§ 24. Der Dualismus von Leib und Seele.

[251] Aus diesen Gründen ist es erklärlich, daß wir im zwölften (und teilweise schon im elften) Jahrhundert das Gefühl von der Unfruchtbarkeit der Dialektik ebenso verbreitet finden wie den fieberhaften Trieb, durch sie zur wahren Erkenntnis zu gelangen. Es geht durch diese Zeit neben dem heißen Wissensdrange ein Zug der Enttäuschung: unbefriedigt von den Spitzfindigkeiten der[251] Dialektik, welche sich selbst in Männern wie Anselm – anheischig gemacht hatte, die letzten Geheimnisse des Glaubens rational zu ergründen, stürzten sich die einen aus der unfruchtbaren Theorie in das praktische Leben, »in das Rauschen der Zeit, ins Rollen der Begebenheit«, andere in mystisch-übervernünftiges Schwelgen, andere endlich in emsige Arbeit empirischer Forschung. Alle Gegensätze, in welche vorwiegend logische Verstandestätigkeit treten kann, entwickeln sich neben der Dialektik und stehen gegen sie in mehr oder minder fest geschlossenem Bündnis: Praxis, Mystik und Empirie.

Hieraus ergab sich zunächst ein eigentümlich verschieftes Verhältnis zu der wissenschaftlichen Tradition. Aristoteles, den man nur als den Vater der formalen Logik und als den Meister der Dialektik kannte, verdankte es dieser Unkenntnis, daß er als der Heros rein verstandesmäßiger Weltbetrachtung galt und als solcher dem Glauben und der Kirche verdächtig war: Platon dagegen kannte man teils als den Schöpfer der (unwissentlich nach neuplatonischem Vorgange verfälschten) Ideenlehre, teils vermöge der Erhaltung des Timaeus als den Begründer einer Naturphilosophie, deren teleologischer Grundcharakter bei dem religiösen Denken die lebhafteste Zustimmung fand. Wenn daher Gerbert als Gegengewicht gegen den Uebermut der Dialektik, in der er sich selbst anfangs wenig glücklich versucht hatte, das Studium der Natur empfahl, das seinem eigenen, auf lebenskräftige Weltbetätigung gerichteten Wesen entsprach, so konnte er auf Beifall für dieses Bestreben nur bei den Männern rechnen, welche gleich ihm auf eine Verbreiterung der sachlichen Kenntnisse und zu diesem Behufe auf eine Aneignung der antiken Forschungen ausgingen. So erscheint hier zuerst im Gegensatze zur (aristotelischen) Dialektik der Rückgriff auf das Altertum als Quelle sachlicher Einsichten, – eine erste, schwache Renaissance, welche, halb humanistisch halb naturalistisch, einen lebendigen Inhalt der Erkenntnis gewinnen will.573 Gerberts Schüler Fulbert eröffnete die Schule von Chartres, die in der Folgezeit d er Sitz des mit dem Naturstudium verschwisterten Platonismus wurde: hier wirkten die Brüder Theodorich und Bernhard von Chartres, von hier empfing Wilhelm von Conches seine Richtung. In ihren Schriften mischt sich überall die kräftige Anregung des klassischen Altertums mit dem Interesse lebendiger Naturerkenntnis. So erfahren wir eine der eigentümlichsten Verschiebungen der Literaturgeschichte. Platon und Aristoteles haben ihre Rollen vertauscht: dieser erscheint als das Ideal einer abstrakten Begriffswissenschaft, jener als der Ausgangspunkt sachlicher Naturerkenntnis. Was uns in diesem Zeitraum der mittelalterlichen Wissenschaft als Erkenntnis der physischen Wirklichkeit entgegentritt, knüpft sich an den Namen Platons: sofern es in diesem Zeitalter eine Naturwissenschaft gibt, ist sie diejenige der Platoniker, eines Bernhard von Chartres, eines Wilhelm von Conches und ihrer Genossen.574[252]

Aber dieser Sinn für die empirische Wirklichkeit, welcher die Platoniker des Mittelalters vor der hochfliegenden Metaphysik der Dialektiker auszeichnet, hat noch eine andere und viel wertvollere Form angenommen. Unfähig noch, der äußeren Erfahrung bessere Ergebnisse, als sie in der Ueberlieferung der griechischen Wissenschaft vorlagen, abzugewinnen, richtete sich der empirische Trieb des Mittelalters auf die Erforschung des geistigen Lebens und entfaltete die volle Energie eigener Beobachtung und scharfsinniger Analyse auf dem Gebiete der inneren Erfahrung – in der Psychologie. Das ist derjenige Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit, für welchen das Mittelalter die wertvollsten Resultate erreicht hat.575 Hierin stellte sich, mit substantiellem Gehalt erfüllt, die Erfahrung des praktischen Lebens wie diejenige sublimster Frömmigkeit dem dialektischen Begriffsspiel entgegen.

