§ 18. Autorität und Offenbarung.

[181] Die unerschütterliche Selbstgewißheit und Selbstherrlichkeit, welche die nacharistotelische Philosophie für den Weisen gesucht und zum Teil behauptet hatte, war mit der Zeit so tief erschüttert worden, daß sie einer theoretischen und ethischen Hilfsbedürftigkeit gewichen war. Das philosophierende Individuum traute sich nicht mehr zu, aus eigener Kraft zu rechter Einsicht oder[181] zum Seelenheil zu gelangen, und es suchte somit eine Hilfe teils bei den großen Erscheinungen der Vergangenheit, teils bei einer göttlichen Offenbarung. Beide Wendungen aber fußen schließlich auf demselben Grunde: denn das Vertrauen, welches den Männern und Schriften der Vorzeit entgegengebracht wurde, beruhte doch nur darauf, daß in ihnen besonders begnadete Gefäße der höheren Offenbarung gesehen wurden. Die Autorität gewann also ihren Wert als die mittelbare, historisch bewährte Offenbarung, während die göttliche Erleuchtung des einzelnen als unmittelbare Offenbarung ihr an die Seite trat. So verschieden auch das Verhältnis zwischen diesen beiden Formen aufgefaßt wurde, so ist doch das gemeinsame Kennzeichen aller alexandrinischen Philosophie, daß sie die göttliche Offenbarung als höchste Erkenntnisquelle betrachtet. Schon in dieser erkenntnistheoretischen Neuerung aber spricht sich der gesteigerte Wert aus, den diese Zeit auf die Persönlichkeit und ihre gefühlsmäßige Betätigung legte. Die Wahrheit wollte für die Sehnsucht dieser Zeit erlebt sein als eine innige Gemeinschaft des Menschen mit dem höchsten Wesen.

1. Die Berufung auf die Autorität erscheint in der griechischen und hellenistischen Philosophie zwar vielfach im Sinne der Bestätigung und Bekräftigung eigener Ansichten, aber nicht als entscheidendes und ausschlaggebendes Argument: zwar mochte bei den untergeordneten Mitgliedern der Schulen das jurare in verba magistri üblich genug sein434; aber die Schulhäupter und die selbständig forschenden Männer überhaupt verhielten sich zu den Lehren der Vorzeit weit mehr kritisch als mit unbedingter Unterwerfung435. Und wenn auch in den Schulen, zumal der akademischen und der peripatetischen, durch die Gewohnheit des Kommentierens die Neigung gefördert worden war, die Lehre des Stifters als einen unantastbaren Schatz zu bewahren und zu behaupten, so war doch bei allem Streit um die Kriterien der Wahrheit nicht das Prinzip aufgestellt worden, daß etwas darum geglaubt werden müsse, weil es dieser oder jener große Mann gesagt habe.

Wie stark aber in der späteren Zeit das Autoritätsbedürfnis angewachsen war, erkennt man schon aus den zahllosen Unterschiebungen, welche in der gesamten alexandrinischen Literatur an der Tagesordnung waren. Ihre Urheber oder Verbreiter, die vielleicht größtenteils bona fide handelten, indem sie selbst ihre Gedanken nur für Ausbildungen und Fortsetzungen der alten Lehren ansahen, glaubten offenbar ihren Werken nicht besser Eingang verschaffen zu können, als indem sie ihnen den Namen eines der Heroen der Weisheit, eines Aristoteles, Platon, Pythagoras beilegten. In ausgedehntestem Maße tritt diese Erscheinung bei den Neupythagoreern auf, denen es vor allem darum zu tun war, ihre neue Lehre mit dem Nimbus uralter Weisheit zu bekleiden. Je mehr aber die auf diese Weise zu begründenden Ueberzeugungen einen religiösen Charakter trugen, um so lebhafter wurde das Bedürfnis, diese Autoritäten selbst als Träger einer religiösen Offenbarung aufzufassen, und deshalb wurden in ihnen alle die Züge aufgesucht oder auch wohl solche in sie hineingelegt, welche[182] sie dazu stempeln konnten. Nicht zufrieden aber damit, glaubten die späteren Griechen ihrer Philosophie (wie ihrer gesamten Kultur) dadurch eine höhere Weihe zu geben, daß sie alles Wertvolle und Ehrwürdige darin aus den orientalischen Religionen herleiteten: so nahm Numenios436 keinen Anstand zu behaupten, Pythagoras und Platon hätten nur die alte Weisheit der Brahmanen, Magier, Aegypter und Juden vorgetragen. Damit wuchs denn die Ausdehnung der literarischen Autoritäten außerordentlich: die späteren Neuplatoniker, ein Jamblichos und Proklos, kommentierten nicht nur griechische Philosophen, sondern auch die gesamte hellenische und barbarische Theologie437 und nahmen ihre Mythen und Wunderberichte gläubig auf.

