§ 14. Das Ideal des Weisen.

[136] Der ethische Grundzug, den die Philosophie nach Aristoteles annahm, ist noch enger dadurch charakterisiert, daß es durchweg die Individualethik ist, die den Mittelpunkt der Untersuchungen dieser Epigonenzeit bildet. Die Erhebung zu den Idealen sittlicher Gemeinschaft, in welche die Moral bei Platon und Aristoteles endete, war eine ihrer Zeit fremd gewordene Verherrlichung desjenigen, wodurch Griechenland groß geworden war, des lebendigen Staatsgedankens. Dieser hatte die Macht über die Gemüter verloren, und auch in den Schulen beider Philosophen fand er so wenig Anklang, daß Akademiker wie Peripatetiker ebenfalls die Frage nach der individuellen Glückseligkeit und Tugendhaftigkeit in den Vordergrund rückten. Was aus der Schrift des Akademikers Krantor »über den Kummer«295 oder aus Theophrasts Werken unter dem Titel »ethische Charaktere« erhalten ist, steht ganz auf dem Boden einer Philosophie, welche die rechte Abschätzung der Lebensgüter für ihre wesentliche Aufgabe erachtet.

Endlose Diskussionen über diese Fragen haben den Schulstreit der nächsten Jahrhunderte ausgefüllt, und dabei sahen sich die Nachfolger der beiden großen Denker der attischen Philosophie in gemeinsamem Gegensatze gegen die neuen Schulen: beide hatten die Realisierung der Idee des Guten durch den ganzen Umfang der empirischen Wirklichkeit verfolgt und bei all dem Idealismus, mit dem namentlich Platon über die Sinnenwelt hinausstrebte, doch den relativen Wert ihrer Güter nicht verkannt. So hoch sie die Tugend im Werte stellten, so verschlossen sie sich doch der Einsicht nicht, daß zur vollkommenen Glückseligkeit des Menschen noch die Gunst des äußeren Geschicks, Gesundheit, Wohlhabenheit u.s.w. erforderlich seien296, und sie verneinten namentlich die kynisch-stoische Lehre, wonach die Tugend nicht nur das höchste (das gaben sie zu), sondern auch das einzige Gut sein sollte.

Jedenfalls aber arbeiteten auch sie daran, die rechte Lebensführung festzustellen, die den Menschen glücklich zu machen verspricht, und während einzelne Mitglieder der Schulen ihren speziellen Forschungen nachgingen, war die öffentliche Tätigkeit, namentlich der Schulhäupter in ihrer Bekämpfung der Gegner, darauf gerichtet, das Bild des normalen Menschen zu zeichnen. Das war es, was die Zeit von der Philosophie wollte: zeigt uns, wie der Mensch beschaffen sein muß, der, was auch das Weltgeschick bringe, seiner Glückseligkeit sicher ist! Daß dieser Normalmensch der Tüchtige, der Tugendhafte genannt werden muß, und daß er seine Tugend nur der Einsicht, dem Wissen verdanken kann, daß er also der »Weise« sein muß das ist die aus der sokratischen Lehre stammende Voraussetzung, die während dieser ganzen Zeit von allen Parteien als selbstverständlich anerkannt wird: und deshalb bemühen sich alle, das Ideal des Weisen, d. h des Menschen zu schildern, den seine Einsicht tugendhaft und damit glücklich macht.

1. Das hervorstechendste Merkmal in der Begriffsbestimmung des »Weisen« ist darum für diese Zeit die Unerschütterlichkeit (Ataraxie, ataraxia). Stoiker, Epikureer und Skeptiker werden nicht müde, diese Unabhängigkeit[136] vom Weltlauf als den Vorzug des Weisen zu preisen: er ist frei, ein König, ein Gott; was ihm auch geschieht, das kann sein Wissen, seine Tugend, seine Glückseligkeit nicht angreifen; seine Weisheit beruht in ihm selbst, und die Welt kümmert ihn nicht. Diese Zeichnung des Ideals charakterisiert ihre Zeit: der normale Mensch ist für sie nicht der, welcher um großer Zwecke willen arbeitet und schafft, sondern der, welcher sich von der Außenwelt frei zu machen und sein Glück in sich selbst allein zu finden weiß. Die innerliche Vereinzelung der Individuen und ihre Vergleichgültigung gegen allgemeine Zwecke kommt darin scharf zum Ausdruck: die Ueberwindung der Außenwelt bedingt die Glückseligkeit des Weisen.

Aber er muß die Welt, über die er außerhalb keine Macht hat, in sich selbst überwinden: er muß Herr werden über die Einwirkungen, welche sie auf ihn ausübt. Diese Einwirkungen aber bestehen in den Gefühlen und Begehrungen, die Leben und Welt im Menschen erregen: sie sind Störungen seines eigenen Wesens, Leidenszustände (pathê, affectus). Die Weisheit bewährt sich also in der Art, wie sich der Mensch zu seinen Affekten297 verhält, sie ist wesentlich Freiheit von den Affekten, Affektlosigkeit (Apathie, apatheia ist der stoische Ausdruck). Unbewegt in sich selbst zu ruhen, das ist der Segen dieser »Weisheit«.