1. Der natürliche Führer aber auf diesem Gebiete war Augustin, dessen psychologische Anschauungen eine um so stärkere Herrschaft ausübten, je mehr sie einerseits mit der religiösen Ueberzeugung verflochten waren, und je weniger anderseits die aristotelische Psychologie bekannt war. Augustin aber hatte in seinem Systeme den vollen Dualismus aufrechterhalten, welcher die Seele als eine immaterielle Substanz und den Menschen als eine Verbindung zweier Substanzen, des Leibes und der Seele, betrachtete. Eben deshalb konnte er eine Erkenntnis der Seele nicht aus ihren Beziehungen zum Leibe erwarten und machte sich mit vollem Bewußtsein den Standpunkt der inneren Erfahrung zu eigen.

Das so aus metaphysischen Voraussetzungen entsprungene neue methodische Prinzip konnte sich ungestört entfalten, solange die monistisch-metaphysische Psychologie des Peripatetizismus noch unbekannt blieb. Und diese Entfaltung wurde auf das Nachdrücklichste durch diejenigen Bedürfnisse gefördert, welche das Mittelalter zur Psychologie führten. Der Glaube suchte die Selbsterkenntnis der Seele zum Zwecke ihres Heils, und dieses Heil wurde gerade in jenen transzendenten Tätigkeiten gefunden, durch welche die Seele, dem Leibe entfremdet, einer höheren Welt zustrebt. Deshalb waren es hauptsächlich die Mystiker, welche die Geheimnisse des inneren Lebens belauschen wollten und damit zu Psychologen wurden.

Wichtiger und philosophisch bedeutsamer als die einzelnen, oft sehr phantastischen und oft sehr verschwommenen Lehren, die in dieser Richtung aufgestellt wurden, ist die Tatsache, daß vermöge dieser Zusammenhänge der Dualismus der sinnlichen und der übersinnlichen Welt in voller Schärfe aufrecht erhalten wurde und so ein starkes Gegengewicht gegen den neuplatonischen Monismus bildete. Aber diese metaphysische Wirkung auszuüben war er erst später berufen; zunächst wurde er in der begrenzteren Form des anthropologischen Dualismus von Leib und Seele zum Ausgangspunkt der Psychologie als der Wissenschaft der inneren Erfahrung.576[253]

Sehr merkwürdig ist deshalb die Erscheinung, daß die Vertreter dieser Psychologie als »Naturwissenschaft des inneren Sinnes«, wie sie später genannt worden ist, gerade dieselben Männer sind, welche sich redlich abmühen, aus allem Material, dessen sie habhaft werden können, ein Wissen von der äußeren Welt zu gewinnen. Von der Dialektik abgewendet, suchen sie eine Erkenntnis des empirisch Wirklichen, eine Naturphilosophie; aber sie teilen diese in zwei völlig getrennte Gebiete: Physica corporis und Physica animae. Dabei überwiegt bei den Platonikern die Vorliebe für das Studium der äußeren, bei den Mystikern diejenige für die innere Natur.577

2. Als das charakteristische, wesentlich neue und förderliche Merkmal dieser empirischen Psychologie muß nun aber das Bestreben angesehen werden, die seelischen Tätigkeiten und Zustände nicht nur zu klassifizieren, sondern ihren lebendigen Fluß aufzufassen und ihre Entwicklung zu begreifen. Diese Männer waren sich in ihren frommen Gefühlen, in ihrem Ringen nach dem Genuß der göttlichen Gnade eines inneren Erlebnisses, einer Geschichte ihrer Seele bewußt, und es trieb sie, diese Geschichte zu schreiben; und wenn sie dabei platonische, augustinische und neuplatonische Begriffe in bunter Mischung zur Bezeichnung der einzelnen Tatsachen benutzten, so ist das Wesentliche und Entscheidende immer, daß sie den Entwicklungsgang des inneren Lebens aufzuzeigen unternahmen.

