§ 13. Das System der Entwicklung.

[115] Die Logik des Aristoteles macht als ein in sich geschlossenes System sämtlichen früheren Erscheinungen der griechischen Wissenschaft gegenüber den Eindruck eines vollkommen Neuen: er beruht hauptsächlich auf der hochgradigen Fähigkeit des abstrakten Denkens, welche diese geniale Ablösung der allgemeinen Formen des Denkens von jedem nur immer möglichen Inhalte voraussetzt. Diese Virtuosität der abstrahierenden Begriffsbildung hat Aristoteles auf allen Gebieten seiner wissenschaftlichen Arbeit betätigt, und wenn der »Vater der Logik« der philosophische Lehrer für zwei Jahrtausende geworden ist, so verdankt er diesen Erfolg in erster Linie der Sicherheit, Klarheit und Konsequenz seiner Begriffsbestimmungen. Er hat die von Sokrates gestellte Aufgabe erfüllt, und er hat damit zugleich die Sprache der Wissenschaft geschaffen. Der Grundstock der wissenschaftlichen Begriffe und der Ausdrücke, die wir noch heute überall gebrauchen, geht auf seine Formulierungen zurück.

Mit dieser Neigung zur Abstraktion hängt es nun auch zusammen, daß Aristoteles das Grundproblem der griechischen Philosophie, wie hinter der wechselnden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ein einheitliches und bleibendes Sein zu denken sein, durch einen Beziehungsbegriff, denjenigen der Entwicklung gelöst hat. Noch seine beiden großen Vorgänger hatten eine besondere Inhaltsbestimmung für den Begriff des wahren Seins versucht: Demokrit hatte die Atome und ihre Bewegung, Platon die Ideen und ihre Zweckbestimmung für die Ursache der Erscheinungen, aber deshalb für etwas von diesen selbst Verschiedenes angesehen. Aristoteles aber bestimmte das Seiende als das sich in den Erscheinungen selbst entwickelnde Wesen. Er verzichtete darauf, etwas von den Erscheinungen selbst Verschiedenes (eine zweite Welt) als ihre Ursache auszudenken, und er lehrte, daß das im Begriff erkannte Sein der Dinge keine andere Wirklichkeit besitze, als die Gesamtheit der Erscheinungen, in denen es sich verwirkliche. So betrachtet, nimmt das Sein (ousia) erst vollständig den Charakter des Wesens (to ti ên einai) an, welches den alleinigen Grund seiner einzelnen Gestaltungen bildet, aber nur in diesen selbst wirklich ist: und alle Erscheinung wird zur Verwirklichung des Wesens. Dies ist der Beziehungsbegriff, durch den Aristoteles den Gegensatz der heraklitischen und der eleatischen Metaphysik überwunden hat.

1. Im besonderen aber stellt sich nun für Aristoteles die Entwicklung als das Verhältnis von Form und Stoff dar (eidos. morphê – hylê). Hatte Platon273 die Erscheinungswelt für eine Mischung des »Unbegrenzten« und der »Begrenzung« erklärt, so hält sich Aristoteles an die Beobachtung, daß in jedem Dinge der Erscheinungswelt geformter Stoff vorliegt. Nur ist ihm dieser Stoff zwar auch an sich unbestimmt, aber doch nicht der bloße gleichgültige leere[115] Raum, sondern ein körperliches Substrat (hypokeimenon): nur ist ihm diese Form nicht bloß die mathematische Grenze, sondern die inhaltlich durch das Wesen bestimmte Gestalt. Der Stoff oder die Materie ist die Möglichkeit dessen, was in dem fertigen Dinge vermöge der Form wirklich geworden ist. In der Materie also ist das Wesen (ousia) nur der Möglichkeit nach (dynamei, potentia) gegeben, erst vermöge der Form ist es in Wirklichkeit (energeia, actu). Das Geschehen aber ist derjenige Vorgang, mit welchem das Wesen aus der bloßen Möglichkeit durch die Form in die Verwirklichung übergeht. Das Wesen hat nicht neben den Erscheinungen irgend eine zweite, höhere Wirklichkeit, sondern es ist nur in der Reihenfolge seiner Erscheinungen, vermöge deren es seine eigene Möglichkeit verwirklicht. Das Allgemeine ist nur im Besonderen wirklich, das Besondere ist nur, weil in ihm sich das Allgemeine verwirklicht.

Mit dieser Umbildung der Ideenlehre löst Aristoteles das Grundproblem der theoretischen Philosophie der Griechen: das Sein so zu denken, daß aus ihm das Geschehen erklärt wird. Vom Hylozoismus der Milesier an bis zu den gegensätzlichen Theorien seiner beiden großen Vorgänger sind alle Standpunkte der griechischen Metaphysik als Momente in dieser Lehre des Aristoteles enthalten: das im Begriff erkannte Sein ist das allgemeine Wesen, das sich in seinen besonderen Erscheinungen aus der Möglichkeit her durch die Form verwirklicht, und der Vorgang dieser Verwirklichung ist die Bewegung. Das Sein ist das, was im Geschehen zustande kommt. Diese Selbstverwirklichung des Wesens in den Erscheinungen nennt Aristoteles Entelechie(entelecheia).

2. Der Schwerpunkt der aristotelischen Philosophie liegt also in diesen neuen Begriff des Geschehens als der Verwirklichung des Wesens in der Erscheinung, und ihr Gegensatz gegen die frühere Naturerklärung besteht deshalb in der begrifflichen Durchführung der Teleologie, die Platon nur als Postulat aufgestellt und in mythischer Bildlichkeit ausgeführt hatte. Während die frühere Metaphysik als das typische Grundverhältnis des Geschehens den mechanischen Vorgang von Druck und Stoß angesehen hatte, betrachtete Aristoteles als solches die Entwicklung von Organismen und die bildende Tätigkeit des Menschen. Aus diesen beiden Gebieten entnahm er seine Beispiele, wo er den metaphysischen Charakter des Geschehens erläutern wollte274.