Die sprachlichen Bezeichnungen, mit denen diese Lehre bei Epikur und Pyrrhon eingeführt wird, weisen unmittelbar auf eine Abhängigkeit von Aristipp und Demokrit hin. Es entspricht der allmählichen Umgestaltung, welche sich in der hedonischen Schule vollzog (vgl. § 7, 9), daß Epikur298, der ebenfalls die Lust als das höchste Gut bezeichnete, doch dem momentanen Genuß auch seinerseits die dauernde Stimmung der Befriedigung und der Ruhe vorzog. Hatten schon die Kyrenaiker das Wesen der Lust in der sanften Bewegung gefunden, so bleibt das doch immer, meinte Epikur, eine »Lust in der Bewegung«, und wertvoller ist der Zustand schmerzloser und wunschloser Ruhe (hêdonê katastêmatikê). Selbst der Mut des Genießens ist verloren gegangen: der Epikureer möchte zwar gern aller Lust sich freuen, aber es darf ihn nicht aufregen, ihn nicht in Bewegung setzen. Seelenfrieden (galênismos, vgl. §10, 5) ist alles, was er will, und er vermeidet ängstlich die Stürme, welche diesen bedrohen, d.h. die Affekte.

Deshalb erkannte Epikur die Konsequenz an, womit die Kyniker Bedülfnislosigkeit als Tugend und Glückseligkeit charakterisiert hatten; aber er war weit entfernt, wie sie auf die Lust nun auch ernsthaft zu verzichten. Zwar müsse der Weise auch dies verstehen und ausführen, sobald es durch den Lauf der Dinge erforderlich wird; aber seine Befriedigung wird um so größer sein, je reicher der Umfang der Wünsche ist, die er befriedigt findet. Eben deshalb bedarf er der Einsicht (phronêsis), welche nicht nur die Abschätzung der durch die Gefühle bestimmten Grade von Lust und Unlust ermöglicht, die im einzelnen Falle zu erwarten sind, sondern auch entscheidet, ob und wie weit[137] man den einzelnen Wünschen Raum zu geben hat. In dieser Hinsicht unterschied der Epikureismus drei Arten von Bedürfnissen: einige sind natürlich (physei), unentfliehbar vorhanden, so daß, da man ohne ihre Erfüllung überhaupt nicht zu existieren vermag, auch der Weise von ihnen sich nicht losmachen kann; andere wieder sind nur konventionell (nomô), künstlich und eingebildet, und ihre Nichtigkeit hat der Weise zu durchschauen und sie damit von sich abzutun; zwischen beiden aber (darin tritt Epikur der radikalen Einseitigkeit des Kynismus entgegen) liegt die große Masse derjenigen Bedürfnisse, welche auch ihre natürliche Berechtigung haben, aber zur Existenz freilich nicht unerläßlich sind. Auf sie kann der Weise daher nötigenfalls verzichten; aber, da ihre Befriedigung glücklich macht, so wird er sie so viel als möglich zu erfüllen suchen. Die volle Seligkeit fällt dem zu, welcher sich ohne stürmisches Streben in ruhigem Genusse aller dieser Güter erfreut.

Unter ihnen schätzte aus dem gleichen Grunde Epikur die geistigen Genüsse höher als die physischen, welche mit leidenschaftlicher Aufregung verbunden seien; aber er sucht die geistigen Freuden nicht in der reinen Erkenntnis, sondern in der ästhetischen Feinheit des Lebens, in geistreichem und zartsinnigem Umgang mit Freunden, in behaglicher Einrichtung des täglichen Daseins. So schafft sich der Weise in der Stille die Seligkeit des Selbstgenusses, die Unabhängigkeit vom Augenblick, von seinen Anforderungen und Ergebnissen: er weiß, was er sich gewähren kann, und er versagt sich davon nichts; aber er ist nicht so töricht, dem Schicksal zu grollen oder sich zu beklagen, daß er nicht alles zu besitzen vermag. Das ist seine Ataraxie: ein Genießen, wie das hedonische, aber feiner, geistiger und – blasierter.

2. In anderer Richtung hat sich Pyrrhon an den Hedonismus angelehnt, indem er das praktische Resultat aus den skeptischen Lehren der Sophistik zu ziehen suchte. Nach der Darstellung seines Schülers Timon meinte er, Aufgabe der Wissenschaft sei es, die Beschaffenheit der Dinge zu untersuchen, um das sachgemäße Verhalten des Menschen dazu festzustellen und den Gewinn zu erkennen, den er von ihnen zu erwarten habe299. Nun hat sich jedoch nach Pyrrhons Ansicht gezeigt, daß wir niemals die wahre Beschaffenheit der Dinge, sondern höchstens die Gefühlszustände (pathê) erkennen können, in welche sie uns versetzen (Protagoras, Aristipp): gibt es aber keine Erkenntnis der Dinge, so kann auch nicht bestimmt werden, welches das rechte Verhalten zu ihnen und welches der Erfolg ist, der sich aus unserem Handeln ergeben wird. Dieser Skeptizismus ist die negative Kehrseite zu der sokratisch-platonischen Folgerung: wie dort daraus, daß rechtes Handeln nicht ohne Wissen möglich sei, gefordert worden war, daß Wissen möglich sein müsse, so zeigt sich hier, daß weil es kein Wissen gibt, auch das rechte Handeln unmöglich ist.

