§ 17. Die Kriterien der Wahrheit.

[163] Am geringfügigsten ist der philosophische Ertrag der nacharistotelischen Zeit auf den logischen Gebiete. Eine so gewaltige Schöpfung, die die Analytik des Stagiriten, welche die Prinzipien der griechischen Wissenschaft in so musterhafter Weise zugeschlossenem Gesamtbewußtsein brachte, mußte natürlich das logische Denken auf lange Zeit beherrschen und hat dies in der Tat bis an den Ausgang des Mittelalters und selbst noch darüber hinaus getan. Die Fundamente dieses Systems waren so fest gelegt, daß daran zunächst nicht[163] gerüttelt wurde und daß der Schultätigkeit nur der Ausbau einzelner Teile übrig blieb, wobei sich denn schon damals viel verschnörkeltes Epigonenwesen breit machte.

1. Schon die Peripatetiker haben in dieser Richtung die aristotelische Analitik durch ausführlichere Behandlung, teilweise Neubegründung, weitergehende Einteilung, schulmäßigere Formulierung systematisch auszubilden gesucht. Insbesondere haben Eudemos und Theophrast Untersuchungen über das hypothetische und das disjunktive Urteil und über die durch deren Vorkommen in den Prämissen veranlaßte Erweiterung der Syllogistik angestellt. Die Stoiker führten diese Bestrebungen fort; sie setzten diese neuen Formen des Urteils (axiôma) als zusammengesetzte den einfachen394 (kategorischen) gegenüber, entwickelten bis in alle Einzelheiten die daraus folgenden Schlußformen, betonten auch besonders die Qualität395 der Urteile und leiteten die Denkgesetze in veränderte Formen ab. Ueberhaupt aber spannen sie die logischen Regeln zu einem trockenen Schematismus und echt schulmäßigen Formalismus aus, der dadurch sich von den inhaltlichen Grundgedanken der aristotelischen Analytik mehr und mehr entfernte und zu einem toten Formelkram wurde. Die unfruchtbare Spitzfindigkeit dieses Treibens gefiel sich namentlich in der Auflösung sophistischer Fangschlüsse, bei denen der sachliche Sinn unrettbar in den Widerstreit der Formen verstrickt war.

Erst in diesen Schulbearbeitungen hat die von Aristoteles geschaffene Wissenschaft der Logik den rein formalen Charakter angenommen, der ihr dann bis zu KANT hin geblieben ist. Je pedantischer dabei sich die Ausführung des einzelnen gestaltete, um so mehr trat an die Stelle des Bewußtseins vom lebendigen Denken, das Aristoteles angestrebt hatte, ein schulmeisterliches Maschennetz von Regeln, – wesentlich dazu bestimmt, die Gedanken einzufangen und auf ihre formelle Legitimation zu prüfen, aber unfähig, der schöpferischen Kraft der wissenschaftlichen Tätigkeit gerecht zu werden. Hatte schon bei den Sophisten und selbst bei Aristoteles die Rücksicht auf Beweisen und Widerlegen im Vordergrunde gestanden, so waltet sie hier nur noch allein, und zu einer Theorie der Forschung hat es das Altertum nicht gebracht. Denn die schwachen Ansätze, welche sich dazu in den Untersuchungen eines jüngeren Epikureers396 des Philodemos397, über Induktions- und Analogieschlüsse finden, stehen verhältnismäßig einsam ohne nennenswerten Ertrag.

2. Mehr Sachliches sollte man in der Kategorienlehre erwarten, von deren Umarbeitung die Stoiker viel Wesens machten. Da war es nun zwar durchaus richtig, aber in dieser Form auch wellig fruchtbar, wenn darauf hingewiesen wurde, die oberste Kategorie, von der die andern nur besondere Bestimmungen darstellen, sei diejenige des Etwas (ti): als deren beide Arten wurden dann wohl das Wirkliche (to on),398 das mit dem Körperlichen zusammenfiel,[164] und das Gedachte (to lekton) einander gegenübergestellt, und darin lagen freilich Ansatzpunkte zu wichtigen Problembildungen (vgl. unten). Ebenso wurde die Koordination der Kategorien. die bei Aristoteles wenigstens nach der Art der Aufzählung stattfand, durch eine ausdrücklich systematische Reihenfolge ersetzt, nach der jede Kategorie durch die folgende näher bestimmt werden sollte. Das Seiende als bleibendes Substrat aller möglichen Beziehungen ist Substanz (hypokeimnenon): diese ist der Träger von festen Eigenschaften (poion), und nur in dieser Hinsicht befindet sie sich in wechselnden Zuständen (to pôs echon) und infolge deren auch in Beziehungen zu anderen Substanzen (to pros ti pôs echon).399