In ganz ähnlicher Weise bezeugte nun aber auch die orientalische Literatur dem Hellenismus ihre Hochachtung. Unter den Vorgängern Philons hat namentlich Aristobulos sich auf Verse, welche dem Orpheus und Linos, dem Homer und Hesiod untergeschoben wurden, berufen, und bei Philon selbst, dem großen Jüdischen Theologen, erscheinen neben dem alten Testament die Größen der griechischen Philosophie als Träger der Weisheit.

Am stärksten natürlich macht sich das Autoritätsbedürfnis in dem unbedingten Glauben an die religiösen Urkunden geltend. Hier war von vornherein das alte Testament die feste Grundlage für die Wissenschaft des Judentums und ebenso für die des (orthodoxen) Christentums. In der christlichen Kirche aber hat sich das Bedürfnis nach der Feststellung einer Sammlung von Schriften, in denen die Glaubenslehre sicher bestimmt wäre, zuerst bei Marcion entfaltet und hat dann erst allmählich sich in der Abschließung des neuen Testamentes erfüllt: schon bei Irenaeus und Tertullian erscheinen beide Testamente mit der vollen Geltung kirchlicher Autorität.

2. Wenn nun auf diese Weise auch das wissenschaftliche Denken, das infolge der skeptischen Zersetzung sich selbst nicht mehr die Kraft der Wahrheit zutraute, sich freiwillig den Autoritäten des Alters und der religiösen Satzung unterwarf, so ist es doch dadurch keineswegs in dem Maße gebunden worden, wie man voraussetzen sollte: vielmehr hat sich dies Verhältnis auf allen Linien in der Weise gestaltet, daß die wissenschaftlichen Lehren, die aus den neuen religiösen Bewegungen entsprangen, aus den autoritativen Quellen herausgedeutet und in dieselben hineingedeutet wurden438. Wo man dabei nicht ausdrücklich zu jenen Unterschiebungen griff, die sich ebenso wie im Neupythagoreismus mehr oder minder in der ganzen Literatur jener Zeit finden, da bediente man sich des methodischen Mittels der allegorischen Schriftauslegung.

Zuerst begegnet uns diese in der jüdischen Theologie. Ihr Vorbild hat sie freilich in der allegorischen Mythendeutung, welche früh in der griechischen Literatur hervorgetreten, von den Sophisten gehandhabt und von den Stoikern in großem Umfang betrieben worden war. Auf die religiösen Urkunden wendete sie, falls dessen Fragmente echt sind, schon Aristobulos, mit methodischer Durchführung aber Philon439 an, der von der Ueberzeugung ausging, es müsse[183] in der Schrift zwischen der buchstäblichen und der geistigen Bedeutung, zwischen ihrem Leibe und ihrer Seele unterschieden werden. Gott habe, um der großen Masse der Menschen, die in ihrer Sinnlichkeit das Göttliche nicht rein zu fassen vermöchten, doch seine Gebote zu lehren, der Offenbarung die anthropomorphe Form gegeben, hinter die nun der geistig reifere Mensch zu dem wahren Sinne dringen solle. Dieser aber ist in den philosophischen Begriffen zu suchen, welche in den historischen Hüllen verborgen liegen. Danach ist seit Philon die Aufgabe der Theologie darauf gerichtet, die religiösen Urkunden in ein System wissenschaftlicher Lehren umzudeuten: und wenn er dazu die griechische Philosophie benutzt, in ihr also den höheren Sinn der Schrift wiederfindet, so erklärt er sich dies Verhältnis so, daß auch die Denker des Griechentums aus der mosaischen Urkunde geschöpft haben sollen440.

