer Gesandtschaft nach Athen sandte, um Hilfe gegen Syrakus zu erbitten. Hier und in vielen anderen Gegenden Griechenlands feierte seine hinreißende Beredsamkeit glänzende Triumphe. Prunkend, wie seine Rede, soll auch sein äußeres Auftreten gewesen sein. Später zog er sich nach Thessalien zurück, wo er um 380 über 100 Jahre alt starb. Die Echtheit zweier unter seinem Namen überlieferten Prunkreden – diese namentlich waren sein Genre – ist zweifelhaft.

In der Physik und Naturphilosophie schloß sich Gorgias seinem Landsmann Empedokles an (vgl. Diels, Gorgias und Emp., Abhandl. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1884). Seinen eigentlichen Beruf aber fand er im Lehren und Ausüben der Redekunst, sodaß er gegenüber dem philosophischeren Protagoras in erster Linie als Rhetor zu charakterisieren ist. Vielleicht, war es auch nur ein rhetorisches Kunststück, wenn er in seiner Hauptschrift, die den Titel »Von der Natur oder (!) dem Nicht-Seienden« trug, folgende drei berühmten Sätze zum besten gab:

1. Es existiert nichts. 2. Wenn aber auch etwas existierte, so wäre es doch für den Menschen unfaßbar. 3. Wenn es aber auch faßbar wäre, so wäre es doch unaussprechbar und unmittelbar. Die nähere Begründung dieser Sätze, wie sie sich bei dem Skeptiker Sextus Empirikus und in der (schon in § 4 erwähnten) pseudoaristotelischen, von einem Peripatetiker des 3. Jahrhunderts herrührenden Schrift De Xenophane Gorgia Melisso findet, war gegen die Eleaten gerichtet, indem, wie bei diesen, das Sein lediglich als körperliches Dasein gefaßt wurde.[66]

Wenn Protagoras jede Meinung für wahr erklärt hatte, so erklärte Gorgias jede für falsch. Ein so vollendeter Skeptizismus ist, um mit Kant zu reden, kein »heilsamer Zuchtmeister des Verstandes« mehr, sondern »gar keine ernstliche Meinung«, und macht aller Wissenschaft ein Ende. Man hat deshalb Gorgias wohl auch als wissenschaftlichen »Nihilisten« bezeichnet.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 64-67.
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