Aus der Kategorienlehre wird damit eine Ontologie, d.h. eine metaphysische Theorie über die allgemeinsten Formbeziehungen der Wirklichkeit, und diese nimmt deshalb bei den Stoikern, ihrer allgemeinen Tendenz gemäß (vgl. §15, 5), einen durchweg materialistischen Charakter an. Als Substanz ist das Seiende die an sich eigenschaftslose Materie (hylê), und die ihr im ganzen wie im besonderen innewohnenden Eigenschaften und Kräfte (poiotêtes – dynameis) sind ebenfalls ihr beigemischte (krasis di' holôn) Stoffe (Luftströmungen). Dabei werden beide, Substanz und Attribute, sowohl unter dem Gesichtspunkte des allgemeinen Begriffs, als auch unter demjenigen des Einzeldinges betrachtet, und in letzterer Beziehung wird hervorgehoben, daß jedes Einzelding von allen anderen wesentlich und bestimmt unterschieden sei.

Neben die Kategorien des Seins treten aber bei den Stoikern diejenigen Begriffsformen, durch welche sie das Verhältnis des Denkens zum Sein ausdrückten, und in diesen kommt nun die Trennung des Subjektiven vom Objektiven, die in der Entwicklung des griechischen Denkens immer stärker vorbereitet worden war, zum entschiedenen Ausdruck. Während nämlich die Stoiker alle Gegenstände, auf die sich das Denken bezieht, für körperlich, während sie ebenso die Denktätigkeit selbst und nicht minder ihren sprachlichen Ausdruck400 für körperliche Funktionen ansahen, mußten sie doch zugestehen, daß der Vorstellungsinhalt als solcher (to lekton) unkörperlicher Natur sei. Indem aber so zwischen Sein und Bewußtseinsinhalt scharf unterschieden wurde, trat das erkenntnistheoretische Grundproblem hervor, wie das Verhältnis der Beziehung und der Uebereinstimmung zwischen beiden zu denken sei.

3. Diese Frage war aber außerdem durch die lebhafte Entwicklung nahe gelegt, welche der Skeptizismus inzwischen erfahren hatte, und durch die verhältnismäßig starke Stellung, die er den dogmatischen Systemen gegenüber behauptete.

Gleichviel ob von Pyrrhon oder Timon, jedenfalls waren um dieselbe Zeit wo die großen Schulsysteme sich ausbildeten und befestigten, auch alle die Argumente zu einem geschlossenen Ganzen systematisiert worden, durch welche schon die sophistische Zeit das naive Vertrauen in die Erkenntnisfähigkeit des[165] Menschen erschüttert hatte. Obgleich auch dabei der ethische Zweck, den Menschen durch Urteilsenthaltung unabhängig vom Schicksal zu stellen, letzthin maßgebend war (vgl. § 14, 2), so bildet doch dieser Skeptizismus eine sorgfältig ausgeführte theoretische Doktrin. Er bezweifelt die Möglichkeit der Erkenntnis in ihren beiden Formen, als Wahrnehmung ebenso wie als urteilendes Denken, und nachdem er jeden dieser beiden Faktoren einzeln zersetzt hat, fügt er ausdrücklich hinzu, daß ebendeshalb auch ihre Vereinigung kein sicheres Ergebnis haben könne401.