Unter diesen Umständen bleibt dem Weisen nur übrig, den Verleitungen zum Meinen und zum Handeln, denen die Masse der Menschen unterliegt, so weit wie möglich zu widerstehen. Alles Handeln geht (SOKRATES) aus dem Vorstellen über die Dinge und ihren Wert hervor: alle törichten und unheilbringenden Handlungen folgen aus den unrichtigen Meinungen; der Weise[138] aber, der da weiß, daß man nichts über die Dinge selbst aussagen kann (aphasia) und keiner Meinung zustimmen darf (akatalêpsia)300, enthält sich möglichst des Urteils und damit auch des Handelns. Er zieht sich auf sich selbst zurück, und in der Zurückhaltung (epochê)301 des Urteils, die ihn vor dem Affekt und vor dem falschen Handeln bewahrt, findet er die Ruhe in sich selbst, die Ataraxie.

Das ist die skeptische Tugend, welche den Menschen auch von der Welt frei machen will, und sie findet ihre Grenzen nur darin, daß es doch Verhältnisse gibt, in denen sogar der auf sich selbst zurückgezogene Weise handeln muß und wo ihm dann nichts anderes übrig bleibt, als nach dem, was ihm richtig scheint, und nach dem Herkommen zu handeln.

3. Tiefer ist die Ueberwindung der Welt im Menschen von den Stoikern aufgefaßt worden. Anfangs freilich haben sie sich ganz zu der kynischen Gleichgültigkeit gegen alle Güter der Außenwelt bekannt, und die Selbstgenügsamkeit (autarkeia) des tugendhaften Weisen ist auch ihrer Ethik als ein unverlöschlicher Zug aufgeprägt geblieben; aber dem radikalen Naturalismus der Kyniker haben sie durch eine einsichtsvolle Psychologie des Trieblebens, die eine starke Abhängigkeit von Aristoteles zeigt, sehr bald die Spitze abgebrochen. Noch mehr nämlich als der Stagirit betonen sie die Einheitlichkeit und Selbständigkeit der individuellen Seele ihren einzelnen Zuständen und Tätigkeiten gegenüber, und so wird bei ihnen zuerst die Persönlichkeit zu einem maßgebenden Prinzip. Die Leitekraft der Seele (to hêgemonikon) ist ihnen nicht nur dasjenige, was die Empfindungsreize der einzelnen Organe erst zu Wahrnehmungen macht, sondern auch dasjenige, was die Gefühlserregungen durch seine Zustimmung302 (synkatathesis) in Willenstätigkeiten verwandelt. Dies zu einheitlicher Auffassung und Gestaltung berufene Bewußtsein ist nun seinem eigentlichen und wahren Wesen nach Vernunft (nous); darum widersprechen die Zustände, in denen es sich zur Zustimmung durch die Heftigkeit der Erregung fortreißen läßt, gleichmäßig seiner eigenen Natur und der Vernunft. Diese Zustände (affectus) sind deshalb solche des Leidens (pathê) und der Seelenkrankheit, naturwidrige und vernunftwidrige303 Seelenstörungen (perturbationes). Der Weise wird daher, wenn er sich auch dem Weltlauf gegenüber jener Gefühlserregungen nicht erwehren kann, mit der Kraft der Vernunft ihnen die Zustimmung verweigern: er läßt sie nicht zu Affekten werden, seine Tugend ist die Affektlosigkeit (apatheia). Seine Ueberwindung der Welt ist diejenige seiner eigenen Triebe. Erst durch unsere Zustimmung werden wir vom Lauf der Dinge abhängig: halten wir jene zurück, so bleibt[139] unsere Persönlichkeit unverrückbar auf sich selbst gestellt. Kann der Mensch nicht hindern, daß das Schicksal ihm Lust und Schmerz bereitet, so vermag er doch, indem er die erstere nicht für ein Gut und den letzteren nicht für ein Uebel erachtet, das stolze Bewußtsein seiner Selbstgenügsamkeit zu bewahren.

An sich ist daher freilich für die Stoiker die Tugend das einzige Gut und anderseits das Laster, welches in der Herrschaft der Affekte über die Vernunft besteht, das einzige Uebel, und an sich gelten ihnen demnach alle andern Dinge und Verhältnisse als gleichgültig (adiaphora)304 Aber schon in ihrer Güterlehre mildern sie den Rigorismus dieses Satzes durch die Unterscheidung des Wünschenswerten und des Verwerflichen (proêgmena und apoproêgmena). So sehr sie dabei nun auch betonten, daß der Wert (axia), welcher dem Wünschenswerten zukomme, genau von dem an sich Guten der Tugend zu unterscheiden sei, so ergab sich doch daraus von selbst im Gegensatze zu der kynischen Einseitigkeit eine wenigstens sekundäre Schätzung der Lebensgüter. Das Wünschenswerte wurde deshalb geschätzt, weil es das Gute zu fördern geeignet schien, und umgekehrt bestand der Unwert des Verwerflichen in den Hemmungen, die es der Tugend bereitet: so wurden die Fäden zwischen dem selbstgenügsamen Individuum und dem Weltlauf, welche die kynische Paradoxie zerschnitten hatte, mehr und mehr wieder angesponnen. Nur in demjenigen, was in gar keine Beziehung zur Sittlichkeit gebracht werden konnte, blieb dann schließlich das Mittlere zwischen Wünschenswertem und Verwerflichem, das absolut Gleichgültige übrig.