Nach seinem Vorgange haben dann die Gnostiker orientalische Mythen durch allegorische Ausdeutung in griechische Begriffe umzusetzen gesucht und damit eine Geheimlehre der apostolischen Tradition zu entwickeln gemeint. Ebenso stand den Apologeten die Einhelligkeit der Christenlehre mit den Dogmen der griechischen Philosophie grundsätzlich fest; selbst Männer wie Irenaeus und Tertullian bearbeiteten in diesem Sinne das neue Testament, und endlich hat Origenes die Theologie, d.h. die Philosophie des Christentums mit dessen religiösen Urkunden nach diesem Prinzip in Einklang zu bringen gewußt. Wie schon die Gnostiker, die zuerst eine christliche Theologie zu schaffen suchten, so unterschied auch der große alexandrinische Theologe – im Zusammenhange der metaphysisch-anthropologischen Vorstellungen der Zeit, vgl. § 19 f. – zwischen der leiblichen (somatischen), seelischen (psychischen) und geistigen (pneumatischen) Auffassung der religiösen Urkunden: und die Aufgabe der Theologie ist auch bei ihm, aus der buchstäblich-historischen Leberlieferung, welche für sich nur ein fleischliches Christentum (christianiomos sômatikos) ergibt, durch die moralische Deutung hindurch, bei der die Psychiker stehen bleiben, zu dem ideellen Gehalt der Schrift zu führen, welcher dann als die selbstverständliche philosophische Wahrheit einleuchten muß. Erst wer diese erfaßt, gehört zu den Pneumatikern, denen aus der Umhüllung das ewige Evangelium sich offenbart.

Dieselbe Herausdeutung des philosophischen Sinnes aus der religiösen Ueberlieferung findet sich dann in weitestem Umfange bei den Neuplatonikern. Jamblichos übt sie nach stoischem Muster an allen Formen orientalischer und occidentalischer Mythologie, und auch Proklos erklärt, die Mythen verhüllen die Wahrheit vor den Sinnenmenschen, die ihrer nicht würdig sind441.

3. In allen solchen Lehren überwiegt nun aber doch schließlich noch immer das Interesse der Wissenschaft (in den christlichen Lehren gnôsis) über dasjenige des Glaubens: sie sind Accommodationen der Philosophie an das religiöse Autoritätsbedürfnis der Zeit. Als Grundvoraussetzung aber gilt deshalb die wesentliche Identität der Autorität und der Vernunfterkenntnis; sie gilt in solchem Maße, daß eben da, wo sie bedroht erscheint, alle Kunststücke der allegorischen Auslegung versucht werden, um sie zu retten. Dies[184] Vertrauen jedoch, womit die Wissenschaft daran ging, ihren eigenen Inhalt als denjenigen der religiösen Urkunde zu entwickeln, beruhte im letzten Grunde auf der Ueberzeugung, daß beide, die historische Autorität und die wissenschaftliche Lehre, nur verschiedenartige Offenbarungen derselben göttlichen Macht seien.

Zwar ist die psychologische Wurzel des Autoritätsglaubens in dieser Zeit neben der Heils- und Hilfsbedürftigkeit die gesteigerte Bedeutung der Persönlichkeit. Sie zeigt sich in dem lebhaften Ausdrucke der Bewunderung für die Größen der Vergangenheit, wie wir ihn bei Philon und in allen Richtungen des Platonismus finden, und nicht minder in dem unbedingten Vertrauen der Jünger zu ihren Meistern, welches namentlich im späteren Neuplatonismus zu übertriebenster Verehrung der Schulhäupter ausartete442. Dasselbe Motiv erscheint in großartigster Weise als eine weltgeschichtliche Macht in dem ungeheuren, überwältigenden Eindrucke der Persönlichkeit Jesu: der Glaube an ihn ist das einigende Band gewesen, welches die bunte Mannigfaltigkeit der Richtungen des jungen Christentums siegreich zusammenhielt.