In Bezug auf die Wahrnehmung bemächtigten sich die Skeptiker des protagoreischen Relativismus, und noch in den sog. zehn Tropen402, worin Ainesidemos403 die skeptische Theorie mit sehr mangelhafter Anordnung darstellte, nimmt diese Tendenz den breitesten Raum ein. Die Wahrnehmungen wechseln nicht nur bei den verschiedenen Gattungen der Lebewesen (1), nicht nur bei den verschiedenen Menschen (2) je nach ihren Gewöhnungen (9) und ihrer ganzen Entwicklung (10), sondern sogar bei demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten (3), in Abhängigkeit von den körperlichen Zuständen (4) und von dem verschiedenen Verhältnis, worin es sich schon räumlich zu dem Gegenstande befindet (5); aber sie ändern sich auch durch die Verschiedenheit der Zustände des Objekts (7), und sie haben auf den Wert einer unmittelbaren Wiedergabe der Dinge schon deshalb keinen Anspruch, weil ihre Entstehung durch Zwischenzustände, in Medien wie der Luft, bedingt ist, deren Mitwirkung wir nicht in Abzug zu bringen vermögen (6). Der Mensch ist daher in alle Wege außerstande, die Dinge rein zu erkennen (8), und er hat gegenüber. der widerspruchsvollen Mannigfaltigkeit der Eindrücke kein Mittel, einen wahren von einem falschen zu unterscheiden. Der eine gilt nicht mehr (oumallon) als der andere.

Ebenso relativ aber wie die Wahrnehmungen sind auch die Ansichten (doxai) der Menschen. In dieser Hinsicht machen sich beim Pyrrhonismus die Einflüsse der eleatischen Dialektik geltend. Es wird gezeigt, daß jeder Meinung die entgegengesetzte mit gleich guten Gründen gegenübergestellt werden kann, und dies Gleichgewicht der Gründe (isostheneia tôn logôn) erlaubt daher wieder nicht, Wahres und Falsches zu unterscheiden: bei solchem Widerspruch (antilogia) gilt auch das eine nicht mehr als das andere. Somit bestehen – nach der von den Skeptikern aufgenommenen Redeweise der Sophistik – alle Meinungen nur durch Konvention und Gewohnheit (nomô te kai ethei), nicht mit wesenhafter Berechtigung (physei).

Energischer noch hat die spätere Skepsis die Möglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis angegriffen, indem sie die Schwierigkeiten des syllogistischen Verfahrens und der von Aristoteles darauf gebauten Methode aufdeckte404. Hierin scheint Karneades vorangegangen zu sein, welcher zeigte, daß Jeder Beweis, indem er für die Gültigkeit seiner Prämissen andere[166] Beweise voraussetzt u.s.f., einen regressus in infinitum erforderlich mache, – eine Konsequenz, welche für den Skeptiker, der nicht wie Aristoteles etwas unmittelbar Gewisses (ameson; vgl. §12, 4) anerkannte, durchaus zutreffend war. Dasselbe Argument hat Agrippa weiter geführt, der den Skeptizismus in fünf Tropen405 viel klarer und umfassender als Aenesidem formulierte. Er erinnerte wiederum an die Relativität der Wahrnehmungen (3) und der Ansichten (1); er zeigte, wie jeder Beweis ins Endlose treibe (2: ho eis apeiron ekballôn) und wie unrecht es sei, beim Beweisen von nur hypothetisch anzunehmenden Prämissen auszugehen (4), endlich wie vielfach auch in der Wissenschaft als Grund der Prämissen schon das vorausgesetzt werden müsse, was dadurch erst bewiesen werden sollte (5: ho diallêos – die Diallele). In letzterer Hinsicht wurde auch daran erinnert, daß bei der syllogistischen Ableitung eines partikularen Satzes aus einem generellen, dieser doch von vornherein nur unter der Bedingung, daß jener gelte, berechtigt wäre406.

Da somit das Wesen der Dinge der menschlichen Erkenntnis unzugänglich sei407, so verlangten die Skeptiker, daß der Mensch sich des Urteils möglichst enthalte (epochê). Ueber die Dinge können wir nichts sagen (aphasia), wir können nur aussprechen, daß uns dies und jenes so oder so erscheine, und damit berichten wir (so hatten schon die Kyrenaiker gelehrt: § 8, 3) eben nur über unsere eigenen augenblicklichen Zustände. Selbst die skeptische Behauptung von der Unmöglichkeit der Erkenntnis sollte (um dem Widerspruch zu entgehen, daß hier wenigstens Negatives theoretisch behauptet und begründet erschien)408, mehr als Bekenntnis denn als Erkenntnis, mehr als Meinungsenthaltung denn als Behauptung aufgefaßt werden.