Wie diese Unterscheidungen allmählich durch Verdrängung des kynischen Elements den Stoizismus lebensfähiger und, sozusagen, weltmöglicher gemacht haben, so ist eine ähnliche Wendung, durch die er pädagogisch brauchbarer wurde, in der späteren Aufhebung des schroffen Gegensatzes zu sehen, der anfänglich zwischen den tugendhaften Weisen und den lasterhaften Toren (phauloi, môroi) statuiert wurde. Der Weise, hatte es geheißen, ist ganz und in allem weise und tugendhaft, der Tor ist ebenso ganz und in allem töricht und sündhaft: ein Mittleres gibt es nicht. Besitzt der Mensch die Kraft und die Gesundheit der Vernunft, mit der er seine Affekte beherrscht, so besitzt er mit dieser einen Tugend zugleich alle einzelnen, besonderen Tugenden305, und so ist dieser Besitz, der allein glücklich macht, unverlierbar: fehlt ihm dies, so ist er ein Spielball der Dinge und seiner eigenen Leidenschaften, und diese Grundkrankheit seiner Seele teilt sich seinem ganzen Tun und Leiden mit. Deshalb standen nach der Ansicht der älteren Stoiker die wenigen Weisen als vollkommene Men schen dem großen Haufen der Toren und Sünder gegenüber, und in gar manchen Deklamationen haben sie mit dem pharisäischen Pessimismus, der dem Selbstgefühl so wohltut, über die Schlechtigkeit der Menschen geklagt. Aber dieser ersten Meinung, die alle Toren als gleich verwerflich ansah, stellte sich denn doch die Ueberlegung gegenüber, daß unter ihnen hinsichtlich ihres Abstandes von dem Ideale der Tugend immerhin beträchtliche Unterschiede[140] obwalten, und so wurde zwischen Weisen und Toren der Begriff des in der Besserung befindlichen, fortschreitenden Menschen (prokoptôn) eingeschoben. Zwar hielten die Stoiker daran fest, daß auch von dieser Besserung aus kein allmählicher Uebergang zur wahren Tugend stattfinde, daß vielmehr der Eintritt in den Zustand der Vollkommenheit durch einen plötzlichen Umschlag erfolge; aber wenn die verschiedenen Stadien des sittlichen Fortschritts (prokopê) untersucht wurden und als das höchste davon ein Zustand bezeichnet war, worin die Apathie zwar erreicht, aber noch nicht zu voller Sicherheit und Selbstgewißheit gekommen sei306, so waren damit die rigorosen Abgrenzungen einigermaßen verwischt.

4. So bleibt der Rückzug der Einzelpersönlichkeit auf sich selbst das gemeinsame Kennzeichen der Lebensweisheit der griechischen Epigonen: diesem formalen und fast nur negativen Momente wurde nun in sehr verschiedener Weise ein sachlicher Inhalt der Moral hinzugefügt.

Der Skeptizismus freilich hat, soweit wir sehen können, eine solche positive Ergänzung (konsequenterweise) überhaupt nicht gewollt, und der Epikureismus hat sie in einer Richtung gesucht, welche die Einschränkung des ethischen Interesses auf die individuelle Glückseligkeit in der schärfsten Form zum Ausdruck brachte. Denn der positive Inhalt jener vor den Stürmen der Welt geborgenen Seelenruhe des Weisen ist für Epikur und die Seinen doch zuletzt nur die Lust. Dabei fehlt ihnen freilich der sinnlichkeitsfrohe Mut, mit dem Aristippos den Genuß des Augenblicks und die Freuden des Leibes zum höchsten Zweck erhoben hatte, und wir finden, wie schon oben erwähnt, in ihrer Lehre vom höchsten Gut die blasierte, wohl abgewogene Feinschmeckerei des Kulturmenschen zum sittlichen Lebensinhalt erklärt. Freilich reduzierte Epikur in der psychogenetischen Theorie ausnahmslos alle Lust auf diejenige der Sinne oder, wie man später sagte, des Fleisches307; aber mit Bestreitung der Kyrenaiker erklärte er308, daß gerade die abgeleiteten und damit verfeinerten Freuden des Geistes denen der Sinne weit überlegen seien. Sehr richtig erkannte er, daß das Individuum, auf dessen Unabhängigkeit von der Außenwelt Ja alles ankommen sollte, der geistigen Genüsse sehr viel sicherer und sehr viel mehr Herr sei als der materiellen. Die Freuden des Leibes hängen an der Gesundheit, dem Reichtum und andern Gaben des Glücks: was aber Wissenschaft und Kunst, was die freundschaftliche Lebensgemeinschaft edler Menschen, was die bedürfnislose, selbstzufriedene Ruhe des von Leidenschaften befreiten Geistes gewährt, das ist, vom Wechsel der Geschicke wenig oder gar nicht berührt, des Weisen sicherer Besitz. Der ästhetische Selbstgenuß des gebildeten Menschen ist daher das höchste Gut für den Epikureer. Gewiß war damit das Grobe und Sinnliche aus dem Hedonismus fortgefallen, und die Gärten Epikurs waren eine Pflanzstätte schöner Lebensführung, feinster Sitten und edler Beschäftigungen; aber das Prinzip individuellen Genusses war dasselbe geblieben, und der Unterschied war nur der, daß das alternde Griechentum mit seinen römischen Schülern raffinierter, geistiger, feinfühliger genoß als die jugendlichen und männlichen Vorfahren. Nur der Inhalt, den die[141] reicher entfaltete und tiefer ausgelebte Kultur dem Genusse darbot, war wertvoller geworden: die Gesinnung, mit der man nicht mehr in hastigem Tranke, sondern in bedächtigen Zügen des Lebens Becher lächelnd leerte, war derselbe pflichtlose Egoismus. Daher denn auch hier, freilich mit noch größerer Vorsicht, die innere Gleichgültigkeit des Weisen gegen sittliches Herkommen und landgewohnte Regeln, daher vor allem die Ablehnung aller religiösen oder metaphysischen Vorstellungen, welche den Weisen in dieser selbstgefälligen Genügsamkeit des Genießens stören und ihn mit dem Gefühle der Verantwortlichkeit und der Pflicht belasten könnten.