Doch ist das Verhältnis von Form und Stoff in diesen beiden Arten des zweckmäßigen Geschehens nicht völlig das gleiche, und die Verschiedenheit beider macht sich daher in der Ausführung des aristotelischen Grundgedankens überall geltend. In dem Falle des organischen Geschehens nämlich sind Stoff und Form in der Tat die beiden, nur durch die Abstraktion trennbaren Seiten einer und derselben von Anfang bis zu Ende miteinander identischen Wirklichkeit: schon im Keim, dessen Entwicklung das Wesen zur Entfaltung bringt, ist die Materie innerlich durch die Form gestaltet. Beim künstlerischen Bilden dagegen besteht zunächst das Material, das die Möglichkeit enthält, für sich, und erst die zweckmäßige Arbeit des Künstlers tritt hinzu, um durch die Bewegung daraus die Gestalten zu erzeugen.

Im letzteren Falle ist daher die Entwicklung unter vier Prinzipien zu[116] betrachten: es sind die Materie, die Form, der Zweck und die Ursache des Geschehens. Im ersteren Falle dagegen sind der Materie gegenüber die drei andern Prinzipien nur verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache, indem die Form sowohl die Ursache als auch das Ergebnis des Geschehens bildet.

Hiernach findet nun in der Anwendung auf die Welterkenntnis Jene Grundbeziehung von Form und Stoff eine doppelte Ausführung: einerseits werden die einzelnen Dinge als sich selbst realisierende Formen, anderseits werden die Dinge im Verhältnis zu einander das eine als Materie, das andere als Form betrachtet. Diese beiden Verwendungen des Grundprinzips gehen durch das ganze aristotelische System neben einander her und stoßen in den allgemeinen Bestimmungen zum Teil so aufeinander, daß nur durch ihre Scheidung scheinbare Widersprüche aus dem Wege geräumt werden können.

3. In ersterer Hinsicht ergibt sich, daß für die aristotelische Weltauffassung, im Gegensatze sowohl zur demokritischen als auch zur platonischen, das wahrhaft Wirkliche das durch seine Form in sich bestimmte Einzelding ist. Ihm gebührt daher zunächst der Name des Wesens oder der Substanz: ousia. Das Wesen aber entwickelt sich und verwirklicht sich in den einzelnen Bestimmungen, die teils seine Zustände (pathê), teils seine Beziehungen zu andern Dingen (ta pros ti) sind275. Die Erkenntnis hat daher dies, was dem Dinge zugehört (ta symbebêkota), von ihm auszusagen, während das Einzelding selbst von nichts anderem ausgesagt werden, d.h. im Satze nur Subjekt und nie Prädikat sein kann276. Diese Erscheinungsweisen der Substanz oder die über sie möglichen Aussagen heißen Kategorien; von ihnen zählt Aristoteles auf: Quantität (poson), Qualität (poion), Relation (pros ti), räumliche und zeitliche Bestimmung (pou, pote), Tun (poiein) und Leiden (paschein); und daneben auch Sichbefinden (keisthai) und Sichverhalten (echein). Diese Zusammenstellung (mit Einschluß der Substanz also 10 Kategorien), bei der vielleicht grammatische Beobachtungen mitgewirkt haben, soll die obersten Gattungen darstellen, unter welche alle möglichen Vorstellungsinhalte zu subsumieren sind: doch hat Aristoteles davon keinen methodischen Gebrauch gemacht, und seine Kategorienlehre hat daher, abgesehen von jenem Verhältnis der Substanz zu ihren Bestimmungen, in seiner Metaphysik keine Bedeutung gewonnen277.

Je schärfer so Aristoteles den wissenschaftlichen Substanzbegriff in seiner logischen und metaphysischen Bestimmung ausgebildet hat, um so verwunderlicher kann es auf den ersten Blick erscheinen, daß er weder ein methodisches noch ein sachliches Prinzip angegeben hat, nach dem zu entscheiden wäre, welches nun eigentlich die wahrhaft seienden Einzeldinge in seinem Sinne sind. Klar ist nur, daß er einerseits nicht jedes Beliebige, was gelegentlich in der Erfahrung als ein von den übrigen getrenntes Ding erscheint, als Wesen gelten ließ, anderseits, daß er den organischen Individuen, insbesondere z. B. den einzelnen Menschen diesen Charakter zuschrieb. Im Sinne seiner Lehre wäre es, zu meinen, daß er nur da hätte von einem »Wesen« reden können, wo eine innere Formbestimmtheit den Grund der Zusammengehörigkeit der einzelnen Merkmale bildet, wo also die Erkenntnis dieses Wesens die Aufgabe der Wissenschaft, das Seiende durch den allgemeinen Begriff zu bestimmen, insofern löst,[117] als das bleibende Einzelding den Gattungsbegriff für alle seine besonderen in der Wahrnehmung sich zeigenden Erscheinungen bildet.