Nicht viel Mühe hat diesen Mystikern, die eine Metaphysik nicht suchten, sondern im Glauben besaßen, die später so schwerwiegend gewordene Frage bereitet, wie jene Dualität von Leib und Seele zu verstehen sei. Zwar ist sich Hugo von St. Victor bewußt, daß, wenn auch die Seele das Niederste in der immateriellen und der Menschenleib das Höchste in der materiellen Welt ist, beide doch noch von so gegensätzlicher Beschaffenheit sind, daß ihre Verbindung (unio) ein unbegreifliches Rätsel bleibt; aber er meint, gerade damit habe Gott gezeigt und zeigen wollen, daß ihm nichts unmöglich sei. Statt darüber dialektisch zu grübeln, nehmen vielmehr die Mystiker diesen Dualismus zur Voraussetzung, um für ihre wissenschaftliche Betrachtung die Seele in sich zu isolieren und ihr inneres Leben zu beobachten.

Dieses Leben aber ist für die Mystik die Entwicklung der Seele zu Gott, und so ist diese erste Form der Psychologie des inneren Sinnes die Heilsgeschichte des Individuums. Die Mystiker betrachten die Seele wesentlich als Gemüt, sie zeigen die Entfaltung ihres Lebensprozesses aus den Gefühlen, und sie beweisen ihre schriftstellerische Virtuosität gerade in der Ausmalung von Gefühlszuständen und Gefühlsbewegungen. Und auch darin sind sie die echten Nachfolger Augustins, daß sie in der Zergliederung dieses Prozesses überall die treibenden Willenskräfte erforschen, daß sie die Stimmungen des Willens untersuchen, vermöge deren der Glaube den Verlauf[254] der Erkenntnis bedingt, und daß ihnen doch am Ende als die höchste Entwicklungsstufe der Seele das mystische Schauen Gottes gilt, das freilich auch hier mit der Liebe eins gesetzt wird. So tun es wenigstens die beiden durchweg vom Geist der Wissenschaft getragenen Victoriner Hugo und Richard, während bei Bernhard von Clairvaux das praktische Moment des Willens viel stärker betont wird. Dieser wird nicht müde, den in seiner Zeit erwachten, mit allen Tugenden und Untugenden sich gebahrenden reinen Trieb des Wissens um des Wissens willen als heidnisch zu denunzieren, und doch ist auch ihm die letzte der zwölf Stufen der Demut jene Ekstase der Vergottung, mit welcher das Individuum in dem ewigen Wesen aufgeht, »wie der Wassertropfen in einem Fasse Wein«.

Auch die Psychologie der Erkenntnis baut sich bei den Victorinern auf augustinischem Grundriß auf. Drei Augen sind dem Menschen gegeben: das fleischliche, um die Körperwelt, das vernünftige, um sich selbst in seiner Innerlichkeit, das kontemplative, um die geistige Welt und die Gottheit zu erkennen. Wenn deshalb nach Hugo cogitatio, meditatio und contemplatio die drei Stufen der intellektuellen Tätigkeit sind, so ist es interessant und für die Persönlichkeit selbst charakteristisch, in welchem Maße er die Mitwirkung der Einbildungskraft (imaginatio) in allen Arten der Erkenntnis betont. Auch die Kontemplation ist eine visio intellectualis, ein geistiges Schauen, welches allein die höchste Wahrheit unverzerrt erfaßt, während das Denken nicht dazu imstande ist.

So ist Altes und Neues in den Schriften der Victoriner vielfach gemischt: zwischen feinsinnigste Beobachtungen und feinfühligste Schilderungen der psychischen Funktionen drängen sich die Phantasien mystischer Verzückung. Zweifellos fällt auch hier die Methode der Selbstbeobachtung in die Gefahr, zur Schwärmerei zu fahren; aber sie gewinnt anderseits schon manche eigene Frucht, sie lockert den Boden für die Forschung der Zukunft, und vor allem, sie steckt das Feld ab, auf dem die moderne Psychologie erwachsen sollte.