5. Hierzu bildet nun die stoische Ethik den stärksten Gegensatz. Schon der an Aristoteles (§ 13, 11) anklingende Gedanke, daß die Seele in der Vernunftkraft, mit der sie den Trieben die Zustimmung versagt, ihr eigenes Wesen zur Geltung bringe, läßt den eigentümlichen Antagonismus zu Tage treten, den die Stoiker im menschlichen Seelenleben annahmen. Gerade das nämlich, was man jetzt etwa die natürlichen Triebe nennt, die von Dingen der Außenwelt durch die Sinne hervorgerufenen und darauf bezüglichen Gefühls- und Willenserregungen, gerade dies erscheint ihnen, wie erwähnt, als das Widernatürliche (para physin): die Vernunft dagegen gilt ihnen als die »Natur« nicht nur des Menschen, sondern des Weltalls überhaupt. Wenn sie deshalb die kynischen Sätze zu den ihrigen machen, wonach das Sittliche für das allein »Natürliche« erklärt wird, so enthält der gleiche Ausdruck bei ihnen einen völlig veränderten Gedanken. Als ein Teil der Weltvernunft schließt die Seele von sich die sinnliche Triebbestimmtheit, worauf die Kyniker die Moralität schließlich reduziert hatten, als ein Widerstrebendes aus: die Forderungen der Natur, mit denen der Vernunft identisch, sind im Widerspruch mit denen der Sinne.

Hiernach erscheint nun der positive Inhalt der Sittlichkeit bei den Stoikern als Uebereinstimmung mit der Natur und damit zu gleich als ein Gesetz, welches dem Sinnenmenschen gegenüber normative Geltung beansprucht (nomos)309. In dieser Formel aber gilt »Natur« in doppeltem Sinne310. Es ist einerseits die allgemeine Natur gemeint, die schaffende Weltkraft, der zwecktätige Weltsinn (vgl. § 15, 2), der logos: und dieser Bedeutung gemäß ist die Moralität des Menschen seine Unterordnung unter das Naturgesetz, sein williger Gehorsam gegen den Lauf der Welt, der eine ewige Notwendigkeit ist, und da diese Weltvernunft in der stoischen Lehre als Gottheit bezeichnet wird, auch der Gehorsam gegen Gott und das göttliche Gesetz, sowie die Unterordnung unter den Weltzweck und unter das Walten der Vorsehung: die lex naturae ist die lex divina – eine für die Folgezeit weittragende Gleichsetzung. Die Tugend des vollkommenen Individuums, das den übrigen Einzelwesen und ihrer sinnlichen Einwirkung gegenüber sich so selbstherrlich auf sich zurückziehen und in sich ruhen sollte, erscheint damit unter ein Allgemeinstes, Allwaltendes gebunden.

Da Jedoch nach stoischer Auffassung ein wesensgleicher Teil dieser göttlichen Weltvernunft das hêgemonikon, die Lebenseinheit der menschlichen Seele[142] ist, so muß das naturgemäße Leben auch dasjenige sein, welches der menschlichen Natur, dem Wesen des Menschen angemessen ist, und zwar sowohl in dem allgemeineren Sinne, daß Sittlichkeit mit echter, voller Menschlichkeit und mit der für alle gleichmäßig geltenden Vernünftigkeit zusammenfällt, als auch in der besonderen Richtung, daß mit der Erfüllung Jenes Naturgebots jeder einzelne auch den innersten Kern seines individuellen Wesens zur Entfaltung bringt. In der Verknüpfung beider Gesichtspunkte erschien den Stoikern die von vernünftigen Gesichtspunkten geleitete Konsequenz der Lebensführung als das Ideal der Weisheit, und sie fanden die höchste Weisheit darin, daß der Tugendhafte diese durchgängige Uebereinstimmung mit sich selbst311 in allem Wechsel des Lebens als seine wahre Charakterstärke zu bewahren habe. Der politische Doktrinarismus der Griechen fand so seine philosophische Formulierung und wurde eine willkommene Ueberzeugung für die eisernen Staatsmänner des republikanischen Rom.

