IV. Teil.

Die Philosophie der Renaissance.

  • [291] Literatur: J. E. ERDMANN, Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie, 3 Tle. in 6 Bänden. Riga und Leipzig 1834-53.
    H. ULRICH, Geschichte und Kritik der Prinzipien der neueren Philosophie, 2 Bde. Leipzig 1845.
    KUNO FISCHER, Geschichte der neueren Philosophie, vierte (Jubiläums-) Aufl., 10 Bände. Heidelberg 1897-1904, teilweise seitdem wieder aufgelegt mit ergänzenden Zusätzen.
    ED. ZELLER, Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, 2. Aufl. Berlin 1875.
    W. WINDELBAND, Geschichte der neueren Philosophie. 2 Bde. Leipzig. 5. Aufl. 1911.
    R. FALCKENBERG, Geschichte der neueren Philosophie. G. Aufl. Leipzig 1910.
    H. HÖFFLING, Geschichte der neueren Philosophie. Deutsch von BENDIXEN. 2 Bde. Leipzig 1895.
    W. WINDELBAND, Kultur der Gegenwart I, 5 S. 382-543.
    J. SCHALLER, Geschichte der Naturphilosophie seit Bacon. 2 Bde. Leipzig 1841-44.
    R. RICHTER, Der Skeptizismus in der Philosophie, 2. Bd. Leipzig 1908.
    J. BAUMANN, Die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neueren Philosophie. 2 Bde. Berlin 1868 f.
    K. LASSWITZ, Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton. 2 Bde. Hamburg 1889-90.
    F. VORLÄNDER, Geschichte der philosophischen Moral-, Rechts- und Staatslehre der Engländer und Franzosen. Marburg 1855.
    F. JODL, Geschichte der Ethik in der neueren Philosophie. 2 Bde. 2. Aufl. Stuttg. 1906.
    B. PÜNJER, Geschichte der christlichen Religionsphilosophie seit der Reformation. 2 Bde. Braunschweig 1880-83.

Die Gegensätze, welche im Ausgang der mittelalterlichen Philosophie zu Tage treten, haben eine allgemeinere Bedeutung: sie zeigen in der theoretischen Form das selbstbewußte Erstarken der weltlichen Kultur neben der geistlichen. Die Unterströmung, die ein Jahrtausend lang, hie und da zu kräftigerer Gewalt anschwellend, die religiöse Hauptbewegung des intellektuellen Lebens bei den abendländischen Völkern begleitet hatte, kam nun zu entscheidendem Durchbruch, und ihr langsam aufringender Sieg macht in den Jahrhunderten des Uebergangs das wesentliche Merkmal für den Beginn der Neuzeit aus.

In allmählicher Entwicklung, in stetigem Fortschritt hat sich so die moderne Wissenschaft aus den mittelalterlichen Anschauungen herausgelöst; und ihr vielverschlungenes Werden geht Hand in Hand mit den viellebendigen Anfängen des gesamten modernen Lebens. Denn dies beginnt überall mit der naturkräftigen Entfaltung der Besonderheiten: die lapidare Einheit, zu der das mittelalterliche Leben zusammendrängte, geht mit der Zeit auseinander, und urwüchsige Daseinsfrische sprengt den Ring der gemeinsamen Tradition, den die Geschichte um den Geist der Völker gezogen. So kündet sich die neue Zeit durch das Erwachen nationaler Lebensgestaltung an; die Zeit der Weltreiche ist auch geistig vorüber, und an die Stelle der einheitlichen Konzentration, worin das Mittelalter gearbeitet hatte, tritt die reiche Lebensfülle der Dezentralisation. Rom und Paris hören auf, die beherrschenden Mittelpunkte[291] der abendländischen Kultur, das Lateinische hört auf, die alleinige Sprache der gebildeten Welt zu sein.

Auf dem religiösen Gebiete zunächst zeigte sich dieser Vorgang darin, daß Rom die Alleinherrschaft über das kirchliche Leben des Christentums verlor. Wittenberg, Genf, London u. a. wurden neue Zentren des religiösen Daseins. Die Innerlichkeit des Glaubens, die schon in der Mystik sich gegen die Verweltlichung des Kirchenlebens empört hatte, erhob sich zu siegreicher Befreiung, um sogleich wieder der unerläßlichen Organisation in der Außenwelt zu verfallen. Allein die Zersplitterung, die damit hereinbrach, weckte zwar alle Tiefen des religiösen Gefühls und wühlte für die nächsten Jahrhunderte die Leidenschaft und den Fanatismus konfessioneller Gegensätze auf; aber eben dadurch wurde die Vorherrschaft einer geschlossenen religiösen Ueberzeugung auf den Höhen des wissenschaftlichen Lebens gebrochen. Was im Zeitalter der Kreuzzüge durch den Kontakt der Religionen begonnen war, vollendete sich nun durch den Streit der christlichen Konfessionen.

Es ist nicht zufällig, daß in gleichem Maße neben Paris die Zahl der Mittelpunkte des wissenschaftlichen Lebens im schnellen Wachstum begriffen war. Hatte schon vorher Oxford als Herd der Opposition der Franziskaner eigene Bedeutung gewonnen, so entfalteten nun erst Wien, Heidelberg, Prag, dann die zahlreichen Akademien Italiens, endlich die reiche Fülle der neuen Universitäten des protestantischen Deutschlands ihre selbständige Lebenskraft. Zugleich aber gewann durch die Erfindung der Buchdruckerkunst das literarische Leben eine solche Ausdehnung und eine so vielverzweigte Bewegung, daß es sich von dem strengen Schulzusammenhange ablösen, die Fesseln der gelehrten Tradition abstreifen und sich in ungebundener Ausgestaltung der Persönlichkeiten ergehen konnte. So verliert die Philosophie in der Renaissance den zunftmäßigen Charakter, und sie wird in ihren besten Leistungen zur freien Tat der Individuen; sie sucht ihre Quellen in der Breite der zeitgenössischen Wirklichkeit, und sie stellt sich auch äußerlich mehr und mehr im Gewande der modernen Nationalsprachen dar.