Aber die sokratisch-platonische Ansicht von der Aufgabe der Wissenschaft brachte es schließlich mit sich, daß Aristoteles daneben doch wieder das Wesen des Einzeldings als dasjenige bestimmte, wodurch es seiner Gattung zugehört. Die Subordination des Einzeldinges unter den Gattungsbegriff ist auch für ihn nicht eine willkürliche Funktion des vergleichenden Verstandes, sondern eine durchaus sachliche, das wirkliche Verhältnis abbildende Erkenntnis. Wenn die Substanz ihren wahrnehmbaren Erscheinungen und Bestimmungen gegenüber das Allgemeine darstellt, so ist anderseits die Gattung (genos oder wieder platonisch eidos) das Allgemeine, welches sich in den einzelnen Substanzen verwirklicht. Auch hier wiederholt sich dasselbe Verhältnis: die Gattung besteht nur, insofern sie sich in den einzelnen Dingen als deren wahrhaft seiendes Wesen verwirklicht, und das einzelne Ding besteht nur, indem in ihm die Gattung zur Erscheinung kommt. Eben deshalb haben aber auch die Gattungen den Anspruch auf die metaphysische Bedeutung, Wesenheiten (ousiai) zu sein. Hierdurch erhält der Begriff der Substanz bei Aristoteles eine eigentümlich schillernde Doppelbedeutung. Die eigentlichen Substanzen sind die begrifflich bestimmten Einzeldinge; aber eine zweite Art von Substanzen (deuterai ousiai)278 sind die Gattungen, welche das Wesen der Einzeldinge ebenso ausmachen, wie diese das Wesen der wahrnehmbaren Erscheinungen.

Ist nun so die wissenschaftliche Erkenntnis teils auf den Begriff des Einzeldinges, teils auf den Gattungsbegriff gerichtet, so findet sich in den Erscheinungen, worin der eine oder gar der andere sich verwirklicht, zwar manches, was als direkt dem Begriffe zukommend (symbebêkota im engeren Sinne) aus ihm abgeleitet werden kann, manches aber auch, was, dem Begriffe fremd, nur nebensächlich an ihm als Folge der Materie, worin er sich realisiert, im besonderen erscheint, und von diesem begrifflich Gleichgültigen oder »Zufälligen« (symbebêkota im gewöhnlichen Sinne des Wortes) gibt es, den Voraussetzungen der aristotelischen Lehre nach, keine »Theorie«, keine wissenschaftliche Erkenntnis. Daher hat auch Aristoteles – und hierin liegt eine charakteristische Grenze der antiken Naturforschung – auf eine wissenschaftliche Einsicht in die gesetzliche Notwendigkeit, mit der auch das Einzelste, Besonderste aus dem Allgemeinen folgt, sogar prinzipiell verzichtet, dies vielmehr für ein realiter Zufälliges, Begriffloses erklärt und die wissenschaftliche Betrachtung auf dasjenige beschränkt, was allgemein (kath' holou) oder wenigstens meist (epi to poly) gilt.

4. Wenn hierin entschieden ein Festhalten an der Tradition der Ideenlehre zu sehen ist, so zeigt sich dasselbe auch in der andern Richtung. Wird nämlich das Verhältnis von Stoff und Form zwischen verschiedenen Dingen oder Dinggattungen statuiert, von denen jedes an sich schon als geformter Stoff wirklich ist, so wird dieses Verhältnis insofern relativ, als dasselbe, was dem Niederen gegenüber als Form zu betrachten ist, dem Höheren gegenüber als Stoff erscheint. In dieser Hinsicht wird der Begriff der Entwicklung zum Prinzip[118] einer metaphysischen Wertordnung der Dinge, welche in ununterbrochener Reihenfolge von den niedersten Gestaltungen der Materie bis zu den höchsten Formen aufsteigt. In dieser Stufenleiter wird jeder Dinggattung ihre metaphysische Dignität dadurch angewiesen, daß sie als Form der niederen und als Stoff der höheren betrachtet wird.

Dies System der Einzeldinge und ihrer Gattungen hat aber sowohl eine untere, als auch eine obere Grenze, – jene in der bloßen Materie, diese dagegen in der reinen Form. Die völlig ungeformte Materie279 freilich (prôtê hylê) ist an sich als bloße Möglichkeit, nicht wirklich, sie existiert nicht ohne schon irgendwo als Form verwirklicht zu sein. Aber sie ist doch nicht nur das Nichtseiende (das platonische mê on oder der leere Raum), sondern die durch reale Wirkungen sich betätigende Mitursache (to hou ouk aneu). Ihre Realität erweist sich aber darin, daß die Formen sich in den einzelnen Dingen nicht vollständig realisieren, daß aus ihr eine Nebenwirkung (paraphyas) hervorgeht, die mit der zwecktätigen Form ohne Zusammenhang oder im Widerspruche ist. Aus der Materie also erklärt es sich, daß die Formen sich nur nach Möglichkeit (kata to dynaton) verwirklichen: aus ihr stammt das begrifflich nicht Bestimmte (symbebêkos) oder das Zufällige (automaton), das Gesetz- und Zwecklose in der Natur. Daher unterscheidet die aristotelische Lehre (wie Platon im Philebos) in der Naturerklärung zwischen den Zweckursachen (to hou heneka) und den mechanischen Ursachen (to ex anankês): jene sind die Formen, die sich im Stoff realisieren, diese bestehen in dem Stoff, aus dem die Nebenwirkungen und Gegenwirkungen stammen. So wird das Weltgeschehen bei Aristoteles in letzter Instanz unter der Analogie des bildenden Künstlers betrachtet, der für die Verwirklichung seines gestaltenden Gedankens in dem spröden Material eine Grenze findet. Zwar ist dies Material der Idee so weit verwandt, daß sie wenigstens im allgemeinen sich darin darstellen kann; aber es ist doch insofern ein Fremdes und dabei Selbständiges, daß es der Realisierung der Formen zum Teil als hemmendes Prinzip entgegensteht. Diesen Dualismus zwischen der Zwecktätigkeit der Form und dem Widerstande der Materie hat die antike Philosophie nicht überschritten: sie verband mit der Forderung der teleologischen Weltbetrachtung die naive Ehrlichkeit der Erfahrung von der zwecklosen und zweckwidrigen Notwendigkeit, die sich in den Erscheinungen der Wirklichkeit geltend macht.