3. Von ganz anderer Seite hat diese neue Wissenschaft der inneren Erfahrung sogleich Unterstützung und Bereicherung erfahren: ein Nebenertrag des Universalienstreites – und nicht der schlechteste – kam ihr zu gute. Wenn der Nominalismus und der Konzeptualismus das An-sich-bestehen der Universalien bestritten und die Arten und Gattungen für subjektive Gebilde im erkennenden Geiste erklärten, so fiel ihnen die Beweispflicht zu, das Entstehen dieser allgemeinen Vorstellungen in der Seele des Menschen verständlich zu machen. So sahen sie sich direkt auf das empirische Studium der Entwicklung der Vorstellungen hingewiesen und brachten für die sublime Poesie der Mystiker eine zwar nüchterne, aber um so wünschenswertere Ergänzung. Denn gerade weil es sich um den Nachweis des Ursprungs rein subjektiver Denkinhalte handeln sollte, die als Produkte der zeitlichen Entwicklung des Menschen zu erklären waren, so konnte diese Untersuchung nur ein Beitrag zur Psychologie der inneren Erfahrung werden.

Schon die These des extremen Nominalismus gab ihren Gegnern Anlaß, das Verhältnis des Worts zum Gedanken zu behandeln, und führte bei Abaelard zu eingehender Betrachtung der Mitwirkung, welche der Sprache bei der Entwicklung der Gedanken zukommt. Die Frage nach der Bedeutung der[255] Zeichen und Bezeichnungen in der Vorstellungsbewegung wurde dadurch neu in Fluß gebracht. Noch mehr in das Herz der theoretischen Psychologie führt die Untersuchung, die in der Abhandlung De intellectibus über den notwendigen Zusammenhang zwischen Intellekt und Wahrnehmung geführt wird. Es wird hier gezeigt, wie die Empfindung als verworrene Vorstellung (contusa conceplio) noch in die sie mit andern zusammenfassende Anschauung (imaginatio) eingeht und in dieser reproduzierbar erhalten bleibt, wie sodann der Verstand dies mannigfache Material in successivem Durchlaufen (diskursiv) zu Begriffen und Urteilen verarbeitet, und wie erst nach Erfüllung aller dieser Bedingungen Meinung, Glauben und Wissen zustande kommen, wo dann schließlich der Intellekt den Gegenstand in einmaliger Gesamtanschauung (intuitiv) erkennt.

In ähnlicher Weise hat Johannes von Salisbury den psychischen Entwicklungsprozeß dargestellt; aber bei ihm macht sich am stärksten die der augustinischen Auffassung der Sache eigene Tendenz geltend, die verschiedenen Tätigkeitsformen nicht als übereinander oder nebeneinander liegende Schichten, sondern als ineinander befindliche Funktionsrichtungen derselben lebendigen Einheit zu betrachten. Er findet schon bei der Empfindung und in höherem Maße bei der Anschauung zugleich einen Akt des Urteils, und als Verbindung der neu eintretenden Empfindungen mit den reproduzierten enthält nach ihm die Anschauung zugleich die Gefühlszustände (passiones) der Furcht und der Hoffnung. So entwickelt sich aus der Imagination als dem psychischen Grundzustande die doppelte Reihe des Bewußtseins: in der theoretischen zunächst die Meinung und durch Vergleichung der Meinungen das Wissen, sowie die vernünftige Ueberzeugung (ratio), beide unter der Willenswirkung der Klugheit (prudentia), endlich aber vermöge des Strebens nach ruhender Weisheit (supientia) die kontemplative Erkenntnis des Intellekts, – in der praktischen Reihe die Gefühle der Lust und der Unlust mit allen ihren Auszweigungen in die wechselnden Zustände des Lebens.