In dieser Weise wurde die Wissenschaft von einer gewaltigen Gärung ergriffen. Die zwei Jahrtausende alten Formen des geistigen Lebens schienen ausgelebt und unbrauchbar geworden. Eine leidenschaftliche, zunächst noch unklare Neuerungssucht erfüllte die Geister, und die aufgeregte Phantasie bemächtigte sich der Bewegung. An ihrer Hand aber kam die ganze Mannigfaltigkeit der Interessen des weltlichen Lebens in der Philosophie zur Geltung: die kräftige Entfaltung des Staatslebens, die reiche Steigerung der äußeren Kultur, die Ausbreitung der europäischen Zivilisation über die fremden Weltteile, nicht zum wenigsten die Weltfreude der neu erwachten Kunst. Und diese lebensfrische Fülle neuen Inhalts brachte es mit sich, daß die Philosophie keinem jener Interessen vorwiegend untertan wurde, daß sie vielmehr alle in sich aufnahm und sich mit der Zeit darüber wieder zu frei er Erkenntnisarbeit, zu dem Ideale des Wissens um seiner selbst willen erhob.626

Die Wiedergeburt des rein theoretischen Geistes ist der wahre Sinn der wissenschaftlichen »Renaissance«, und darin besteht auch die [292] Kongenialität mit dem griechischen Denken, die für ihre Entwicklung entscheidend gewesen ist. Die Unterstellung unter Zwecke des praktischen, ethischen und religiösen Lebens, welche in der gesamten Philosophie der hellenistisch-römischen Zeit und des Mittelalters vorgewaltet hatte, hörte mit dem Beginn der neueren Zeit mehr und mehr auf, und die Erkenntnis der Wirklichkeit erschien wieder als der Selbstzweck der wissenschaftlichen Forschung. Gerade aber wie in den Anfängen des griechischen Denkens richtete sich dieser theoretische Trieb wesentlich auf die Naturwissenschaft. So sehr der moderne Geist, welcher die Errungenschaften des späteren Altertums und des Mittelalters in sich aufgenommen hat, dem antiken gegenüber von vornherein zum Selbstbewußtsein erstarkt, verinnerlicht und in sich vertieft erscheint, so ist doch seine erste selbständige intellektuelle Betätigung die Rückkehr zu einer von keinem andern Interesse beeinflußten Auffassung der Natur gewesen: dahin drängt die gesamte Philosophie der Renaissance, und in dieser Richtung hat sie ihre großen Erfolge errungen.

Im Gefühl solcher Verwandtschaft des Grundtriebes ergriff der neuzeitliche Geist bei seinem leidenschaftlichen Suchen nachdem Neuen zunächst das Aelteste. Begierig wurde die von der humanistischen Bewegung entgegengebrachte Kenntnis der alten Philosophie aufgenommen, und in heftigem Gegensatze gegen die mittelalterliche Tradition wurden die Systeme der griechischen Philosophie erneuert. Aber diese Rückkehr zum Altertum stellt sich im Gesamtverlauf der Geschichte nur als die instinktive Vorbereitung für die eigene Arbeit des modernen Geistes dar627, der in diesem kastalischen Bade zu seiner Jugendkraft erstarkte. Indem er sich in die griechische Begriffswelt einlebte, gewann er darin die Fähigkeit, sein eigenes reiches Außenleben im Gedanken zu bemeistern, und so gerüstet kehrte die Wissenschaft aus der Grübelwelt der Innerlichkeit mit gesättigter Kraft zur Erforschung der Natur zurück, um sich darin neue und weitere Bahnen zu öffnen.

Die Geschichte der Philosophie der Renaissance ist also der Hauptsache nach dies allmähliche Herausarbeiten der naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung aus der humanistischen Erneuerung der griechischen Wissenschaft: sie zerfällt darum sachgemäß in zwei Perioden, eine Humanistische und eine naturwissenschaftliche. Als Grenzscheide zwischen beiden darf etwa das Jahr 1000 angesehen werden. Die erste dieser Perioden enthält die Verdrängung der mittelalterlichen Tradition durch diejenige des echten Griechentums; überreich an kulturhistorischem Interesse und an literarischer Bewegtheit, zeigen diese beiden Jahrhunderte in philosophischem Betracht und diejenige Verschiebung früherer Gedanken, durch welche die neuen vorbereitet werden: die zweite Periode umfaßt die zur Selbständigkeit herausgerungenen Anfänge der modernen Naturforschung und in deren Gefolge die großen metaphysischen Systeme des 17. Jahrhunderts.

Beide Zeiträume bilden in engster Zusammengehörigkeit ein Ganzes.[293] Denn das innerlich treibende Motiv in der philosophischen Bewegung des Humanismus ist derselbe Drang nach einer von Grund aus neuen Erkenntnis der Welt, welcher schließlich durch die Begründung und die prinzipielle Ausgestaltung der Naturwissenschaft seine Erfüllung fand; aber die Art, wie dies geschah, und die begrifflichen Formen, in denen es sich vollzog, zeigen sich an allen wichtigen Punkten von den Anregungen abhängig, die von der Aufnahme der griechischen Philosophie ausgingen. Die moderne Naturwissenschaft ist die Tochter des Humanismus.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 291-294.
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