4. Am schärfsten faßte sich der Angriff der Skepsis in dem Satze409 zusammen, daß den Täuschungen gegenüber, denen der Mensch bei allen seinen Vorstellungen, welchen Ursprungs auch immer, ausgesetzt ist, es kein eindeutiges, sicheres Erkennungszeichen, kein Kriterium der Wahrheit gebe. Wenn deshalb die dogmatischen Schulen, schon aus dem sokratischen Motiv, daß Tugend ohne Wissen unmöglich sei410, an der Realität der Erkenntnis festhielten, so erwuchs ihnen die Aufgabe, ein solches Kriterium anzugeben und gegen die skeptischen Einwürfe zu verteidigen. Das haben denn auch die Epikureer und Stoiker getan, obwohl ihnen ihre materialistische Metaphysik und die damit zusammenhängende sensualistische Psychologie dabei erhebliche und in letzter Instanz unüberwindliche Schwierigkeiten bereitete.

In der Tat war die psychogenetische Lehre beider Schulen diejenige, daß der Inhalt aller Vorstellungen und Erkenntnisse lediglich aus der sinnlichen Wahrnehmung stamme. Das Zustandekommen der letzteren erklärten sich die Epikureer durch die demokritische Idolentheorie (§ 10, 3); diese gab ja auch[167] den Sinnestäuschungen, Träumen u.s.w. den Charakter von Wahrnehmungen entsprechender Wirklichkeit, und auch die Gebilde der kombinierenden Phantasie ließen sich durch Vereinigungen, die schon objektiv zwischen den Bilderchen stattgefunden haben sollten, hiernach begreiflich machen. Aber auch den Stoikern galt die Wahrnehmung als ein körperlicher Vorgang, als ein Eindruck der äußeren Dinge auf die Seele (typôsis), dessen Möglichkeit bei der allgemeinen Mischung aller Körper sich von selbst zu verstehen schien. Diese grobsinnliche Auffassung drückten sie durch den seitdem oft wiederholten Vergleich aus, die Seele sei ursprünglich wie eine unbeschriebene Wachstafel, in welche die Außenwelt mit der Zeit ihre Zeichen eindrücke411 Feiner, aber unbestimmter, immer jedoch noch durchaus mechanisch klingt die Bezeichnung von Chrysippos, welcher die Wahrnehmung eine Eigenschaftsveränderung (heteroiôsis) in der Seele nannte; denn jedenfalls bleibt auch ihm die Vorstellung (phantasia) eine körperliche Wirkung des Vorgestellten (phantaston).

Lediglich durch das Beharren dieser Eindrücke oder ihrer Teile, sowie durch ihre Zusammenfügung erklärten nun beide Schulen auch das Vorkomme der Begriffe und Allgemeinvorstellungen (prolêpseis und bei den Stoikern auch koinai ennoiai). Sie bekämpften deshalb, wie namentlich schon die Kyniker, die platonisch-aristotelische Lehre von den Ideen und Formen412, insbesondere auch die Annahme einer selbständigen Tätigkeit oder Kraft der Begriffsbildung, und sie führten auch die allgemeinsten und abstraktesten Begriffe auf diesen Mechanismus der Wahrnehmungselemente (den sie übrigens kaum genauer analysierten) zurück. Zwar stellten die Stoiker den kunstlos und unwillkürlich (physikôs) zustande kommenden Allgemeinvorstellungen der Erfahrung (empeiria) die mit methodischem Bewußtsein erzeugten Begriffe der Wissenschaft gegenüber; aber dabei sollte doch auch der Inhalt der letzteren lediglich aus den Sinnesempfindungen herstammen. In diesem Zusammenhange wurde von beiden Schulen auf die Mitwirkung der Sprache in der Entstehung der Begriffe besonderes Gewicht gelegt.

Der Epikureismus hat dabei, namentlich in der späteren Zeit (Philodemos), eine eigenartige Lehre ausgebildet, die als Semeiotik benannt zu werden pflegt. Die Wörter der Sprache, mit denen das Denken operiert, sind offenbar nicht Abbilder, sondern nur Zeichen von den Vorstellungsinhalten, die sie bedeuten: anderseits aber sind schon die Vorstellungsinhalte der Wahrnehmung (nach der von Epikur aus Demokrit übernommenen Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten) nicht Abbilder der Dinge, sondern wiederum nur qualitativ bestimmte Zeichen für die an sich nur quantitativ abgestufte Wirklichkeit. Das menschliche Wissen von den Dingen läuft also auf diese teils willkürliche teils unwillkürliche Zeichengebung und auf die Kombination solcher Zeichen hinaus: in solchen Theorien berührten sich die Epikureer mit den Skeptikern.