5. Bei der reinen Form dagegen, mit deren Begriffe unmittelbar derjenige wahrer Wirklichkeit verbunden ist, versteht es sich von selbst, daß sie, ohne irgend welcher Materie zu bedürfen, an sich die höchste Wirklichkeit besitzt. Die Annahme einer solchen reinen Form ist aber nach dem System des Aristoteles deshalb notwendig, weil die Materie, als das bloß Mögliche, in sich allein kein Prinzip der Verwirklichung, der Bewegung oder des Geschehens besitzt. Zwar kann in dem System der Entwicklung, das sich um den Begriff des sich selbst verwirklichenden Wesens konzentriert, nicht von einem zeitlichen Anfange der Bewegung gesprochen werden, da vielmehr die Bewegung so ewig wie das Sein selbst sein muß, zu dessen wesentlichen Merkmalen sie gehört; aber es muß doch dasjenige im Sein aufgezeigt werden, was Ursache[119] der Bewegung ist. Das aber ist überall die Einwirkung der Form auf den Stoff, und darin unterscheidet Aristoteles hinsichtlich der Einzeldinge zwei Momente: den Trieb des Stoffes, geformt zu werden, und die von der Form selbst ausgehende zweckmäßige Bewegung. Insofern aber die Form selbst bewegt ist, muß sie wieder als Stoff für eine höhere Form angesehen werden: und da von der letzteren dasselbe u.s.f. gilt, so wäre die Bewegung nicht begriffen, wenn nicht die Kette der Bewegungsursachen ein Anfangsglied in der reinen Form hätte, die selbst nicht mehr bewegt ist. Das Erste Bewegende (prôton kinoun) ist selbst unbewegt. Bei seiner Einwirkung auf den Stoff kommt daher nur das erste jener beiden Momente in Betracht: es wirkt nicht durch eigene Tätigkeit, sondern dadurch, daß seine absolute Wirklichkeit in dem Stoff den Trieb erregt, sich nach ihm zu formen, – nicht als mechanische, sondern als reine Zweckursache (kinei hôs erômenon, ou kinoumenon).

Das Erste Bewegende oder die reine Form bedeutet also in der aristotelischen Metaphysik ganz dasselbe, wie die Idee des Guten in der platonischen, und für sie allein nimmt Aristoteles alle Prädikate der platonischen Idee in Anspruch: sie ist ewig, unveränderlich, unbeweglich, ganz für sich, getrennt (chôriston) von allem übrigen, unkörperlich – und dabei doch die Ursache alles Geschehens. Sie ist das vollkommene Sein (energeia), worin alle Möglichkeit zugleich Wirklichkeit ist, von allem Seienden und von allen »Wesen« das höchste (to ti ên einai to prôton) und beste – die Gottheit280.

Das so seinen Beziehungen nach bestimmte höchste Wesen wird aber von Aristoteles auch seinem Inhalte nach charakterisiert: eine solche, auf keine Möglichkeit bezogene, rein in sich selbst ruhende Tätigkeit (actus purus) ist nur das Denken: freilich nicht das auf die einzelnen Dinge und ihre veränderlichen Erscheinungen gerichtete Vorstellen, sondern das mit sich selbst und seinem ewigen Wesen beschäftigte reine Denken; dasjenige Denken, welches nichts anderes als Gegenstand voraussetzt, sondern sich selbst zum immer gleichen Inhalt hat, das Denken des Denkens (noêsis noêseôs), – das Selbstbewußtsein.

Diesen Begriffsbestimmungen wohnt eine gewaltige weltgeschichtliche Bedeutung inne. Einerseits ist damit der Monotheismus begrifflich formuliert und wissenschaftlich begründet, anderseits ist er aus der pantheistischen Form, die er bei Xenophanes und auch noch bei Platon hatte, in die theistische Form übergegangen, indem Gott als ein von der Welt verschiedenes selbstbewußtes Wesen aufgefaßt wird. Neben dieser Transzendenz aber involviert die Lehre, daß Gott der absolute Geist sei, zugleich den metaphysischen Fortschritt, daß das Immaterielle, das unkörperliche reine Sein mit dem Geistigen gleichgesetzt wird. Der Monotheismus des Geistes ist die reife Frucht der griechischen Wissenschaft.

Dabei ist die Auffassung dieser göttlichen Geistigkeit rein intellektualistisch: ihr Wesen ist lediglich das auf sich selbst gerichtete Denken. Alles[120] Handeln, alles Wollen ist auf ein von dem Handelnden, dem Wollenden verschiedenes Objekt als auf seine Materie gerichtet. Der göttliche Geist als die reine Form bedarf keines Gegenstandes, er genügt sich selbst, und sein Wissen von sich selbst (theôria), das auch kein anderes Ziel hat als sich selbst, ist seine ewige Seligkeit. Er wirkt auf die Welt nicht durch seine Bewegung oder Tätigkeit, sondern durch ihre Sehnsucht nach ihm: die Welt und was in ihr geschieht, stammt aus der Sehnsucht der Materie nach Gott281.

6. Die Materie (das nur Mögliche) ist das was bewegt wird, ohne selbst zu bewegen; Gott (das nur Wirkliche) ist das was nur bewegt, ohne selbst bewegt zu sein oder zu werden: zwischen beiden liegt die ganze Reihe der Dinge, welche Bewegung sowohl erleiden als auch hervorrufen, – und deren Gesamtheit bezeichnet Aristoteles als Natur (physis; nach jetzigem Sprachgebrauch also = Welt). Sie ist somit der einheitliche Lebenszusammenhang, worin die Materie durch die Fülle ihrer Gestalten hindurch, von Form zu Form höher sich entwickelnd, dem ruhenden Sein der Gottheit sich nähert und es abbildend nach Möglichkeit in sich aufnimmt.

Dabei zeigt nun aber die Stufenleiter der Dinge, in deren Darlegung die aristotelische Naturphilosophie besteht, einen zweifachen Maßstab der Wertbeurteilung, und sie entwickelt sich deshalb auch in zwei voneinander verschiedenen Reihen, die nur am Schlusse eine zwar den Grundbegriffen des Systems nach konsequente, aber sachlich dennoch überraschende Vereinigung finden.