Wie aber auch immer die einzelnen Wendungen sein mochten, in denen die Stoiker ihrem Grundgedanken Ausdruck gaben, dieser selbst war überall derselbe: daß das natur- und vernunftgemäße Leben eine Pflicht (kathêkon) sei, welche der Weise zu erfüllen, ein Gesetz, dem er sich im Gegensatz zu seinen sinnlichen Neigungen unterzuordnen habe. Und dies Verantwortlichkeitsgefühl, dies strenge Bewußtsein des Sollens, diese Anerkennung einer höheren Ordnung gibt ihrer Lehre wie ihrem Leben Rückgrat und Mark.

Auch diese Forderung des pflichtgemäßen Lebens tritt gelegentlich bei den Stoikern mit jener Einseitigkeit auf, daß das ethische Bewußtsein einiges aus Vernunftgründen verlangt, das Entgegenstehende verbietet und alles übrige für sittlich gleichgültig erklärt. Was nicht geboten und nicht verboten ist, bleibt moralisch indifferent (adiaphoron), und daraus ziehen die Stoiker manchmal gar laxe Folgerungen, die sie vielleicht mehr den Worten als der Gesinnung nach vertreten haben. Aber auch hier hat die systematische Ausbildung der Theorie wertvolle Zwischenglieder geschaffen. Obgleich nämlich nur das Gute unbedingt geboten ist, so muß doch sekundär auch das »Wünschenswerte« als sittlich ratsam betrachtet werden, und wenn freilich die eigentliche Schlechtigkeit erst im Wollen des unbedingt Verbotenen besteht, so wird doch der sittliche Mensch auch das »Verwerfliche« zu vermeiden suchen: so trat, der Abstufung der Güter gemäß (vgl. oben Nr. 3), auch eine solche der Pflichten ein, die danach als absolute und »mittlere« unterschieden wurden. Ebenso aber wurde anderseits hinsichtlich der Wertung menschlicher Handlungen mit sachlich etwas verändertem Prinzip zwischen solchen unterschieden. welche die Forderung der Vernunft312 äußerlich erfüllen, – diese heißen geziemend, pflichtmäßig im weiteren Sinne (kathêkonta) –, und solchen, welche dies lediglich aus der Gesinnung, das Gute tun zu wollen, vollziehen: nur im letzteren Falle313 liegt eine vollkommene Pflichterfüllung (katorthôma) vor, deren Gegenteil die in einer Handlung betätigte pflichtwidrige Gesinnung, die Sünde (hamartêma) ist. So haben sich die Stoiker vom Pflichtbewußtsein aus auf das ernsteste und zum[143] Teil bis zu kasuistischen Betrachtungen in die sittlichen Wertbestimmungen menschlichen Wollens und Handelns vertieft, und als ihre wertvollsten Leistung darf der nach allen Seiten hin gewendete Gedanke betrachtet werden, daß der Mensch mit all seinem Tun und Lassen, äußerlich und innerlich, einem höheren Gebote verantwortlich ist.

6. Die große Verschiedenheit sittlicher Lebensauffassung, die somit trotz einer Anzahl tief und auch weit gehender Gemeinsamkeiten zwischen den Epikureern und den Stoikern besteht, kommt am deutlichsten in den beiderseitigen Theorien von der Gesellschaft und vom Staat zur Geltung. Darin freilich sind beide bis zu fast wörtlicher Uebereinstimmung einig, daß der Weise in der Selbstgenügsamkeit seiner Tugend des Staates314 so wenig wie irgend einer andern Lebensgemeinschaft bedarf, ja daß er solche im Inte resse sei es des Selbstgenusses sei es der Pflichterfüllung unter Umständen zu meiden habe. In diesem Sinne raten selbst Stoiker, namentlich spätere, vom Eintritt in das Familienleben und in die politische Tätigkeit ab; und dem Epikureer genügte die Verantwortlichkeit, welche die Ehe und die öffentliche Wirksamkeit mit sich bringen, um sich gegen beide sehr skeptisch zu verhalten und namentlich die letztere für den Weisen nur in dem Falle ratsam erscheinen zu lassen, wo sie unvermeidlich oder von ganz sicherem Vorteil ist. Im allgemeinen gilt für die Epikureer das lathe biôsas; ihres Meisters, die Maxime in der Stille zu leben315; in ihr hat freilich die innere Zerbröckelung der alten Gesellschaft ihren typischen Ausdruck gefunden, aber sie erscheint auch in vielen Fällen, namentlich in der römischen Kaiserzeit, als die wohlbegreifliche Maxime des anständigen Menschen, der durch die Verderbnis und das Strebertum des politischen Lebens sich angewidert findet und damit nichts zu tun haben mag.

Allein ein großer Unterschied zwischen beiden Lebensauffassungen zeigt sich schon darin, daß den Stoikern die Lebensgemeinschaft der Menschen als ein Vernunftgebot erschien, welches nur gelegentlich hinter der Aufgabe der persönlichen Vollkommenheit des Weisen zurückstehen müsse, während Epikur jede natürliche Gemeinschaft zwischen den Menschen aus drücklich veneinte316 und deshalb jede Form des geselligen Zusammenschlusses auf utilistische Ueberlegungen der Individuen zurückführte. So findet schon die Theorie der in seiner Schule eifrig und bis zur Sentimentalität gepflegten Freundschaft nicht den idealen Rückhalt, wie in der herrlichen Darstellung des Aristoteles317, sondern sie beschränkt sich im Grunde genommen auf die Motive des durch die Gemeinschaft gesteigerten Bildungsgenusses der Weisen318.

Insbesondere aber hat nun der Epikureismus die schon in der Sophistik (§ 7, 1 u. 2) entwickelten Vorstellungen über den Ursprung der staatlichen Gemeinschaft aus dem wohl erwogenen Interesse der einzelnen systematisch durchgeführt. Der Staat ist kein natürliches Gebilde, sondern von den Menschen um der Vorteile willen, die man von ihm erwartet und auch erhält, mit Ueberlegung[144] zustande gebracht worden. Er wächst aus einem Vertrage (synthêkê) hervor, den die Menschen miteinander eingehen, um sich gegenseitig nicht zu schädigen319, und die Staatsbildung ist daher einer der mächtigen Vorgänge, durch welche das Menschengeschlecht vermöge seiner wachsenden Intelligenz aus dem Stande der Wildheit sich zur Zivilisation heraufgearbeitet hat320. Die Gesetze sind also in jedem einzelnen Falle einer Uebereinkunft über gemeinsamen Nutzen (symbolon tou sympherontos) entsprungen; es gibt nichts an sich Rechtes oder Unrechtes, und da bei dem Vertrage selbstverständlich die größere Intelligenz sich zu eigenen Gunsten geltend macht, so sind es meistens die Vorteile der Weisen, welche sich als die Motive der Gesetzgebung herausstellen321. Und wie für den Ursprung und Inhalt, so ist auch für die Geltung und die Anerkennung der Gesetze die Summe der Unlust, welche sie zu verhindern, und der Lust, welche sie herbeizufühlen geeignet sind, allein maßgebend. Alle Grundzüge der utilistischen Gesellschaftslehre entwickeln sich bei Epikur folgerichtig aus der atomistischen Voraussetzung, daß die Individuen zunächst auf sich und für sich bestehen und erst um der Güter willen, die sie allein nicht erreichen oder nicht schützen können, freiwillig und absichtsvoll die Lebensgemeinschaft eingehen.

7. Den Stoikern dagegen gilt der Mensch schon vermöge der Wesensgleichheit seiner Seele mit der Weltvernunft als ein von Natur zur Gemeinschaft bestimmtes Lebewesen322, eben damit aber auch durch das Vernunftgebot zur Gesellschaft in einer Weise verpflichtet, die nur besondere Ausnahmsfälle zuläßt. Als das nächste Verhältnis erscheint nun auch hier die Freundschaft, der sittliche Lebenszusammenhang tugendhafter Individuen miteinander, die in gemeinsamer Betätigung des ethischen Gesetzes vereinigt sind323. Aber von diesen rein persönlichen Beziehungen springt die stoische Lehre sogleich auf das allgemeinste über, auf die Gesamtheit der vernünftigen Wesen überhaupt. Als Teile derselben Einen Weltvernunft bilden Götter und Menschen zusammen Einen großen, vernünftigen Lebenszusammenhang, ein politikon systêma, worin jeder einzelne ein notwendiges Glied (melos) ist, und daraus ergibt sich für das Menschengeschlecht die ideale Aufgabe, ein alle seine Glieder umschlingendes Vernunftreich zu bilden.

Der Idealstaat der Stoiker, wie ihn bereits Zenon (in polemischer Parallele zu dem platonischen) zeichnete, kennt somit keine Schranken der Nationalität oder des historischen Staates, er ist eine vernünftige Lebensgemeinschaft aller Menschen, – ein ideales Weltreich. Schon Plutarch hat erkannt324, daß die philosophische Theorie damit dasjenige als vernünftig konstruierte, was sich historisch durch Alexander den Großen anbahnte und was, wie wir wissen, durch die Römer vollendet wurde. Aber es darf nicht unbeachtet bleiben, daß die Stoiker dies Weltreich erst sekundär als politische Macht, daß sie es in[145] erster Linie als eine geistige Einheit der Erkenntnis und des Willens gedacht haben.

Es ist begreiflich, daß bei einem so hochfliegenden Idealismus die Stoiker für das eigentlich Politische nur ein sehr abgeschwächtes Interesse übrig behielten. Wenn auch dem Weisen, um seine Pflicht für die Gesamtheit selbst in dieser schlechten Welt zu erfüllen, die Beteiligung an einem besonderen Staatsleben gestattet und sogar aufgegeben wurde, so sollten ihm doch schließlich sowohl die einzelnen Staatsformen als auch die historischen Einzelstaaten gleichgültig sein. So vermochte sich die Stoa für keine der ausgeprägten Verfassungsarten zu begeistern, hielt sich vielmehr, der aristotelischen Andeutung folgend, an ein gemischtes System, etwa in der Weise, wie es auch Polybios325 auf Grund seiner Betrachtung über die notwendigen Uebergänge der einseitigen Formen ineinander als wünschenswert hinstellte. Der staatlieben Zersplitterung der Menschheit aber hielten die Stoiker die Idee des Weltbürgertums entgegen, die sich ihnen unmittelbar aus jener Vorstellung von einer sittlichen Lebensgemeinschaft aller Menschen ergab. Es entsprach den großen Bewegungen der Zeitgeschichte, daß sie den Wertunterschied von Hellenen und Barbaren, den noch Aristoteles vertreten hatte326, als überwunden beiseite schoben327, und wenn sie auch gegen äußere Verhältnisse der Lebensstellung ihrem ethischen Prinzip nach zu gleichgültig waren, um für soziale Reformen in agitatorische Tätigkeit zu treten, so verlangten sie doch, daß die Gerechtigkeit und die allgemeine Menschenliebe, die sich als oberste Pflichten aus der Idee des Vernunftreichs ergeben, auch den untersten Gliedern der menschlichen Gesellschaft, den Sklaven in vollem Maße zugewendet werden sollten.

Trotz ihrer Abwendung von dem griechischen Gedanken des Nationalstaates gebührt somit der stoischen Ethik der Ruhm, daß in ihr das Reifste und Höchste, was das sittliche Leben des Altertums erzeugt und womit es über sich selbst hinaus in die Zukunft gedeutet hat, zur besten Formulierung gelangt ist: der Eigenwert der moralisch en Persönlichkeit, die Unterordnung des einzelnen unter ein göttliches Weltgesetz, seine Einordnung in einen idealen Zusammenhang der Geister, wodurch er weit über die Schranken seines irdischen Lebens hinausgehoben wird, und dabei doch das energische Pflichtgefühl, das ihn tatkräftig seinen Platz in der Wirklichkeit ausfüllen lehrt, – alles dies sind die Merkmale einer Lebensanschauung, welche, mag sie auch wissenschaftlich mehr zusammengefügt als einheitlich erzeugt erscheinen, doch eine der gewaltigsten und folgereichsten Bildungen in der Geschichte der menschlichen Ueberzeugungen darstellt.

8. Konzentriert erscheinen alle diese Lehren in dem Begriffe des durch Natur und Vernunft für alle Menschen gleichmäßig bestimmten Lebensgesetzes: to physei dikaion, und dieser Begriff ist durch Vermittlung Ciceros328 zum gestaltenden Prinzip der römischen Jurisprudenz geworden. Dieser nämlich[146] hielt in seiner eklektischen Anlehnung an alle Größen der attischen Philosophie nicht nur objektiv den Gedanken einer sittlichen Weltordnung, die das Verhältnis vernünftiger Wesen zu einander allgemeingültig bestimme, mit aller Energie aufrecht, sondern er meinte auch in subjektiver Hinsicht – seiner erkenntnistheoretischen Ansicht (§ 17, 4) entsprechend –, daß dies Vernunftgebot allen Menschen gleichmäßig eingeboren und mit ihrem Selbsterhaltungstriebe untrennbar verwachsen sei. Aus dieser lex naturae, dem allgültigen Naturgesetz, das über alle menschliche Willkür und über allen Wechsel des historischen Lebens erhaben ist, entwickeln sich, wie die Gebote der Sittlichkeit überhaupt, so auch diejenigen der menschlichen Lebensgemeinschaft: das jus naturale. Indem aber Cicero daran geht, von diesem Standpunkte aus die ideale Form des politischen Lebens zu entwerfen, nimmt unter seinen Händen329 der stoische Weltstaat die Linien des Hömerreichs an. Der Kosmopolitismus, bei den Griechen als fernes Ideal im Niedergange ihrer eigenen politischen Bedeutung entsprungen, wird bei den Römern zum stolzen Selbstbewußtsein ihrer historischen Mission.

Aber schon in diese theoretische Entwicklung dessen, was der Staat sein soll, flicht Cicero die Untersuchung darüber, was er ist. Nicht aus der Ueberlegung oder der Willkür der einzelnen hervorgegangen, ist er vielmehr ein Produkt der Geschichte, und deshalb mischen sich in seinen Lebensformen die ewig gültigen Bestimmungen des Naturgesetzes mit den historischen Satzungen des positiven Rechtes: diese entwickeln sich teils als das innere Recht der einzelnen Staaten, jus civile, teils als das Recht, welches die Genossen verschiedener Staaten im Verhältnis zu einander anerkennen, jus gentium. Beide Arten des positiven Rechtes decken sich in ihrem ethischen Inhalt auf weite Strecken mit dem Naturrecht, aber sie ergänzen es durch die Fülle historischer Bestimmungen, die in ihnen zur Geltung gelangen.

Diese Begriffsbildungen haben nicht nur die Bedeutung, daß sie für eine neue, bald von der Philosophie sich abzweigende Spezialwissenschaft das Gerippe abgegeben haben, sondern auch den Sinn, daß in ihnen der Wert des Historischen zum erstenmal zu voller philosophischer Wertung gelangt: und an diesem Punkte hat Cicero die politische Größe seines Volkes in eine wissenschaftliche Schöpfung zu verwandeln gewußt.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 136-147.
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Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

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