Allein für die Theorie rechtfertigte sich nun dies psychologische Motiv gerade damit, daß die bewunderte Persönlichkeit in Lehre und Leben als Offenbarung der göttlichen Weltvernunft aufgefaßt wurde. Die metaphysischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen dafür waren im Platonismus und namentlich im Stoizismus gegeben. Anlehnung an die platonische Lehre von der Erkenntnis als Erinnerung, mit der (schon bei Cicero ausgesprochenen) Wendung, daß das rechte Wissen von Gott der Seele eingepflanzt, ihr eingeboren sei, und Ausführung der stoischen Logoslehre und der in ihr enthaltenen Vorstellung, daß der vernünftige Seelenteil ein wesensgleicher Ausfluß aus der göttlichen Weltvernunft sei, – alles dies führte dazu, jede Form richtiger Erkenntnis als eine Art von göttlicher Offenbarung im Menschen zu betrachten443: alles Wissen ist, wie Numenios sagte444, die Anzündung des kleinen Lichts an dem großen, das die Welt erleuchtet.

Von dieser Lehre aus begriff namentlich Justinus die von ihm behauptete Verwandtschaft der alten Philosophie mit dem Christentum und zugleich die Ueberlegenheit des letzteren. Gott hat sich zwar wie nach außen durch die Vollkommenheit seiner Schöpfung, so innerlich durch die vernünftige Anlage445 (sperma logou emphyton) des nach seinem Ebenbilde geschaffenen Menschen offenbart; aber die Entwicklung dieser allgemeinen, mehr potentiellen Offenbarung wird durch die bösen Dämonen und die Sinnentriebe des Menschen gehemmt. Deshalb hat Gott zur Hilfe des Menschen sich der besonderen Offenbarung bedient, welche nicht nur in Moses und den Propheten, sondern auch in den Männern der griechischen Wissenschaft446 zu Tage getreten ist. Justin nennt jene über das ganze Menschengeschlecht verbreitete Offenbarung den logos spermatikos. Allein, was so zerstreut und vielfach verdunkelt in der[185] Vorzeit erschienen, das ist noch nicht die volle Wahrheit: der ganze reine Logos ist in Christus, dem Sohne Gottes und dem zweiten Gotte, offenbart worden447.

In dieser Lehre waltet bei den Apologeten einerseits das Bestreben ob, das Christentum als die wahre und höchste Philosophie darzustellen und zu zeigen, daß es alle Lehren in sich vereinige448, die in der früheren Philosophie von bleibendem Werte erfunden werden können. Christus wird der Lehrer (didaskalos) genannt, und dieser Lehrer ist die Vernunft selbst. Wurde dadurch das Christentum der rationalen Philosophie so nahe wie möglich gerückt und das Erkenntnisprinzip der Philosophie wesentlich mit dem der Religion gleichgestellt, so hatte das doch auch gleichzeitig zur Folge, daß die Auffassung des religiösen Inhalts selbst bei Justin und ähnlichen Apologeten, wie Minucius Felix, stark rationalistisch wurde: die spezifisch religiösen Momente erscheinen mehr zurückgedrängt, und das Christentum nimmt den Charakter eines moralisierenden Deismus an, in welchem es die größte Aehnlichkeit mit dem religiösen Stoizismus gewinnt449.

Anderseits spricht sich doch auch in diesem Verhältnis das Selbstbewußtsein des Christentums aus, das mit seiner vollkommenen Offenbarung alle ihre andern Arten, die allgemeinen so gut wie die besonderen, überflüssig werden sah: und an diesem Punkte wurde die Apologetik, wie sich namentlich bei Athenagoras zeigt, von selbst polemisch. Die Offenbarung gilt auch hier noch als das wahrhaft Vernünftige; aber eben deshalb soll das Vernünftige nicht demonstriert, sondern nur geglaubt werden. Die Philosophen haben, weil sie Gott nicht von Gott selbst lernen wollten oder konnten, die volle Wahrheit nicht gefunden.