Im Begriffe der Gottheit begegnen sich nach Aristoteles als Hauptmerkmale diejenigen des in sich ruhenden und sich gleichbleibenden Seins (aidion) und der Geistigkeit und Vernünftigkeit (nous). Daher nehmen die einzelnen »Formen« der Natur einen um so höheren Rang ein, je mehr sie einerseits die eine, anderseits die andere dieser höchsten Wertbestimmungen erfüllen. In der einen Richtung steigt die Reihe der Erscheinungen von dem ungeordneten Wechsel des terrestrischen Geschehens bis zu dem immer gleichmäßigen Umschwung der Gestirne auf; in der andern Richtung werden wir von der bloß mechanischen Ortsveränderung bis zu den Tätigkeiten der Seele und ihrer wertvollsten Entwicklung, der vernünftigen Erkenntnis, geführt: und beide Reihen haben nur denselben Endpunkt insofern, als die in gleichmäßigster Bewegung befindlichen Gestirne als die höchsten Intelligenzen, die vernunftvollsten Geister aufgefaßt werden.

7. In ersterer Beziehung hat Aristoteles sich den altpythagoreischen Gegensatz der irdischen und der himmlischen Welt, unter Aufnahme der astronomischen Ansichten Platons, zu eigen gemacht, und dem siegreichen Einflusse seiner Philosophie ist es zuzuschreiben, daß die reiferen Vorstellungen der späteren Pythagoreer, trotz ihrer Anerkennung durch astronomische Gelehrte der Folgezeit, im Altertum nicht durchgedrungen sind. Wie das ganze Weltall die vollkommenste, überall gleiche Gestalt, diejenige der Kugel, hat, so ist auch unter allen Bewegungen die vollkommenste die in sich zurücklaufende Kreisbewegung. Diese gebührt dem Aether, dem himmlischen Element, aus welchem[121] die Gestirne und die durchsichtigen Kugelschalen gebildet sind, in denen sich Jene mit ewig unverändertem Gleichmaße bewegen: zu äußerst und in absoluter Unveränderlichkeit, die dem göttlichen Sein am nächsten kommt, der Fixsternhimmel, darunter die Planeten, die Sonne und der Mond: deren scheinbare Abweichung von der Kreisbewegung wurde durch eine komplizierte Theorie von ineinander geschachtelten Kugelschalen erklärt, welche der in nahen Beziehungen zur Akademie stehende Astronom Eudoxos und sein Schüler Kallippos aufgestellt hatten282. Die Gestirne selbst aber galten dem Aristoteles als Wesen von übermenschlicher Intelligenz, als zur Welt gehörende Götter: sie erschienen ihm als die reineren, der Gottheit ähnlicheren Formen, von denen ein zweckvoll vernünftiger Einfluß auf die niedere Welt des Erdenlebens ausgehe: dieser Gedanke ist die Wurzel der neuplatonischen und damit der mittelalterlichen Astrologie geworden.

Die niederen Formen des terrestrischen Daseins sind dagegen die vier Elemente (des Empedokles), welche durch die Tendenz geradliniger Bewegung charakterisiert sind. Die geradlinige Bewegung aber involviert sogleich den Gegensatz zweier Richtungen, der zentrifugalen, welche dem Feuer, und der zentripetalen, welche der Erde zukommen soll: geringer sei die erstere der Luft, die letztere dem Wasser beigegeben, und so füge sich die im Ganzen ruhende Mittelmasse, unsere Erde, derart zusammen, daß um das Erdige sich zunächst Wasser und dann Luft anlagere, während das Feuer der himmlischen Außenwelt zustrebe. Jedes Element hat so seine »natürliche« Bewegungsrichtung und seinen »natürlichen« Ort im Weltall: nur durch den Zusammenstoß mit andern (bia) wird es daraus abgelenkt und verdrängt. Eben diese wechselnden Verbindungen aber, welche die vier Elemente eingehen, machen das Unvollkommene, Begrifflose, Zufällige der irdischen Welt aus: hier ist die Neben- und Gegenwirkung der Materie stärker als in der himmlischen Region, wo die mathematische Bestimmtheit der ungestörten Kreisbewegung sich verwirklicht.

8. In den Veränderungen der irdischen Welt aber bauen sich zunächst mechanisches, chemisches und organisches Geschehen so übereinander auf, daß das höhere immer die niederen als seine Bedingungen voraussetzt. Ohne Ortsveränderung (phora oder kinêsis im engsten Sinne) ist die Eigenschaftsverwandlung (alloiôsis) und ohne beide die organische Verwandlung, die im Wachstum und in der Rückbildung (auxêsis – phthisis) besteht, nicht möglich. Die höhere Form aber ist niemals nur ein Produkt der niederen, sondern etwas Selbständiges, wodurch jene nur in zweckmäßiger Weise verwendet werden.

Hieraus entwickelt sich ein wichtiger prinzipieller Gegensatz des Aristoteles gegen Demokrit, während er sonst diesen Vorgänger in Bezug auf naturwissenschaftliche Einzelforschung sehr hoch geachtet und viel, auch mit ausdrücklicher Erwähnung, benutzt hat. Aristoteles283 protestiert gegen den schließlich[122] ja auch von Platon angenommenen Versuch einer Zurückführung aller qualitativen Bestimmungen auf quantitative, er bestreitet die erkenntnistheoretisch-metaphysische Gegenüberstellung von sekundären und primären Qualitäten; er erkennt den ersteren keine geringere, sondern eher eine höhere Realität als den letzteren zu, und in der Reihenfolge der »Formen« ist ihm die innere begriffliche Bestimmung offenbar wertvoller, als die äußere, mathematisch ausdrückbare284. Der Versuch Demokrits, für die Welterklärung die Reduktion aller qualitativen Unterschiede auf quantitative zum Prinzip zu erheben, hat an Aristoteles und seiner Lehre von den »Entelechien«, den inneren Formen der Dinge, seinen siegreichen Gegner gefunden. Der scharfe Logiker hat eingesehen, daß es niemals möglich ist, die Qualitäten aus Quantitätsverhältnissen analytisch zu entwickeln, sondern daß die Qualität (von welchem Sinn sie auch wahrgenommen werden möge) ein Neues ist, das die gesamten Quantitätsbeziehungen nur als tatsächliche Veranlassung voraussetzt.