So ist bei Johannes andeutungsweise das ganze Programm der späteren Associationspsychologie vorgezeichnet, deren Führer gerade seine Landsleute werden sollten. Und nicht nur in den Problemen, sondern auch in der Art ihrer Behandlung darf er als ihr Vorbild gelten. Von den weltfremden Spekulationen der Dialektik hält er sich ebenso fern wie von der verstiegenen Schwärmerei der Mystik; er hat die praktischen Zwecke des Wissens im Auge, er will sich damit in der Welt, worin der Mensch leben soll, und vor allem in dem wirklichen Innenleben des Menschen selbst zurechtfinden, und er bringt eine weltmännische Feinheit und Freiheit des Geistes in die Philosophie mit, wie sie jenen Zeiten sonst fehlt. Er verdankt dies nicht zum wenigsten der Erziehung des Geschmacks und des gesunden Weltverstandes, den die klassischen Studien gewähren: und auch hierin sind ihm seine Landsleute nicht zu ihrem Schaden gefolgt. Er ist der Vorläufer der englischen Aufklärung, wie Abaelard derjenige der französischen.578

4. Eine eigenartige Nebenerscheinung dieser Versteifung des Gegensatzes[256] von Aeußerem und Innerem und dieser Verlegung des wissenschaftlichen Prinzips in die Innerlichkeit ist endlich auch Abaelards Ethik579. Schon in ihrem Titel Scito te ipsum kündet sie sich als eine auf innere Erfahrung sich gründende Lehre an, und ihre Bedeutung besteht gerade darin, daß sie zum erstenmal wieder die Ethik als eigene philosophische Disziplin behandelt und die dogmatisch-metaphysischen Voraussetzungen von ihr abstreift.580 Das gilt von dieser Ethik, obwohl auch sie von dem christlichen Sündenbewußtsein als von der Fundamentaltatsache ausgeht. Aber gleich hier strebt sie sofort in das Innerste. Gutes und Böses, sagt sie, bestellt nicht in der äußeren Handlung, sondern in deren innerlicher Ursache. Es besteht aber auch nicht in den Gedanken (suggestio), Gefühlen und Begierden (delectatio), welche der Willensentscheidung vorhergehen, sondern lediglich in diesen Entschluß zur Tat (consensus)581 selbst. Denn die in dem natürlichen Zusammenhang und zum Teil in der leiblichen Konstitution begründete Neigung (vountas), die zum Guten oder zum Bösen fahren kann, ist nicht selbst im eigentlichen Sinne gut oder böse. Der Fehler (vitium) – hierauf reduziert Abaelard die Erbsünde – wird erst durch den consensus zur Sünde (peccatum). Ist aber dieser vorhanden, so ist auch mit ihm die Sünde vollständig da, und die leiblich ausgeführte Handlung mit ihren äußeren Folgen fügt ethisch nichts mehr hinzu.

So wird das Wesen des Moralischen von Abaelard lediglich in den Willensentschluß (animi intentio) verlegt. Welches ist nun aber die Norm, nach der dieser Willensentschluß als gut oder böse charakterisiert werden soll? Auch hier verschmäht Abaelard jede äußere und objektive Bestimmung durch ein Gesetz: er findet die Norm der Beurteilung lediglich im Innern des sich entschließenden Individuums, und sie besteht in der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit dem Gewissen (conscientia). Gut ist die Handlung, welche mit der eigenen Ueberzeugung des sich Entschließenden im Einklang ist: bös ist nur diejenige, die ihr widerspricht.

Und was ist das Gewissen? Wo Abaelard als Philosoph, als der rationalistische Dialektiker lehrt, der er war, da ist es ihm (nach antikem Vorgange – CICERO) das natürliche Sittengesetz, das, wenn auch in verschiedenem Maße erkannt, allen Menschen gemein ist und das, wie Abaelard überzeugt war, nach seiner Verdunklung durch menschliche Sünde und Schwäche in der christlichen Religion zur neuen Wahrheit erweckt worden ist (vgl. oben § 23, 7). Diese lex naturalis aber ist für den Theologen identisch mit dem Willen Gottes.582 Dem Gewissen folgen, heißt daher Gott gehorchen, gegen das Gewissen handeln ist Verachtung Gottes. Wo aber irgendwie der Inhalt des natürlichen Sittengesetzes zweifelhaft ist, da bleibt dem Individium nur übrig, nach seinem Gewissen, d.h. nach seiner Erkenntnis des göttlichen Gebots sich zu entscheiden.[257]

Diese Ethik der Gesinnung583, welche das Haupt der Dialektiker und Peripatetiker vortrug, erweist sich als eine Steigerung der augustinischen Prinzipien der Verinnerlichung und des Willensindividualismus, die aus dem System des großen Kirchenlehrers und über dessen Grenzen hinaus zu fruchtbarer Wirkung in die Zukunft hervordringt.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 251-258.
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