5. Insofern nun aber der Gesamtinhalt der Eindrücke und ebenso auch die Natur des Denkens bei allen Menschen die gleichen sind, so müssen sich unter diesen Umständen vermöge des psychischen Mechanismus auch überall[168] die gleichen Allgemeinvorstellungen sowohl auf dem theoretischen als auch auf dem praktischen Gebiete bilden. Diese Konsequenz haben namentlich die Stoiker gezogen, welche ihrer ganzen Metaphysik nach auf die Gemeinsamkeit der seelischen Funktionen, die ja alle aus dem göttlichen Pneuma stammen sollten, energisch hingewiesen waren. Sie lehrten daher, daß in denjenigen Vorstellungen, welche sich mit natürlicher Notwendigkeit bei allen Menschen gleichmäßig entwickeln, die sicherste Wahrheit zu suchen sei, und sie nahmen auch für die wissenschaftlichen Beweisführungen den Ausgangspunkt gern bei diesen koinai ennoiai oder communes notiones: sie beriefen sich mit Vorliebe auf den consensus gentium, die Uebereinstimmung aller Menschen, – ein Argument, dessen Geltung freilich von den Skeptikern leicht mit dem Hinweis auf die negativen Instanzen der Erfahrung zu erschüttern war413.

Es war deshalb nicht mehr im Sinne der Stoiker, wenn in der späteren eklektischen Literatur diese Gemeinvorstellungen als eingeboren (innatae) bezeichnet wurden. Diese Wendung findet sich hauptsächlich bei Cicero; er sah in den Allgemeinvorstellungen nicht nur das, was die Natur alle gleichmäßig lehrt, sondern auch das, was sie oder die Gottheit mit der Vernunft zugleich ursprünglich jedem eingepflanzt habe. Cicero behauptet dies nicht nur für die Grundbegriffe der Sittlichkeit und des Rechts, sondern auch für den Glauben an die Gottheit und an die Unsterblichkeit der Seele: insbesondere gilt dabei die Erkenntnis Gottes nur als die Besinnung des Menschen auf seinen wahren Ursprung414, Mit dieser Lehre war die beste Brücke zwischen platonischer und stoischer Erkenntnistheorie geschlagen, und unter dem stoischen Namen der koinai ennoiai ist die rationalistische Erkenntnislehre bis in die Anfänge der neueren Philosophie hinein fortgepflanzt worden: sie hat eben dadurch den psychologistischen Nebensinn erhalten, daß Vernunfterkenntnis aus eingeborenen Begriffen bestehe.

6. Wenn nun aber ursprünglich Stoiker wie Epikureer in psychogenetischer Hinsicht allen Vorstellungsinhalt auf Sinneseindrücke zurückführten, so haben nur die Epikureer daraus die konsequente Folgerung gezogen, daß das Erkenntniszeichen der Wahrheit lediglich das Gefühl der Notwendigkeit sei, mit der sich die Wahrnehmung dem Bewußtsein aufdrängt, die unwiderstehliche Augenscheinlichkeit oder Evidenz (enargeia), mit der die Aufnahme der Außenwelt in der Funktion der Sinne verbunden ist. Jede Wahrnehmung ist als solche wahr und unwiderleglich: sie besteht, sozusagen, als selbstgewisses Atom der Vorstellungswelt zweifellos in sich selbst, unabhängig und unerschütterlich von irgend welchen Gründen415. Und wenn von denselben Gegenständen verschiedene und einander widersprechende Wahrnehmungen vorzuliegen scheinen, so ist der Irrtum nur bei der beziehenden Meinung und nicht in den Wahrnehmungen, welche eben durch ihre Verschiedenheit beweisen, daß ihnen verschiedene äußere Veranlassungen entsprechen; die Relativität ist hiernach keine Instanz gegen die Richtigkeit aller Wahrnehmungen416.

Indessen gehen nun über diesen unmittelbaren Bestand der Sinneseindrücke[169] immerfort und notwendig die Meinungen (doxai) hinaus: denn die für das Handeln erforderliche Erkenntnis bedarf auch des Wissens von demjenigen, was nicht unmittelbar wahrnehmbar ist, einerseits nämlich der Gründe der Erscheinungen (adêlon), anderseits der daraus zu erschließenden Erwartung für das Zukünftige (prosmenon). Aber auch für alle diese weiteren Funktionen des psychischen Mechanismus gibt es nach den Epikureern keine andere Gewähr als wiederum die Wahrnehmung. Denn wenn die Begriffe (prolêpseis) nur die in der Erinnerung festgehaltenen Sinneseindrücke sind, so haben sie in der Evidenz der letzteren auch ihre eigene, weder beweisbare noch angreifbare Gewißheit417: und die Hypothesen, hypolêpseis, sowohl über die unwahrnehmbaren Gründe der Dinge als auch über zukünftige Ereignisse finden ihr Kriterium lediglich in der Wahrnehmung, insofern sie von dieser bestätigt oder wenigstens nicht widerlegt werden: ersteres gilt für die Voraussagung des Zukünftigen, letzteres für die erklärenden Theorien418. Von einer selbständigen Ueberzeugungskraft des Denkens ist also bei den Epikureern keine Rede: ob unsere Erwartung irgend eines Ereignisses richtig ist, können wir nach ihnen erst wissen, wenn dies eintritt. Damit ist auf eine wirkliche Theorie der Forschung prinzipiell verzichtet.

7. Es ist hieraus ersichtlich, daß die Epikureer ihre eigene atomistische Metaphysik nur als eine durch die Tatsachen nicht widerlegte, aber auch nicht bewiesene Hypothese hätten ansehen dürfen, – eine Hypothese, deren sie sich ja auch wesentlich nur zu dem Zweck bedienten, um andere, ihnen ethisch bedenklich erscheinende Hypothesen zu verdrängen. Bei ihnen ist somit der Dogmatismus nur problematisch. und ihre Erkenntnislehre ist, soweit es sich um rationelles Wissen handelt, sehr stark skeptisch durchsetzt: insofern als sie nur dasjenige, was der Wahrnehmung als »Tatsache« gilt, anerkennen, dies aber auch für völlig gewiß ansehen, ist ihr Standpunkt als derjenige des Positivismus zu bezeichnen.

Noch konsequenter und mit Abstreifung von Epikurs ethisch-metaphysischen Neigungen ist dieser Positivismus im Altertum durch die Ansichten der jüngeren empiristischen Aerzteschulen ausgebildet worden, die zwar hinsichtlich der Erkenntnis alles Unwahrnehmbaren und hinsichtlich aller rationalen Theorien mit den Skeptikern, dagegen in der Anerkennung der sinnlichen Evidenz der Wahrnehmungen mit den Epikureern gingen. Als die Grundlage der ärztlichen Kunst wird hier die Beobachtung (têrêsis) geschildert und als das Wesen der Theorie nur die in der Erinnerung festgehaltene Beobachtung angesehen; namentlich aber werden die ätiologischen Erklärungen prinzipiell abgewiesen.

Im Zusammenhange damit steht der Umstand, daß auch die späteren Skeptiker in eingehenden Untersuchungen den Begriff der Kausalität behandelten und dessen Schwierigkeiten aufdeckten. Schon Ainesidemos hat eine[170] Reihe solcher Aporien aufgestellt419, und bei Sextus Empiricus finden wir sie noch breiter und umfangreicher entwickelt420. Zunächst werden die Mängel der ätiologischen Theorien hervorgehoben: sie fahren das Bekannte auf Unbekanntes zurück, das ebenso unerklärlich ist, sie entscheiden sich unter vielen Möglichkeiten für eine einzelne ohne zureichenden Grund, sie durchmustern nicht sorgfältig genug die Erfahrung nach etwaigen negativen Instanzen, sie erklären endlich das der Wahrnehmung Unzugängliche doch schließlich irgendwie nach einem aus der Wahrnehmung bekannten und besonders einfachen, deshalb auch scheinbar selbstverständlichen Schema. Weiterhin werden alle allgemeinen Schwierigkeiten hervorgesucht, die es verhindern, von dem ursächlichen Verhältnis eine anschauliche Vorstellung zu gewinnen. Der Prozeß der Einwirkung, der Uebergang der Bewegung von einem Dinge auf das andere, ist weder bei der Annahme, daß das Wirkende (als Kraft) immateriell sei, noch bei der entgegengesetzten begreiflich zu machen: auch die Berührung (haphê), die man (und das geschah schon von Aristoteles) als conditio sine qua non des kausalen Vorgangs annahm, läßt ihn keineswegs erklärlicher werden. Eben so ist das Zeitverhältnis von Ursache und Wirkung äußerst schwer zu bestimmen. Als die wichtigste Einsicht aber erscheint in diesen Erörterungen der Hinweis auf die Relativität des kausalen Verhältnisses: nichts ist an sich Ursache oder Wirkung, sondern jedes von beiden ist es nur mit Rücksicht auf das andere: aition und paschon sind korrelative Bezeichnungen, die nicht absolut gesetzt werden dürfen. Damit ist denn auch der (stoische) Begriff einer wesentlich wirkenden Ursache, der Begriff der schöpferischen Gottheit, ausgeschlossen.

8. In einer andern Richtung haben die Skeptiker der Akademie einen Ersatz für die auch von ihnen aufgegebene Gewißheit der rationalen Erkenntnis gesucht. Da nämlich im praktischen Leben die Enthaltung nicht durchzuführen und das Handeln unerläßlich ist, für dieses aber bestimmende Vorstellungen erforderlich sind, so führte schon Arkesilaos aus, daß die Vorstellungen, auch wenn man ihnen die volle Zustimmung versage, den Willen zu bewegen imstande seien421, und daß man im praktischen Leben sich mit einem gewissen Vertrauen (pistis) begnügen müsse, wonach einzelne Vorstellungen vor andern als wahrscheinlich (eulogon), zweckmäßig und vernünftig gelten dürfen422.

Die Theorie des Probabilismus hat sodann Karneades weiter ausgeführt423, indem er die einzelnen Grade dieses »Glaubens« nach logischen Verhältnissen näher zu bestimmen suchte. Der geringste Grad der Wahrscheinlichkeit (pithanotês) ist derjenige, welcher (als eine undeutliche und unvollkommene Form der sinnlichen Evidenz – energeia) der einzelnen, nicht in weiteren Zusammenhängen stehenden Vorstellung zukommt. Ein höherer Grad der Wahrscheinlichkeit gebührt derjenigen Vorstellung, welche mit andern, in deren Zusammenhang sie gehört, widerspruchslos vereinbar ist (aperispastos); die höchste Stufe endlich des Glaubens wird da erreicht, wo ein ganzes System derartig zusammenhängender Vorstellungen auf seine durchgängige Uebereinstimmung und erfahrungsmäßige Bestätigung geprüft (periôdeumenê) ist. Das[171] empirische Vertrauen steigt also von dem sinnlich Vereinzelten zu den logischen Zusammenhängen wissenschaftlicher Forschung. Aber wenn es auch in der letzteren Form zum praktischen Leben völlig ausreichen mag (wie dies Karneades annahm), so ist es doch nicht imstande, zu einer völlig sicheren Ueberzeugung zu führen.

9. Demgegenüber haben nun die Stoiker die äußersten Anstrengungen gemacht, um für ihre Metaphysik, der sie aus ethischem Interesse so hohen Wert beilegten, einen erkenntnistheoretischen Unterbau zu gewinnen und trotz des psychogenetischen Sensualismus den rationalen Charakter der Wissenschaft zu retten424. Schon ihre Lehre von der Weltvernunft verlangte nach dem Grundsatz, daß Gleiches durch Gleiches erkannt wird, eine Erkenntnis des äußeren Logos durch den inneren Logos des Menschen, durch seine Vernunft425, und der ethische Antagonismus (bezw. Dualismus) zwischen der Tugend und den sinnlichen Trieben erforderte eine parallele Unterscheidung zwischen der Erkenntnis und der sinnlichen Vorstellung. Wenn deshalb auch aus der letzteren das ganze Material des Wissens erwachsen sollte, so wiesen die Stoiker anderseits darauf hin, daß in der Wahrnehmung als solcher allein überhaupt keine Erkenntnis enthalten, daß sie weder als wahr noch als falsch zu bezeichnen sei. Wahrheit und Falschheit sind vielmehr erst Prädikate der Urteile (axiômata), in denen über die Beziehung der Vorstellungen etwas ausgesagt (bezw. verneint) wird426.

Das Urteil fassen jedoch die Stoiker – und hierin nehmen sie eine neue und bedeutungsvolle Stellung ein, der im Altertum nur noch die Skeptiker einigermaßen nahe kommen – durchaus nicht nur als den theoretischen Vorgang der Vorstellung und Vorstellungsverbindung auf, sondern sie erkannten darin als wesentlichstes Merkmal den eigentümlichen Akt der Zustimmung (synkatathesis), des Billigens und Ueberzeugtseins, womit der Geist den Vorstellungsinhalt zu dem seinigen macht, ergreift und ihn gewisser maßen in seinen Besitz nimmt (katalambanein). Diesen Akt des Erfassens sehen die Stoiker in derselben Weise als eine selbständige Funktion des Bewußtseins (hêgemonikon) an, wie die im Affekt auftretende Zustimmung zu den Trieben. Die Entstehung der Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen ist wie diejenige der Gefühlserregungen ein naturnotwendiger, von der menschlichen Willkür völlig unabhängiger Prozeß (akousion); aber die Zustimmung, wodurch wir die einen zu Urteilen und die andern zu Affekten machen, ist eine von der Außenwelt freie (hekousion) Entscheidung (krisis) des Bewußtseins427.

Diese Zustimmung tritt nun aber bei dem Weisen, vermöge der Identität des individuellen mit dem allgemeinen Logos, nur für diejenigen Vorstellungen ein, welche wahr sind: indem also die Seele diesen Vorstellungsinhalt ergreift, so ergreift sie damit zugleich die Wirklichkeit. Eine solche Vorstellung nannten die Stoiker phantasia katalêptikê428, und sie waren der Ueberzeugung, daß eine[172] solche die Zustimmung des vernünftigen Menschen in unmittelbarer Evidenz hervorrufen müsse. Daher wird zwar die Zustimmung selbst als eine Tätigkeit der denkenden Seele aufgefaßt, aber als ihre Objekte erscheinen ebenso die einzelnen Wahrnehmungen wie die darauf fußenden Verstandestätigkeiten des Begriffs, Urteils und Schlusses.

Verstanden somit die Stoiker unter der phantasia katalêptikê diejenige Vorstellung, durch welche der Geist die Wirklichkeit erfaßt, und die ihm deshalb so einleuchtet, daß er sie zustimmend zu der seinigen macht, so war das wohl der richtige Ausdruck für die Anforderung, welche sie an die wahre Vorstellung stellten429, aber diese Definition eignete sich durchaus nicht für den Zweck, aus dem sie gebildet wurde, für ein Erkennungszeichen der Wahrheit. Denn das subjektive Merkmal darin, die Zustimmung, ließ sich ja, wie die Skeptiker430 sehr richtig einwandten, als psychologisches Faktum auch bei einer Fülle von offenbar falschen Vorstellungen tatsächlich nachweisen.

So zeigt sich der anthropologische Zwiespalt der stoischen Lehre auch in diesem Zentralbegriff ihrer Erkenntnislehre. Wie es nach ihrer Metaphysik nicht zu erklären war, daß die aus der Weltvernunft stammende Einzelseele unter die Herrschaft der Sinnentriebe gerät, so ist es ebensowenig zu begreifen, daß die theoretische Zustimmung unter Umständen auch den falschen Vorstellungen zufällt. Beide Schwierigkeiten aber haben schließlich ihren gemeinsamen Grund. Mit Heraklit identifizierten die Stoiker in ihrer Metaphysik, trotz der scharfen Sonderung, welche die Begriffe inzwischen durch die attische Philosophie erfahren hatten, die normative und die tatsächliche Ordnung der Dinge. Die Vernunft galt ihnen ebenso als das was sein soll, wie als das was ist: sie war zugleich nomos und physis. Und dieser Gegensatz, dessen beide Seiten in ihrer Freiheitslehre und ihrer Theodicee hart auf einander stießen, war das Problem der Zukunft.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 163-173.
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