9. Ganz dasselbe gilt denn auch folgerichtig bei Aristoteles für das Verhältnis der seelischen Tätigkeiten zu den leiblichen: diese sind nur die Materie, zu der jene die Formen hinzubringen. Eine derartige Abhängigkeit der psychischen Funktionen von körperlichen, wie sie nach dem Vorgang der älteren Metaphysik Demokrit und zum Teil auch noch Platon gelehrt hatten, erkennt Aristoteles nicht an. Ihm ist vielmehr die Seele die Entelechie des Leibes, d.h. die in den Bewegungen und Veränderungen des organischen Körpers sich verwirklichende Form. Die Seele ist die zwecktätige Ursache der leiblichen Gestaltung und Bewegung: selbst unkörperlich, ist sie doch wirklich nur als die den Körper bewegende und regierende Kraft.

Aber auch das Seelenleben selbst baut sich nach Aristoteles in Schichten auf, von denen jede wieder den Stoff für die höhere darstellt. Die nächste Form des organischen Lebens ist die vegetative Seele (threptikon), welche die mechanischen und chemischen Veränderungen zu den zwecktätigen Funktionen der Assimilation und der Fortpflanzung gestaltet. Auf diese rein physiologische Bedeutung einer Lebenskraft beschränkt sich die Seele der Pflanzen: zu ihr tritt im gesamten Tierreich285 die animale Seele hinzu, deren konstitutive Merkmale räumliche Selbstbewegung (kinêtikon kata topon) und Empfindung (aisthêtikon) sind.

Die zwecktätige Eigenbewegung des tierischen Leibes geht aus dem Begehren (orexis) hervor, das in der Form des Erstrebens oder des Verabscheuens aus den Gefühlen von Lust und Unlust entspringt. Diese aber setzen überall die Vorstellung ihres Gegenstandes voraus und sind zugleich mit der Vorstellung, daß dieser Gegenstand erstrebens- oder verabscheuungswürdig sei, verbunden. Die der gesamten griechischen Psychologie eigentümliche Annahme einer durchgängigen Abhängigkeit des Begehrens vom Vorstellen ist bei Aristoteles so stark, daß er diese Verhältnisse sogar ausdrücklich[123] nach der logischen Funktion des Urteils und des Schlusses darstellt. Auch praktisch gibt es Bejahung und Verneinung286, gibt es die Folgerung von einem allgemeinen Zweck auf eine besondere Handlungsweise u.s.w.

Den Herd des ganzen animalen Vorstellungslebens bildet die Empfindung. In der physiologischen Psychologie, die davon handelt287, hat Aristoteles in umfassender Weise alle die einzelnen Kenntnisse und Theorien benutzt, die seine Vorgänger, namentlich Demokrit, besaßen; aber er hat die gemeinsame Unzulänglichkeit aller früheren Lehren dadurch überwunden, daß er der Selbsttätigkeit der Seele in dem Zustandekommen der Wahrnehmung eine viel größere Bedeutung einräumte. Nicht zufrieden, die alte Theorie, daß die Wahrnehmung aus einem Zusammenwirken des Objekts und des Subjekts bestehe, zu der seinigen zu machen, wies er auf die Einheitlichkeit des Bewußtseins (mesotês) hin, mit der die animale Seele das in den einzelnen Wahrnehmungen der einzelnen Sinne Gegebene zu Gesamtwahrnehmungen verknüpft und dabei auch die Verhältnisse der Zahl, Lage und Bewegung erfaßt. So muß über den einzelnen Sinnen noch der Gemeinsinn (koinon aisthêtêrion) angenommen werden288, der dann auch vermöge des Umstandes, daß in ihm die Wahrnehmungen als Vorstellungen (phantasiai) erhalten bleiben, zum Sitz der Erinnerung, der unwillkürlichen (mnêmê) und der willkürlichen (anamnêsis), zugleich aber auch zum Sitz unseres Wissens von unseren eigenen Zuständen wird289.

10. Vegetative und animale Seele bilden aber nun im Menschen die Materie zur Verwirklichung der ihm eigentümlichen Form: der Vernunft (nous – dianoeisthai). Durch deren Einwirkung wird der Trieb (orexis) zum Willen (boulêsis) und die Vorstellung zur Erkenntnis (epistêmê). Sie kommt zu allen den seelischen Tätigkeiten, die sich aus der Wahrnehmung auch bei den Tieren entwickeln, als ein Neues und Höheres (»von außen«, thyrathen) hinzu, kann sich aber wiederum nur an und in jenen verwirklichen. Dies Verhältnis drückte Aristoteles durch die Unterscheidung der tätigen und der leidenden Vernunft aus (nous poiêtikos – pathêtikos): unter jener verstand er die reine Vernunfttätigkeit selbst, unter dieser dagegen das Wahrnehmungsmaterial, das aus dem leiblichen Dasein des einzelnen Menschen entstammt, für die Vernunft die Möglichkeiten und Anlässe ihrer Funktion gewährt und daraufhin von ihr durcharbeitet und gestaltet wird.