4. So bereitet sich in der Apologetik doch allmählich, obwohl in ihr gerade das Vernünftige als supra natural, als übernatürlich offenbart gilt, ein Gegensatz zwischen Offenbarung und Vernunfterkenntnis vor. Je mehr sich die Gnostiker in der Ausbildung ihrer theologischen Metaphysik von dem einfachen Inhalt des Christenglaubens entfernten, um so mehr warnte Irenaeus450 vor den Spekulationen weltlicher Weisheit, um so heftiger verwarf Tatian mit orientalischer Griechenverachtung alles Blendwerk der hellenischen Philosophie, welche in sich selbst ewig uneins sei und von deren Lehrern Jeder nur seine eigenen Meinungen zum Gesetz erheben wolle, während die Christen sich der göttlichen Offenbarung gleichmäßig unterwerfen.

Noch schärfer spitzt sich dieser Gegensatz bei Tertullian und Arnobius zu. Der erstere hat sich, wie teilweise schon Tatian, in metaphysischer Hinsicht den stoischen Materialismus zu eigen gemacht, daraus aber nur die Konsequenz einer rein sensualistischen Erkenntnistheorie gezogen. Diese hat Arnobius in interessanter Weise ausgeführt, indem er zur Bekämpfung der platonischen und der platonisierenden Erkenntnistheorie zeigte, daß ein von der Geburt an völlig der Einsamkeit überlassener Mensch geistig leer bleiben[186] und höhere Erkenntnis nicht gewinnen würde451. Ihrer Natur nach lediglich auf die Eindrücke der Sinne beschränkt, ist deshalb die menschliche Seele für sich allein durchaus unfähig, die Erkenntnis der Gottheit und ihrer eignen, über dies Leben hinausgehenden Bestimmung zu gewinnen. Eben deshalb bedarf sie der Offenbarung und findet ihr Heil nur in dem Glauben an diese. So erweist sich hier zum ersten Male der Sensualismus als Grundlage für den supranaturalistischen Orthodoxismus: je niederer und sinnlich beschränkter die natürliche Erkenntniskraft des Menschen, um so notwendiger erscheint die Offenbarung.

Danach ist nun bei Tertullian der Inhalt der Offenbarung nicht nur übervernünftig, sondern in gewissem Sinne auch widervernünftig, insofern unter Vernunft die natürliche Erkenntnistätigkeit des Menschen verstanden werden soll. Das Evangelium ist nicht nur unbegreiflich, sondern es ist auch im notwendigen Widerspruch mit der weltlichen Einsicht: credibile est, quia ineptum est; certum est, quia impossibile est – credo quia absurdum. Daher hat nach ihm das Christentum mit der Philosophie, Jerusalem mit Athen452 nichts zu schaffen: die Philosophie als natürliche Erkenntnis ist Unglaube; darum gibt es keine christliche Philosophie.

5. Zu einer solchen Abgrenzung der Offenbarung gegen die natürliche Erkenntnis fanden sich aber auch Veranlassungen genug für die rationalistische Ansicht. Denn durch jene Identifikation drohte das Kriterium der Wahrheit verloren zu gehen: die Menge dessen, was in dieser religiös so aufgeregten Zeit sich als Offenbarung gab, machte eine Entscheidung über die rechte Offenbarung unerläßlich, und das Kriterium dafür konnte wiederum nicht in der Vernunfterkenntnis des einzelnen gesucht werden, weil damit das Offenbarungsprinzip verletzt gewesen wäre. Diese Schwierigkeit machte sich gerade auch in der hellenistischen Richtung sehr bemerklich. Plutarch z. B., der alle Erkenntnis für Offenbarung ansieht, will zwar, der stoischen Einteilung in die drei Arten der Theologie, der Dichter, der Gesetzgeber und der Philosophen, folgend, die höchste Entscheidung über religiöse Wahrheit der Wissenschaft zuerkennen453 und erklärt sich lebhaft454 gegen den Aberglauben (deisidaimonia); aber er selbst zeigt sich doch schließlich in seinen Schriften bei der Aufnahme von allerlei Weissagungs- und Wunderberichten so naiv und leichtgläubig wie seine ganze Zeit: und die unglaubliche Kritiklosigkeit, mit der in dieser Hinsicht die späteren Neuplatoniker, ein Jamblichos und Proklos, verfuhren, erweist sich als das folgerichtige Ergebnis des Verzichts auf die eigene Einsicht, welchen das Offenbarungsbedürfnis von vornherein mit sich brachte.

Hier hat nun die Entwicklung der sich organisierenden Kirche mit dem Prinzip der Tradition und der historisch beglaubigten Autorität eingesetzt. Sie betrachtet die religiösen Urkunden des alten und des neuen Testaments[187] als durchgängig, aber auch allein inspiriert; sie nimmt an, daß ihre Verfasser sich bei der Aufzeichnung dieser höchsten Wahrheit stets in dem Zustande reiner Rezeptivität dem göttlichen Geiste gegenüber befunden haben455, und sie findet die Bewährung dieses göttlichen Ursprunges nicht in der Uebereinstimmung mit der menschlichen Vernunfterkenntnis, sondern wesentlich in der Erfüllung der Weissagungen, die darin enthalten sind, und in dem zweckvollen Zusammenhang ihrer zeitlichen Reihenfolge.

Der für die weitere Entwicklung der Theologie so außerordentlich wichtig gewordene Weissagungsbeweis ist somit aus dem Bedürfnis entsprungen, ein Kriterium für die Unterscheidung der wahren und der falschen Offenbarung zu gewinnen. Da dem Menschen das Wissen der Zukunft durch natürliche Erkenntnis versagt ist, so gelten die Voraussagen der Propheten, welche sich erfüllen, als Kennzeichen der Inspiration, vermöge deren sie ihre Lehren aufgestellt haben.

Diesem Argument tritt nun aber ein zweites hinzu. Altes und neues Testament stehen nach der Lehre der Kirche, welche in dieser Hinsicht hauptsächlich durch Irenäus456 vertreten ist, in dem Zusammenhange, daß derselbe Eine Gott sich den Menschen im Laufe der Zeit je nach dem Grade ihrer Empfänglichkeit in immer höherer und reinerer Weise offenbart hat: dem ganzen Geschlecht in dessen vernünftiger, freilich zu mißbrauchender Veranlagung, dem Volke Israel in dem strengen Gesetz Mosis, der ganzen Menschheit wiederum in dem Gesetz der Liebe und der Freiheit, das Jesus verkündigt hat457. In dieser zusammenhängenden Reihe der Propheten entwickelt sich damit der göttliche Erziehungsplan, wonach die Offenbarungen des alten Testaments als Vorbereitungen für das sie bestätigende neue Testament zu betrachten sind. Auch hier gilt in der patristischen Literatur die Erfüllung der Weissagungen als das Bindeglied zwischen den verschiedenen Phasen der Offenbarung.

Das sind die schon bei Paulus anklingenden gedanklichen Formen, in denen sich für die christliche Kirche die göttliche Offenbarung als historische Autorität fixiert hat. Die psychologische Grundmacht aber, die dabei tätig war, blieb doch immer die gläubige Hingabe an die Person Jesu, welche als Inbegriff der göttlichen Offenbarung den Mittelpunkt des christlichen Lebens bildete.

6. Eine ganz andere Richtung hat die Entwicklung der Offenbarungslehre in der hellenistischen Philosophie eingeschlagen. Hier fehlte der wissenschaftlichen Bewegung der lebendige Zusammenhang mit der Gemeinde und damit der Halt einer historischen Autorität: hier mußte deshalb die Offenbarung, die als Ergänzung für die natürliche Erkenntniskraft gefordert wurde, in einer unmittelbaren Erleuchtung des Individuums durch die Gottheit gesucht werden. Deshalb gilt hier die Offenbarung als ein übervernünftiges Erfassen der göttlichen Wahrheit, welches dem einzelnen Menschen in unmittelbarer Berührung (haphê) mit der Gottheit selbst zuteil wird: und wenn auch zugestanden werden muß, daß es nur wenige sind, die dazu[188] gelangen, und auch diese nur in seltenen Augenblicken, so wird doch eine bestimmte, historisch autoritative Sonderoffenbarung, die für alle maßgebend wäre, hier abgelehnt. Diese Auffassung der Offenbarung ist später die mystische genannt worden, und insofern ist der Neuplatonismus die Quelle aller späteren Mystik458.

Die Ursprünge dieser Auffassung aber sind wiederum bei Philon zu suchen. Denn er schon lehrte, daß alle Tugend des Menschen nur durch die Wirkung des göttlichen Logos in uns entstehen und beharren könne, und daß die Erkenntnis Gottes nur in der Selbstentäußerung, in dem Aufgeben der Individualität und in dem Aufgehen in das göttliche Urwesen selbst bestehe459. Die Erkenntnis des Höchsten ist Lebenseinheit mit ihm, unmittelbare Berührung. Der Geist, der Gott schauen will, muß selbst Gott werden460. In diesem Zustande verhält sich die Seele nur leidend und empfangend461, sie hat sich aller Selbsttätigkeit, alles eigenen Denkens und aller Besinnung auf sich selbst zu entäußern. Auch der nous, die Vernunft, muß schweigen, damit die Seligkeit der Gottesanschauung über den Menschen kommen kann: bei diesem Zustand der Ekstase (ekstasis) wohnt nach Philon der göttliche Geist im Menschen. Daher ist dieser in solchem Zustand ein Prophet göttlicher Weisheit, ein Weissager und Wundertäter. Wie schon die Stoa auf die Wesensgleichheit menschlichen und göttlichen Pneumas die mantischen Künste zurückgeführt hatte, so begreifen auch die Alexandriner diese »Vergottung« des Menschen aus seiner Wesensvereinigung mit dem Weltgrunde. Hinter diesem Zustande der Ekstase, lehrt Plotin, liegt alles Denken; denn Denken ist Bewegung, ist Erkennenwollen; die Ekstase aber ist Gewißheit Gottes, selige Ruhe in ihm462: an der göttlichen theôria (Aristoteles) hat der Mensch nur Anteil, wenn er sich selbst ganz zur Gottheit erhoben hat. Die Ekstase ist also ein Zustand der Seele, welcher, wie der Gegenstand, auf den sie dabei gerichtet ist (vgl. § 20), über alle einzelne Bestimmtheit, deshalb auch über das Selbstbewußtsein des Individuums hinausliegt: es ist ein selbstbewußtloses Versenken in das göttliche Wesen, ein Besitz der Gottheit, eine Lebenseinheit mit ihr, die aller Beschreibung, aller Anschauung und aller begrifflichen Gestaltung spottet463.

Dieser Zustand ist auf alle Fälle eine Gabe der Gottheit, ein Geschenk des Unendlichen, welches das Endliche in sich aufnimmt. Aber der Mensch hat mit seinem freien Willen sich dieser Vergottung würdig zu machen. Er soll alles sinnliche Wesen und allen Eigenwillen von sich abtun, er soll aus der Fülle der Einzelbeziehungen heraus zu seinem lauteren einfachen Wesen zurückkehren (haplôsis)464: die Wege dazu sind nach Proklos Liebe, Wahrheit und Glaube; aber erst in dem letzteren, der über alle Vernunft hinausgeht, findet die Seele ihr völliges Einswerden mit Gott und den Frieden seliger Verzückung465. Als wirksamste Unterstützung in der Vorbereitung auf diese göttliche Gnadenwirkung wird dann von Jamblichos und seiner Schule das Gebet466 und[189] alle Handlungen467 des religiösen Kultus empfohlen; und wenn diese nicht immer zu den höchsten Offenbarungen der Gottheit leiten, so gewähren sie, wie schon Apuleius meinte468, doch wenigstens die tröstenden und helfenden Offenbarungen der niederen Götter und Dämonen, der Heiligen und Schutzgeister. So erscheinen denn auch im späteren Neuplatonismus die Verzückungen der Weissagung, welche die Stoiker gelehrt hatten, als niedere und vorbereitende Formen für Jene höchste Ekstase der Vergottung. Denn in letzter Instanz sind dem Neuplatoniker alle Kultusformen nur symbolische Handhaben für jene unmittelbare Einigung des Individuums mit Gott.

So tritt in Christentum und Neuplatonismus die Inspirationstheorie zu zwei ganz verschiedenen Formen auseinander: dort ist die göttliche Offenbarung als historische Autorität fixiert, hier gilt sie als die von aller äußeren Vermittlung befreite Versenkung des Einzelmenschen in den göttlichen Urgrund. Dort ist für das Mittelalter die Quelle der Scholastik, hier entspringt diejenige der Mystik.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 181-190.
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