Danach bedeutet die »leidende« Vernunft die in der Veranlagung des einzelnen Menschen gegebene und durch die Anlässe seiner persönlichen Erfahrung bestimmte individuelle Erscheinungsweise, die »tätige« Vernunft dagegen die reine, allen Individuen gemeinsame, prinzipielle Einheitlichkeit der Vernunft. Diese allein ist, wie ungeworden, so auch unvergänglich, während[124] jene mit den Individuen, mit denen sie zu Tage tritt, vergänglich ist. Die persönliche Unsterblichkeit ist durch diese Konsequenz ebenso in Frage gestellt, wie im platonischen Timaios, wo sie auch nur noch für den »vernünftigen«, d.h. den überall gleichen, unpersönlichen »Teil« der Seele in Anspruch genommen wurde. Es ist klar, daß es sich hier nicht mehr um empirische Psychologie handelt, sondern um solche Lehren, welche ihr, aus dem systematischen Zusammenhange der ganzen Lehre heraus, infolge von ethischen und erkenntnistheoretischen Postulaten aufgepfropft werden.

11. Im Begriffe der Vernunft als der der menschlichen Seele eigentümlichen Form hat nun Aristoteles die Handhabe zu der inhaltlichen Lösung des ethischen Problems gefunden, die auch Platon noch vergebens gesucht hatte. Das Glück des Menschen (eudaimonia), das auch hier als höchster Zweck allen Strebens (telos) betrachtet wird, ist zwar zum Teil von dem äußeren Geschick abhängig; es ist erst da vollkommen, wo auch dies seine Güter gewährt hat; aber die Ethik hat es nur mit dem zu tun, was bei uns steht (ta eph' hêmin), nur mit dem Glück, das der Mensch durch eigene Tätigkeit erwirbt (prakton agathon). Jedes Wesen aber wird durch die Entfaltung seiner eigenen Natur und der ihm eigentümlichen Tätigkeit glücklich, der Mensch also durch die Vernunft. Die Tugend des Menschen ist somit diejenige Beschaffenheit (hexis), durch welche er zur Ausübung der vernünftigen Tätigkeit befähigt wird: sie entwickelt sich aus den Anlagen seines natürlichen Wesens und hat zu ihrem Erfolge die Befriedigung, die Lust.

Wie nun in der animalischen Seele Trieb und Wahrnehmung als verschiedene Aeußerungen zu unterscheiden waren, so entwickelt sich auch die Vernunft teils als vernünftiges Handeln teils als vernünftiges Denken, als Vollkommenheit einerseits des Gemüts (êthos), anderseits des Vorstellens (aisthanesthai im weitesten Sinne). So ergeben sich als Tüchtigkeit des vernünftigen Menschen die ethischen und die dianoëtischen Tugenden.

12. Die ethischen Tugenden erwachsen aus derjenigen Erziehung des Willens, durch die er gewöhnt wird, der rechten Einsicht (phronêsis – orthos logos) gemäß zu handeln: sie befähigen den Menschen, der praktischen Vernunft, d.h. der Einsicht in das Richtige bei seiner Entschließung zu folgen. Mit dieser Lehre geht Aristoteles – offenbar aus Rücksicht auf die Tatsachen des sittlichen Lebens – über die Bestimmungen des Sokrates hinaus; nicht so freilich, daß er dem Willen im allgemeinen eine psychologische Selbständigkeit gegenüber der Erkenntnis zugesprochen hätte, sondern so, daß er die Meinung aufgab, als müsse die aus der vernünftigen Einsicht stammende Willensbestimmung schon von selbst stärker sein als die aus mangelhafter Erkenntnis stammende Begierde. Da vielmehr die Erfahrung oft das Umgekehrte zeigt, so muß der Mensch durch Uebung diejenige Selbstbeherrschung (enkrateia) sich erwerben, vermöge deren er dem vernünftig Erkannten unter allen Umständen auch gegen die stärkere Begierde folgt290.

Gehört so zur ethischen Tugend im allgemeinen Anlage, Einsicht und Gewöhnung, so unterscheiden sich die einzelnen Tugenden durch die verschiedenen[125] Lebensverhältnisse, auf welche sie sich beziehen Ein System der Tugenden jedoch hat Aristoteles nicht gegeben, wohl aber eine umfassende und feinsinnige Behandlung der einzelnen. Das allgemeine Prinzip ist dabei dies, daß die vernünftige Einsicht überall die rechte Mitte zwischen den unvernünftigen Extremen findet, zu denen das natürliche Triebleben führt. So ist Tapferkeit die rechte Mitte zwischen Feigheit und Verwegenheit u.s.w. Eine besonders eingehende Darstellung hat einerseits die Freundschaft291, als das gemeinsame Streben nach allem Guten und Schönen, anderseits die Gerechtigkeit als die Grundlage des politischen Zusammenlebens gefunden.

13. Denn auch Aristoteles war wie Platon überzeugt, daß die sittliche Tüchtigkeit des Menschen als des eigentlichen zôon politikon ihre Vollendung nur im gemeinsamen Leben finden kann; auch für ihn gibt es schließlich keine vollkommene Sittlichkeit außerhalb des Staates, als dessen wesentlichen Zweck auch Aristoteles die sittliche Bildung der Bürger betrachtete. Wie sich jedoch bei dem einzelnen Menschen die Tugend aus der natürlichen Veranlagung heraus entwickeln soll, so behandelt Aristoteles auch die politischen Probleme unter dem Gesichtspunkte, daß die historisch gegebenen Verhältnisse zu möglichster Erfüllung jenes höchsten Zweckes verarbeitet werden sollen.

Jede Verfassung ist recht, wenn die Regierung das sittliche Wohl der Gemeinschaft als oberstes Ziel im Auge hat, jede ist verfehlt, wenn das nicht der Fall ist. An der äußeren Form, welche durch die Anzahl der Regierenden bestimmt ist292, hängt also die Güte des Staates nicht: Herrschaft des einzelnen kann als Königtum (basileia) gut, als Despotie (tyrannis) schlecht Herrschaft weniger kann als Aristokratie der Bildung und der Gesinnung gut, als Oligarchie der Geburt oder des Besitzes schlecht – Herrschaft aller kann als gesetzmäßig geordnete Republik (politeia) gut, als Pöbelanarchie (dêmokratia) schlecht sein. Mit tiefem politischen Verständnis trägt Aristoteles dabei die Erfahrungen der griechischen Geschichte zusammen und gibt von dieser Ueberschau her auch einige allgemeingeschichtliche Andeutungen über die Notwendigkeit, mit der die einzelnen Verfassungsformen ineinander übergehen und auseinander sich entwickeln.

Nach diesen Voraussetzungen ist es begreiflich, daß Aristoteles nicht daran denken konnte, in der Weise Platons die Verfassung eines Idealstaates bis in das einzelne hinein zu entwerfen; er begnügte sich mit einer kritischen Hervorhebung derjenigen Bestimmungen, welche in den einzelnen Verfassungen für die Erfüllung der allgemeinen Aufgabe des Staates sich als förderlich erweisen. Dabei aber schließt er sich der platonischen Forderung einer Verstaatlichung der Erziehung an: das sittliche Gemeinwesen hat selbst für die Heranbildung der Elemente seines zukünftigen Bestandes Sorge zu tragen; und die Erziehung hat den Menschen aus seinem rohen Naturzustande mit Hilfe der edlen Künste zu sittlicher und intellektueller Bildung heranzuführen.

14. Zur praktischen Vernunftbetätigung (logistikon) im weiteren Sinne des Wortes rechnete Aristoteles neben dem »Handeln« (praxis) auch das »Schaffen« (poiein): doch statuierte er anderseits zwischen dieser schöpferischen[126] Tätigkeit, die sich in der Kunst darstellt, und dem auf die Zwecke des täglichen Lebens gerichteten Tun einen so großen Unterschied, daß er gelegentlich die Wissenschaft von der Kunst, die poietische Philosophie, als eine dritte selbständig neben die theoretische und die praktische stellte. Von dieser poietischen Philosophie ist außer der Rhetorik nur unter dem Namen der Poetik das Bruchstück einer Lehre von der Dichtkunst erhalten, das zwar von Bestimmungen über das Wesen der Kunst im allgemeinen ausgeht, von dem besonderen Gegenstande aber nur noch die Grundzüge einer Theorie der Tragödie darbietet. Hierbei treten so eigentümliche Beziehungen dieser Wissenschaft von der Kunst zu den beiden andern Hauptteilen der Philosophie hervor, daß in der Tat die Unterstellung unter eine von beiden schwierig wird.

Kunst ist nachahmende Erzeugung, und die Künste unterscheiden sich ebenso durch das was sie nachahmen, wie durch das womit sie nachahmen. Die Gegenstände der Dichtkunst sind Menschen und ihre Handlungen; ihre Mittel sind Rede, Rhythmus und Harmonie. Die Tragödie insbesondere stellt eine bedeutende Handlung in unmittelbarer Ausführung durch redende und handelnde Personen dar (Poet. 6, 1449 b 24). Aber der Zweck dieser nachahmenden Darstellung ist ein ethischer: die Affekte des Menschen, insbesondere bei der Tragödie Furcht und Mitleid, sollen derartig erregt werden, daß durch ihre Erregung und Steigerung die Reinigung der Seele (katharsis) von eben diesen Affekten herbeigeführt wird. Die Erreichung dieses Zweckes aber vollzieht sich so, daß in der künstlerischen Darstellung das einzelne nicht als solches, sondern seinem allgemeinen Wesen nach zur Anschauung gebracht wird. Aehnlich wie die Wissenschaft hat die Kunst das Allgemeine in seiner besonderen Verwirklichung zu ihrem Gegenstande: sie bietet eine Art von Erkenntnis und mit dieser die Lust, die der Erkenntnis beiwohnt (Poet. 9, 1451 b 5).

  • Literatur: Ueber die später so wichtig gewordene Lehre von der Katharsis und die umfangreiche Literatur dazu vgl. A. DÖRING, Die Kunstlehre des Aristoteles (Jena 1876).

15. Die höchste Vollkommenheit seiner Entwicklung endlich gewinnt das vernünftige Wesen des Menschen in der Erkenntnis: die dianoëtischen Tugenden sind die höchsten und diejenigen, welche die vollendete Glückseligkeit herbeiführen. Die Tätigkeit der theoretischen Vernunft (epistêmonikon) ist aber auf die unmittelbare Erfassung jener höchsten Wahrheiten, der Begriffe und Urteile gerichtet, zu denen das induktive Suchen der wissenschaftlichen Forschung nur hinführt, ohne sie beweisen zu können, und von denen alle Ableitung ihren Anfang nehmen muß (vgl. § 12, 4).

Die Erkenntnis dieser höchsten Gegenstände, die volle Entfaltung der »tätigen Vernunft« im Menschen, bezeichnet Aristoteles abermals als ein »Schauen« (theôria); und mit diesem Schauen der Wahrheit gewinnt eben deshalb der Mensch Anteil an jenem reinen Denken, worin das Wesen der Gottheit besteht, und damit auch an der ewigen Seligkeit des göttlichen Selbstbewußtseins. Denn dies »Schauen«, das nur um seiner selbst willen da ist, ohne alle Zwecke des Wollens und Tuns, diese wunschlose Versenkung in die ewige Wahrheit, ist das Seligste und Beste von allem.[127]

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 115-128.
Lizenz:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Meine Erinnerungen an Grillparzer

Meine Erinnerungen an Grillparzer

Autobiografisches aus dem besonderen Verhältnis der Autorin zu Franz Grillparzer, der sie vor ihrem großen Erfolg immerwieder zum weiteren Schreiben ermutigt hatte.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon