§ 36. Die Prinzipien der Moral.

  • [420] Literatur: FR. SCHLEIERMACHER, Grundlinien einer W. W. III. Bd. 1.
    H. SIDGWICK, The methods of ethics, 3. Aufl. London 1884.

Die fruchtbarsten Anregungen zur Diskussion der ethischen Probleme sind in positiver wie in negativer Richtung von Hobbes ausgegangen. Das von ihm aufgestellte selfish system erstreckt seine Wirksamkeit durch das ganze 18. Jahrhundert: es wird in alle seine Konsequenzen durchgeführt, und es ist ein stets mächtiger Stachel zum Hervortreiben der gegensätzlichen Ansichten, die eben dadurch auch von ihm abhängig werden. In gewissem Sinne gilt dies schon von Cumberland, der zwar dem psychologischen Relativismus gegenüber die Geltung der sittlichen Gebote als ewiger Wahrheiten verfocht, dabei aber doch als ihren wesentlichen und bestimmenden Zweckinhalt die allgemeine Wohlfahrt betrachtet wissen wollte.

1. Die Stellung Lockes ist in diesen Fragen noch weniger ausgeprägt als in den theoretischen. Allerdings nimmt bei seiner Bestreitung der »eingeborenen Ideen«, wie es sich aus deren Frontbietung gegen den Neuplatonismus der Cambridger Schule erklärt, die Behandlung der praktischen Prinzipien fast den breiteren Raum ein; aber die positiven Andeutungen, die sich über ethische Gegenstände in seinen Schriften verstreut finden (und mehr als Andeutungen sind es freilich nicht), gehen über den bloßen Psychologismus beträchtlich hinaus. Locke sieht das moralische Urteil als eine demonstrative Erkenntnis an, weil es zu seinem Gegenstande ein Verhältnis hat, nämlich die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer menschlichen Handlungsweise mit einem Gesetze.865 Danach erscheint für die Ethik der imperative Charakter als wesentlich. Das Bestehen solcher Normen setzt aber nicht nur einen Gesetzgeber voraus, sondern auch dessen Macht, ihre Befolgung mit Lohn, ihre Mißachtung mit Strafe zu behaften: denn nur durch die Erwartung dieser Folgen kann nach Lockes Meinung ein Gesetz auf den Willen wirken.

War der Philosoph sicher, mit solchen Sätzen von dem common-sense des Durchschnittsmenschen nicht abzuweichen, so gilt das ebenso von den drei Instanzen, die er für die gesetzgeberische Autorität aufführt: öffentliche Meinung, Staat und Gott. Bei der höchsten dieser Instanzen aber fand er wieder einen Anknüpfungspunkt an die Reste der cartesianischen Metaphysik, die sein Empirismus bewahrt hatte. Der Wille Gottes nämlich wird (nach Lockes Religionsphilosophie, vgl. oben § 35, 1) völlig identisch durch die Offenbarung und durch das »natürliche Licht« erkannt. Das Gesetz Gottes ist das Gesetz der Natur. Sein Inhalt aber ist der, daß durch die von Gott bestimmte Naturordnung[420] an gewisse Handlungen schädliche, an andere nützliche Folgen geknüpft, und daß deshalb jene verboten, diese geboten sind. So gewinnt das Moralgesetz eine metaphysische Wurzel, ohne seinen utilistischen Inhalt einzubüßen.

2. Das Bedürfnis nach einem metaphysischen Grunde der Moral machte sich auch in andern Formen und zum Teil noch stärker geltend: war es doch der gesamten cartesianischen Schule in der Weise geläufig, daß der rechte Wille als die notwendige und unausbleibliche Folge der rechten Einsicht betrachtet wurde. Hierin sekundierte dem Cartesianismus die ganze Schar der ihm in der Naturphilosophie so feindlichen Neuplatoniker, – schon Henry More866 und Cudworth867, später besonders Richard Price.868 Sie alle gingen von dem Gedanken aus, daß das Sittengesetz mit der innersten Natur der aus Gott geflossenen Wirklichkeit gegeben und deshalb mit ewigen und unveränderlichen Lettern in jedem vernünftigen Wesen geschrieben sei. Mit viel Begeisterung, aber mit wenig neuen Argumenten verfochten sie die stoisch-platonische Lehre in ihrer christlich-theistischen Umbildung.

Dabei nahm dieser Intellektualismus im Zusammenhange mit der rationalistischen Metaphysik eine Richtung, die sich von dem scotistischen, durch Descartes und noch mehr durch Locke erneuerten Rekurs auf den göttlichen Willen weit entfernte und statt dessen darauf ausging, den Inhalt des Sittengesetzes lediglich durch metaphysische Verhältnisse und demgemäß in letzter Instanz nach logischen Kriterien zu bestimmen: und darin gerade trat der Gegensatz gegen alle psychologisch beeinflußten Theorien hervor, die in irgend einer Form immer auf Lust- und Unlustgefühle als den innersten Nerv der ethischen Bestimmungen zurückkamen. Am deutlichsten ist dies bei Clarke, welcher das objektive Prinzip der Moral in der Angemessenheit einer Handlung zu den sie bestimmenden Verhältnissen finden wollte, für die Erkenntnis dieser Angemessenheit eine der mathematischen analoge Evidenz in Anspruch nahm und in cartesianischem Sinne davon überzeugt war, daß aus solcher Einsicht sich unausweichlich das Verpflichtungsgefühl entwickle, durch welches der Wille zu der sachgemäßen Handlung bestimmt werde. Ethische Minderwertigkeit erschien danach wiederum ganz in antiker Weise (vgl. § 7, 6) als Ausfluß der Unkenntnis oder der sachwidrigen Meinung. Demselben Gedanken gab, von Clarke angeregt, Wollaston die Wendung, daß, da jede Handlung ein (theoretisches) Urteil über die zugrunde liegenden Verhältnisse involviere, es an der Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieses Urteils sich entscheide, ob die Handlung auch im ethischen Sinne recht oder unrecht sei.

3. Eine eigentümliche Stellung nimmt in diesen Fragen Pierre Bayle ein: er vertritt einen ethischen Rationalismus ohne jeden metaphysischen Hintergrund. Bei ihm war das Interesse, die Moral gegen alle Abhängigkeit von dogmatischen Lehren sicher zu stellen, am stärksten und radikalsten wirksam. Wenn er, metaphysische Erkenntnis überhaupt für unmöglich erklärend, die rationale Begründung der Naturreligion ebenso bestritt wie diejenige des positiven Dogmas, so gab er der »Vernunft«, was er ihr auf theoretischem Gebiete genommen, dafür auf dem praktischen mit vollen Händen[421] zurück. Unfähig, das Wesen der Dinge zu erkennen, ist die menschliche Vernunft nach ihm vollauf mit dem Bewußtsein ihrer Pflicht ausgerüstet: ohnmächtig nach außen, ist sie durchaus Herrin über sich selbst. Was ihr am Wissen fehlt, hat sie am Gewissen: eine Erkenntnis ewiger und unwandelbarer Wahrheit.

Die sittliche Vernunft, meint daher Bayle, bleibt überall dieselbe, so verschieden die Menschen, die Völker, die Zeiten in ihren theoretische Einsichten sein mögen. Er lehrt zum erstenmal mit deutlichem Bewußtsein die völlige Unabhängigkeit der praktischen Vernunft von der theoretischen; aber er spitzt auch dies gern auf das theologische Gebiet zu. Offenbarung und Glaube gelten ihm in katholischer Weise wesentlich als theoretische Erleuchtung: eben darum erscheinen sie ihm für die Sittlichkeit als gleichgültig. Er bewunderte die ethische Tüchtigkeit des antiken Heidentums, und er glaubte an die Möglichkeit einer moralisch wohl geordneten Lebensgemeinschaft von Atheisten. Wenn deshalb seine theoretische Skepsis der Kirche günstig scheinen mochte, so mußte diese in seiner Moralphilosophie den gefährlichste Gegner bekämpfen.

Wurden dabei die sittlichen Grundsätze auch von Bayle als »ewige Wahrheiten« proklamiert, so geschah dies in dem ursprünglich cartesianischen Sinne, wonach es sich nicht sowohl Um die psychologische Frage des Eingeborenseins, als vielmehr um den erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt der unmittelbaren, logisch unvermittelten Evidenz handelte. In diesem Sinne galt selbstverständlich das virtuelle Eingeborensein der sittlichen Wahrheiten auch bei Leibniz, und es geschah in beider Geiste, wenn Voltaire, der, je skeptischer er sich zur Metaphysik stellte (vgl. § 35, 5), um so mehr sich Bayles Standpunkt näherte, von den sittlichen Grundsätzen sagte, sie seien dem Menschen angeboren wie seine Gliedmaßen: beide müsse er erst durch die Erfahrung gebrauchen lernen.

4. Bayle mochte wohl die allgemeine Ansicht hinter sich haben, wenn er den sittlichen Ueberzeugungen einen über allen Wechsel und alle Verschiedenheit theoretischer Meinungen erhabenen Wert zuschrieb; aber er hatte damit vielleicht gerade deshalb Erfolg, weil er jene Ueberzeugungen als etwas Allbekanntes behandelte und sich nicht darauf einließ, ihren Inhalt in ein System oder auf einen einheitlichen Ausdruck zu bringen. Wer aber dies versuchte, der schien schwer eines Prinzips entraten zu können, das nicht entweder der Metaphysik oder der Psychologie entnommen werden mußte.

Eine derartige prinzipielle Begriffsbestimmung der Sittlichkeit wurde nun in erster Linie durch die Metaphysik von Leibniz ermöglicht, von diesem Jedoch nur gelegentlich und andeutungsweise angebahnt und erst von Wolff in systematischen, aber auch gröberen Formen ausgeführt. Die Monadologie betrachtet das Universum als ein System von Lebewesen, deren rastlose Tätigkeit in der Entfaltung und Verwirklichung ihres ursprünglichen Inhalts besteht. Bei dieser aristotelischen Auffassung verwandelt sich der spinozistische Grundbegriff des suum esse conservare (vgl. § 32, 6) in eine zweckvolle Lebensbestimmung, welche Leibniz und seine deutschen Schüler als Vollkommenheit bezeichneten.869 Das »Gesetz der Natur«, das Somit auch dieser Ontologie zufolge mit dem Sittengesetz zusammenfällt, ist das Streben aller Wesen[422] nach Vollkommenheit. Da nun jede Vervollkommnung als solche mit Unlust, jeder Rückschritt aber in der Lebensentfaltung mit Unlust verbunden ist, so ergibt sich daraus die (antike) Identität des sittlich Guten mit der Eudämonie.

Das Naturgesetz verlangt also vom Menschen alles dasjenige zu tun, was seiner Vervollkommnung dient, und verbietet alles, was ihm Verlust an seiner Vollkommenheit zu bringen droht. Aus diesem Gedanken entwickelte Wolff das ganze System der Pflichten, wobei er namentlich das Prinzip der gegenseitigen Förderung heranzieht: der Mensch bedarf zu seiner Vervollkommnung der andern Menschen und arbeitet an seiner eigenen Vollkommenheit, indem er diesen zur Erfüllung ihrer Bestimmung hilft. Insbesondere aber ergab sich aus solchen Prämissen, daß der Mensch wissen muß, was ihm wahrhaft zur Vervollkommnung gereicht: denn nicht alles, was momentan als Lebensförderung gefühlt wird, erweist sich wahrhaft und dauernd als ein Schritt zur Vollkommenheit. Daher bedarf die Sittlichkeit durchaus der sittlichen Erkenntnis, der richtigen Einsicht in das Wesen der Dinge und des Menschen. Unter diesem Gesichtspunkte erscheint die Aufklärung des Verstandes als vornehmste sittliche Aufgabe. Bei Leibniz folgt dies unmittelbar aus dem Begriff der Monade: sie ist um so vollkommener – und Vollkommenheit definiert Leibniz echt scholastisch als grandeur de la réalité positive –, je mehr sie ihre Aktivität in klaren und deutlichen Vorstellungen betätigt; das natürliche Gesetz ihrer Entwicklung ist die Aufklärung ihres ursprünglich dunklen Vorstellungsinhalts (vgl. § 31, 11). Wolffs umständliche Deduktion läuft vielmehr auf den empirischen Nachweis der nützlichen Folgen des Wissens hinaus. Sie bleibt damit ganz im Rahmen der hausbackenen Absicht, welche der deutsche Kathederphilosoph seiner wissenschaftlichen Arbeit vorsetzte: die Philosophie durch Klarheit der Begriffe und Deutlichkeit der Beweise brauchbar und praktisch wirksam zu machen.

5. Diese Tendenz hatte Wolff von seinem Lehrer Thomasius, dem Führer der Aufklärer, übernommen, einem Manne, dem freilich die Vornehmheit des Leibnizschen Geistes abging, desto mehr aber das Verständnis für die Bedürfnisse seiner Zeit, die agitatorische Beweglichkeit und der Mut gemeinnützigen Strebens gegeben waren Geistige Regungen der Renaissance, die im 17. Jahrhundert zurückgedämmt worden waren, lebten an dessen Schlusse wieder auf. Thomasius wollte die Philosophie aus dem Hörsaal in das Leben verpflanzen, sie in den Dienst der allgemeinen Wohlfahrt stellen: und da er von der Naturwissenschaft wenig verstand, so wandte sich sein Interesse der Kritik der öffentlichen Einrichtungen zu. Im Leben der Gesamtheit wie in dem des Individuums soll nur die Vernunft herrschen: so focht er ehrlich und siegreich gegen Aberglauben und Beschränktheit, gegen Tortur und Hexenprozesse. Die Aufklärung im Sinne des Thomasius ist daher weit entfernt von der metaphysischen Würde, die ihr Leibniz gab, sie gewinnt vielmehr ihren Wert für den Einzelnen wie für die Gesamtheit erst durch den Nutzen, den sie abwirft und der nur von ihr erwartet werden darf.

Vollkommenheit und Utilität sind somit die beiden Merkmale, welche bei Wolff die Aufklärung zum ethischen Prinzip machen: jenes tritt bei der allgemeinen metaphysischen Grundlage. dies in dem besonderen Ausbau des Systems stärker hervor. Und in derselben Weise zieht sich diese Dualität der[423] Kriterien durch Wolffs Schule und die gesamte Popularphilosophie hin, – nur daß, je flacher die Lehren werden, um so breiteren Raum die Utilität einnimmt. Selbst Mendelssohn begründet die Abwendung von aller tieferen und feineren Grübelei damit, daß die Philosophie nur gerade so viel zu behandeln habe, als zur Glückseligkeit des Menschen nötig ist. Weil aber dieser aufklärerische Eudämonismus von vornherein keinen höheren Gesichtspunkt hatte, als die Ausbildung und das Wohlergehen des Durchschnittsmenschen, so verfiel er einer andern Beschränktheit: dem nüchternsten Philistertum und der spießbürgerlichen Verständigkeit. Das mochte in einer gewissen zwar nicht hohen, aber breiten Schicht der populären Literatur am Platze und von segensreicher Wirkung sein: wenn aber solcher Erfolg den Aufklärern zu Kopfe stieg, wenn sie dieselben Maßstäbe an die großen Erscheinungen der Gesellschaft und der Geschichte legten, wenn dieser Uebermut des empirischen Verstandes nichts gelten lassen wollte, als was er »klar und deutlich« erkannt hatte, dann verzerrten sich die edlen Züge der Aufklärung zu jener wohlgemeinten Verständnislosigkeit, als deren Typus Friedrich Nicolai mit all seiner rastlosen Gemeinnützigkeit eine komische Figur geworden ist.870

6. Die große Masse der deutschen Aufklärer ahnte nicht, wieweit sie mit dieser trockenen Utilität abstrakter Verstandesregeln von dem lebendigen Geiste des großen Leibniz abirrte: schon Wolff hatte ja auch metaphysisch die prästabilierte Harmonie fallen lassen und damit bewiesen, daß ihm der feinste Sinn der Monadologie verborgen geblieben war. Er und seine Nachfolger besaßen daher auch kein Verständnis dafür, daß Leibniz' Prinzip der Vollkommenheit in dem Maße, wie seine Metaphysik die Eigenheit jedes Einzelwesens allen andern gegenüber zur Geltung brachte, auch für das sittliche Leben die Entfaltung des individuellen Lebensinhaltes und die Ausgestaltung seiner dunkel gefühlten Ursprünglichkeit zur Aufgabe machte. Diese Seite der Sache kam in Deutschland erst zur Geltung, als in der Literatur die Periode der Genialität anbrach und das leidenschaftliche Gefühl eigenartiger Geister seine Theorie suchte. Die Form aber, welche sie dann in Herders Abhandlungen und ebenso in Schillers »philosophischen Briefen« fand, war weit stärker als durch Leibniz von einer andern Lehre bestimmt, die trotz der Verschiedenheit der begrifflichen Ausführung in der ethischen Gesinnung die größte Verwandtschaft mit der des deutschen Metaphysikers besaß (vgl. oben § 35, 2).

Shaftesbury hatte der Idee der Vollkommenheit eine weniger systematische, aber desto anschaulichere und eindrucksvollere Gestalt gegeben. Bei ihm lag mit unmittelbar lebendiger Kongenialität die antike Lebensauffassung zugrunde, wonach Sittlichkeit mit der ungestörten Entfaltung des wahren und natürlichen Wesens des Menschen deshalb aber auch mit seinem echten Glücke zusammenfällt. Das Sittliche erscheint daher bei Shaftesbury als das wahrhaft Menschliche, als die Lebensblüte des Menschen, als die vollkommene Entwicklung seiner natürlichen Anlagen. Hierin bestimmt sich zunächst Shaftesburys Stellung zu Cumberland und Hobbes: er kann nicht wie dieser den Egoismus als den einzigen Grundzug des natürlichen Menschen betrachten, er erkennt[424] vielmehr wie jener die altruistischen Neigungen für eine ursprüngliche, angeborene Mitgift an; aber er kann auch nicht nur in den letzteren die Wurzel der Sittlichkeit erblicken, sondern da ihm Moralität die Vollendung des ganzen Menschen ist, so sucht er ihr Prinzip in der gleichmäßigen Ausbildung und in dem harmonischen Ineinandergreifen beider Triebsysteme. Diese Moral verlangt nicht die Unterdrückung des Eigenwohls zugunsten des fremden Glücks, eine solche erscheint ihr nur auf den niederen Stufen der Entwicklung nötig; der voll ausgebildete Mensch lebt ebenso sich selbst wie dem Ganzen871, und gerade durch die Entfaltung seiner Eigenart stellt er sich als vollkommenes Glied in den Zusammenhang des Universums. Darin am meisten spricht sich Shaftesburys Optimismus und zugleich die aristokratische Exklusivität seines Wesens und Denkens aus, daß er glaubte, in dem reifen Menschen müsse der Konflikt zwischen den egoistischen und den altruistischen Motiven, der in den niederen Schichten der Menschheit eine so große Rolle spielt, vollkommen ausgeglichen sein.

Deshalb aber ist bei diesem Denker das sittliche Lebensideal ein durchaus persönliches. Moralität besteht ihm nicht in der Herrschaft allgemeiner Maximen, nicht in der Unterordnung des Eigenwillens unter Normen, sondern in dem reichen und vollen Ausleben einer ganzen Individualität. Es ist die souveräne Persönlichkeit, die ihr ethisches Recht geltend macht, und die höchste Erscheinung im Bereich des Sittlichen ist die Virtuosität, welche keine der Kräfte und keine der Triebrichtungen in der Anlage des Individuums verkümmern läßt, sondern in vollkommener Lebensführung alle diese mannigfachen Beziehungen in Einklang bringt und damit ebenso das Glück des Einzelnen wie seine kräftigste Wirkung für die Wohlfahrt des Ganzen herbeiführt. So prägt sich in der monadologischen Weltanschauung von neuem das griechische Ideal der Kalokagathie aus (vgl. § 7, 5).

7. Ist hiernach schon inhaltlich das, Moralprinzip bei Shaftesbury ästhetisch gefärbt, so tritt das folgerichtig noch mehr bei der Frage nach der Erkenntnisquelle für die sittlichen Aufgaben hervor. Diese bestand für die Metaphysiker ebenso wie für die Sensualisten in der vernünftigen Erkenntnis sei es der Natur der Dinge, sei es des empirisch Nützlichen: in beiden Fällen ergaben sich demonstrierbare, allgmeingültige Grundsätze. Die Moral der Virtuosität dagegen mußte das individuelle Lebensideal den Tiefen des Einzelwesens entnehmen: ihr gründete sich die Sittlichkeit auf das Gefühl. Die sittlichen Urteile, wodurch der Mensch in sich selbst die Triebe billigt, welche ihm die Natur zur Förderung des eigenen wie des fremden Wohls eingepflanzt hat, dagegen die »unnatürlichen« Triebe mißbilligt, die jenen Zwecken entgegen wirken, – diese Urteile beruhen auf dem Vermögen des Menschen, seine eigenen Funktionen sich zum Gegenstande zu machen, d.h. auf der »Reflexion« (Locke); aber sie sind nicht bloß ein Wissen der eigenen Zustände, sondern Affekte der Reflexion, und als solche bilden sie innerhalb des »inneren Sinnes« den moral sense.[425]

Damit war die psychologische Wurzel des Ethischen aus dem Bereiche verstandesmäßiger Erkenntnis auf die Gefühlsseite der Seele und in die unmittelbare Nähe des ästhetischen Verhaltens verpflanzt. Das Gute erschien als das Schöne in der Welt des Wollens und Handelns: es besteht wie das Schöne in einer harmonischen Einheit des Mannigfaltigen, in einer vollkommenen Ausbildung des natürlich Angelegten; es befriedigt und beseligt wie das Schöne, es ist wie das Schöne der Gegenstand einer ursprünglichen, im tiefsten Wesen des Menschen angelegten Billigung. Diese Parallele hat von Shaftesbury an die Literatur des 18. Jahrhunderts beherrscht: der Geschmack ist das ethische wie das ästhetische Grundvermögen. Am deutlichsten ist das wohl von Hutcheson ausgesprochen worden, aber mit einer Wendung, die von Shaftesburys Individualismus schon wieder einigermaßen abführte. Denn er verstand unter dem »moralischen Sinn« – in der rein psychologischen Bedeutung des Eingeborenseins – ein allen Menschen wesentlich gleiches, ursprüngliches Beurteilungsvermögen für das sittlich zu Billigende. Das metaphysische Beiwerk der Neuplatoniker und der Cartesianer wurde gern über Bord geworfen, dafür aber um so eifriger – namentlich im Gegensatz gegen das selfish system daran festgehalten, daß der Mensch ein natürliches Gefühl für das Gute wie für das Schöne besitze, und die Analyse dieses Gefühls wurde für die Aufgabe der Moral erklärt.

Die Uebertragung dieses Prinzips auf das theoretische Gebiet führte in der schottischen Schule (vgl. § 33, 8) dazu, auch das Wahre in Parallele zu dem Guten und Schönen als den Gegenstand ursprünglicher Billigung zu setzen und so in dem common sense eine Art von »logischem Sinn« anzunehmen. In weit ausgesprochenerer Weise aber wurde das Gefühl als Erkenntnisquelle von Rousseau proklamiert, der im Gegensatz zu der verstandeskühlen Zerfaserung, womit die rein theoretische Aufklärung das religiöse Leben behandelte, seinen Deismus auf das unverdorbene, natürliche Gefühl des Menschen gründete.872 In sehr unbestimmt eklektischer Weise wurde diese Gefühlsphilosophie von dem holländischen Philosophen Franz Hemsterhuys (aus Groeningen, 1720-1790), mit barocker Wunderlichkeit von dem geistreichen Schwärmer Hamann, dem »Magus im Norden«873, ausgeführt. Bei beiden ringt aus der philiströsen Alltäglichkeit aufklärerischen Wesens eine tiefe seelische Wirklichkeit empor – bei Hemsterhuys874 in sinnig kontemplativer, hellenisch gefärbter Harmonisierung, bei Hamann mit leidenschaftlich erregter, christlich begehrender Selbstentzweiung.

8. Am meisten aber machte sich jene von Shaftesbury und Hutcheson angebahnte Theorie der Gefühle in der Verschmelzung ethischer und ästhetischer Untersuchungen geltend. Der eudämonistischen Moral war es, Je gemeinfaßlicher sie behandelt wurde, um so genehmer ihre Gebote als[426] den Gegenstand eines natürlichen Wohlgefallens in das Gewand der Anmut hüllen zu können und das Gute als etwas dem Schönen Verwandtes dem Geschmack empfehlen zu dürfen. Auch die schottische Schule stand dieser Auffassung nicht fern, und Ferguson entwickelte in dieser Weise die Shaftesburyschen Ideen mit ausdrücklicher Beziehung auf' den Leibnizschen Grundbegriff der Vollkommenheit. Für die Aesthetik aber hatte diese Gedankenverschlingung die Wirkung, daß in ihr die Ansätze zu einer metaphysischen Behandlung, welche Shaftesbury aus dem Ganzen seiner plotinischen Weltauffassung an die Probleme des Schönen herangebracht hatte, und auf die auch die gelegentlichen Aeußerungen von Leibniz schließlich hindeuteten, völlig durch die psychologische Methode überwuchert wurden. Nicht was schön ist, fragte man, sondern wie das Gefühl der Schönheit zustande kommt; und bei Lösung dieser Frage brachte man die Erklärung des ästhetischen Verhaltens in mehr oder minder engen Zusammenhang mit ethischen Beziehungen. Dies zeigt sich auch bei solchen Aesthetikern, welche der sensualistischen Psychologie näher standen als etwa die Schotten. So faßt Henry Home den Genuß des Schönen als einen Uebergang von der rein sinnlichen Begierdestillung zu den moralischen und intellektuellen Freuden auf, und er meint, zu der für die höhere Bestimmung des Menschen erforderlichen Verfeinerung seiner sinnlichen Anlage seien die Künste »erfunden« worden; er sucht deshalb das Gebiet des Schönen in den höheren Sinnen, Gehör und namentlich Gesicht, und findet dabei als Grundlage einen allen Menschen gemeinsamen Geschmack für Ordnung, Regelmässigkeit, Verknüpfung des Mannigfaltigen zur Einheit. Wenn er dann weiter zwischen der »eigenen« Schönheit des unmittelbar Sinnenfälligen und der Schönheit der »Relation« unterscheidet, so spitzen sich diese »Verhältnisse« wesentlich auf das ethisch Gemeinnützige zu. in dessen Dienst damit die Schönheit gestellt wird875 Selbst Edmund Burke ist in seinem Bestreben, das ästhetische Verhalten nach assoziationspsychologischer Methode aus elementaren Empfindungszuständen herzuleiten, von der Problembildung der gleichzeitigen Moralphilosophie sehr stark abhängig. Sein Versuch, das Verhältnis des Schönen zum Erhabenen zu bestimmen – eine Aufgabe, an der auch Home, obwohl mit sehr geringem Erfolge, gearbeitet hatte876 – geht von dem Gegensatz der selbstischen und der geselligen Triebe aus. Erhaben soll danach das sein, was in wohltuendem Schauer uns mit Schrecken erfüllt, während wir selbst so fern davon sind, daß wir der Gefahr unmittelbaren Leides uns entrückt fühlen: schön dagegen alles, was die Gefühle, sei es der geschlechtlichen, sei es der allgemein menschlichen Liebe in wohlgefälliger Weise hervorzurufen geeignet ist.

Aber die Interessen der literarischen und künstlerischen Kritik führten auch über die Untersuchung des ästhetischen Auffassens, Beurteilens und Genießens hinaus zu der Frage nach dem Wesen der ästhetischen Produktion, und hierin hat hauptsächlich Alex. Gerard877 den Begriff des Genies zu bestimmen[427] gesucht, indem er dessen gefühlsmäßige Ursprünglichkeit und die exemplarische Leistung, die schöpferische Kraft der wahren Künstlernatur gegenüber der landläufigen Nachahmungstheorie glücklich hervorhob. Hier beginnt die zunächst noch wesentlich psychologische Theorie mit philosophischem Geiste der großen gleichzeitigen Entwicklung der schönen Literatur gerecht zu werden.

Aehnlich wie Home hat auch Sulzer die Empfindung des Schönen mitten zwischen diejenige des sinnlich Angenehmen und die des Guten als eine Ueberleitung von der einen zur andern gesetzt. Die Möglichkeit dieser Ueberleitung fand er in dem intellektuellen Faktor, der bei der Auffassung des Schönen mitwirke: sie erschien ihm – nach Leibniz, vgl. oben § 34,11 – als das Gefühl harmonischer Einheit der sinnlich empfundenen Mannigfaltigkeit. Allein eben vermöge dieser Voraussetzungen galt ihm das Schöne nur dann als wertvoll und als vollkommen, wenn es den moralischen Sinn zu fördern vermag: auch die Kunst wird so in den Dienst der Aufklärungsmoral gezogen, und der in Deutschland so lange gefeierte Aesthetiker erweist sieh in der Auffassung von der Kunst und ihrer Aufgabe manchmal als ein Banause des philiströsen Moralisierens. Wie unendlich viel geistreicher und freier sind da die »Beobachtungen«, welche Kant »über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« zu der Zeit anstellte, als auch er vom psychologischen Standpunkte aus den feinen Verzweigungen des ethischen und des ästhetischen Lebens in den Individuell den Geschlechtern, den Völkern mit liebenswürdiger Weltkundigkeit nachging!

Zu einer folgenreichen Aenderung der psychologischen Systematik gaben endlich diese Gedankenzusammenhänge in Deutschland Anlaß. War man von jeher gewohnt gewesen, die Seelentätigkeiten nach aristotelischem Muster in theoretische und praktische einzuteilen, so ließen sich die so in ihrer mannigfachen Bedeutsamkeit erkannten Gefühle weder in der Gruppe des Erkennens noch in der des Wollens ohne Unzuträglichkeiten unterbringen: es schien vielmehr, daß beiden Funktionsarten der Seele die Gefühle als eine eigenartige Aeußerungsweise teils zu Grunde lägen, teils folgten. Auch hier ging die Anregung von der Leibnizschen Monadologie aus. Zuerst scheint Sulzer in seinen Berliner Vorträgen878 darauf hingewiesen zu haben, daß die dunklen Urzustände der Monade von den entwickelten Lebensformen des vollbewußten Erkennens und Wollens zu sondern seien, und schon er fand deren Eigentümlichkeit in den damit gegebenen Lust- und Unlustzuständen. Aehnlich geschah es von Leibnizschen Voraussetzungen her bei Jakob Friedrich Weiß.879 Diese Zustände benannte Mendelssohn zuerst (1755) Empfindungen880, und später bezeichnete derselbe die ihnen gemeinsam zu Grunde liegende Seelenkraft als das Billigungsvermögen.881 Den entscheidenden Einfluß aber auf die Terminologie haben Tetens und Kant ausgeübt. Ersterer schob für Empfindungen den Ausdruck Fühlungen oder Gefühle ein882, und Kant brauchte fast ausschließlich den letzteren. Er war es auch, der später die Dreiteilung der seelischen Funktionell in Vorstellen, Fühlen und Wollen zur[428] systematischen Grundlage seiner Philosophie machte883, und seitdem ist sie, namentlich für die Psychologie, maßgebend geblieben.

9. Allen diesen Entwicklungen gegenüber erhielt sich die von Hobbes ausgehende Gegenströmung, welche den Nutzen oder Schaden des Individuums für den einzig möglichen Inhalt des menschlichen Wollens erklärte. Das Kriterium der sittlichen Handlung wurde hiernach lediglich psychologisch in ihren Folgen für den Nutzen der Nebenmenschen gesucht. Moralität gibt es nur innerhalb des sozialen Zusammenhanges. Der Einzelne für sich allein kennt nur sein eigen Wohl und Wehe: in der Gesellschaft aber werden seine Handlungen nach dem Gesichtspunkte gewertet, ob sie den anderen nützen oder schaden, und dies allein gilt als der Standpunkt der sittlichen Beurteilung. Diese Auffassung des ethischen Kriteriums entsprach nicht nur der gemeinen Ansicht, sondern auch dem Bedürfnis einer rein empirisch-psychologischen, metaphysiklosen Begründung der Ethik: ihr waren auch Cumberland und Locke in letzter Instanz beigetreten; ihr schlossen sich nicht nur die theologischen Moralisten wie Butler und Paley an, sondern auch die Associationspsychologen Hartley und Priestley. Dabei bildete sich, allmählich884die klassische Formel dieser Richtung heraus. Eine Handlung ist sittlich um so wohlgefälliger, je mehr Glückseligkeit sie hervorbringt und je größer die Anzahl von Men schen ist, denen sie diese Glückseligkeit zu teil werden läßt: das ethische Ideal ist the greatest happiness of the greatest number. Dies ist das Stichwort des Utilismus oder Utilitarismus (auch wohl Utilitarianismus) geworden.

Diese Formel aber legte den Gedanken nahe, die sittlichen Werte für die einzelnen Fälle und Verhältnisse quantitativ zu bestimmen. Der Gedanke von Hobbes und Locke, auf das utilistische Prinzip eine streng demonstrativ-ethische Erkenntnis zu gründen, schien damit eine bestimmte, der naturwissenschaftlichen Denkart willkommene Gestalt gefunden zu haben. Dieser Verlockung ging Bentham nach, und darin besteht das Eigentümliche seiner mit warmem Gemeinnützigkeitssinn vorgetragenen und später viel genannten Ausführung des utilistischen Gedankens. Sie läuft darauf hinaus, genau bestimmte Maße zu finden, nach denen der Wert jeder Handlungsweise für das Wohl des Handelnden selbst und der Gesamtheit, welcher er angehört, teils an sich teils im Verhältnis zu andern Verfahrensarten ermittelt werden könne, und Bentham entwirft in seiner Tabelle der Werte und Unwerte mit weitschichtiger Betrachtung der individuellen wie der sozialen Verhältnisse und Bedürfnisse ein Schema der Lust- und Unlustbilanz für die Berechnung der nützlichen und schädlichen Folgen menschlicher Tätigkeiten und Einrichtungen. Aehnlich wie bei Hume (Vgl. unten Nr. 12) fällt auch hier die Ausrechnung des sittlich Wertvollen dem abmessenden Verstande zu; aber die Faktoren, mit denen er dabei operiert, sind lediglich Lust- und Unlustgefühle.

10. Die enge Verbindung, worin sich historisch seit Hobbes dieser Utilismus mit dem selfish system, d.h. mit der Annahme einer wesentlich egoistischen[429] Bestimmtheit der menschlichen Natur befand, führte notwendig dazu, die Frage nach dem Kriterium der Sittlichkeit und der Art seiner Erkenntnis von derjenigen nach der Sanktion der moralischen Gebote und den Motiven ihrer Befolgung zu sondern. Für die metaphysischen Theorien lag die Sanktion der ethischen Gebote in den ewigen Wahrheiten des Naturgesetzes: und auch psychologisch schien es für das Streben nach Vervollkommnung, für das Ausleben der Persönlichkeit, für die Befolgung angeborener sittlicher Neigungen keines weiteren und besonderen Motivs zu bedürfen: das Moralische verstand sich unter solchen Voraussetzungen von selbst. Wer aber pessimistischer vom Menschen dachte, wer ihn für ein ursprünglich und seiner Natur nach nur durch die Rücksicht auf eigenes Wohl und Wehe bestimmtes Wesen hielt, der mußte fragen, mit welchem Recht von einem solchen Wesen eine altruistische Handlungsweise verlangt werde, und wodurch er sich zur Befolgung dieser Anforderung bestimmen lasse. War die Sittlichkeit nicht in der Natur des Menschen von selbst gelegen, so mußte angegeben v erden, wie sie von außen in ihn hineinkommt.

Hier leistete nun das schon von Hobbes und Locke herbeigezogene Prinzip der Autorität seihen Dienst. Seine handgreifliche Auffassung war die theologische: in feinerem Begriffsgefüge wurde sie von Butler, mit grober Gemeinfaßlichkeit von Paley ausgeführt. Die Utilität ist für beide das Kriterium der sittlichen Handlung, und das göttliche Gebot gilt beiden als Rechtsgrund der ethischen Anforderungen. Während aber Butler noch die Erkenntnis dieses göttlichen Willens in dem natürlichen Gewissen sucht, wozu er (auch mit dem Namen »Reflexion«) die Shaftesburyschen Reflexionsaffekte umdeutet, ist für Paley weit mehr die positive Offenbarung des göttlichen Willens maßgebend: und die Befolgung dieses Gebotes erscheint ihm deshalb nur dadurch erklärlich, daß die autoritative Macht ihren Befehl mit Lohnverheißung und Strafandrohung verbunden hat. Dies ist die schärfste, dem common-sense der christlichen Welt vielleicht am meisten entsprechende Sonderung der ethischen Prinzipien: das Kriterium des Moralischen ist das Wohl des Nächsten, der Erkenntnisgrund dafür das geoffenbarte Gesetz Gottes, der sanktionierende Realgrund der Wille des Höchsten, und das sittliche Motiv im Menschen ist die Hoffnung auf den Lohn und die Furcht vor der Strafe, welche Gott für Gehorsam und Ungehorsam bestimmt hat.

11. Wurde somit bei Paley die Tatsächlichkeit des sittlichen Handelns dadurch erklärt, daß der an sich egoistische Mensch auf dem Umwege einer theologischen Motivation schließlich durch ebenso egoistische Triebfedern der Hoffnung und Furcht zu der von Gott befohlenen altruistischen Handlungsweise bestimmt wird, so setzte die sensualistische Psychologie an die Stelle der theologischen Vermittlung die Autorität des Staats und die Nötigungen des geselligen Zusammenlebens. Ist der Wille des Menschen in letzter Instanz immer nur durch das eigene Wohl und Wehe bestimmbar, so ist sein altruistisches Handeln nur dadurch begreiflich, daß er darin das unter den gegebenen Verhältnissen verständigste, sicherste und einfachste Mittel zur Herbeiführung der eigenen Glückseligkeit sieht. Während deshalb die theologischen Utilitarier den natürlichen Egoismus mit den Belohnungen des Himmels und den Strafen der Hölle bändigen zu sollen meinten, schien den Empiristen für diesen[430] Zweck die durch den Staat und den gesellschaftlichen Zusammenhang gefügte Lebensordnung zu genügen. Der Mensch findet sich in solchen Verhältnissen, daß er bei rechter Ueberlegung einsieht, er werde seinen Vorteil am besten durch Unterordnung unter die bestellenden Sitten und Gesetze erreichen. Die Sanktion der ethischen Anforderungen liegt hiernach in der durch das Prinzip der Utilität diktierten Gesetzgebung des Staats und der öffentlichen Sitte, und das Motiv des Gehorsams besteht darin, daß der einzelne dabei seine Rechnung findet. So haben Mandeville, Lamettrie und Helvétius das selfish system ausgebaut, wobei namentlich Lamettrie mit geschmacklos kokettem Cynismus »Hunger und Liebe« in ihrer gemeinsten sinnlichen Bedeutung als die Grundtriebfedern alles Menschenlebens darzutun suchte – eine elende, weil gekünstelte Imitation des antiken Hedonismus.

Sittlichkeit erscheint danach nur als eudämonistische Klugheit, als »wohl verstandener« und gesellschaftlich verfeinerter Egoismus, als das Raffinement des Lebenskundigen, der eingesehen hat, daß er, um glücklich zu werden, keinen besseren Weg einschlagen kann, als sittlich, v. wenn nicht zu sein, so doch zu tun. Diese Ansicht kommt als Lebensprinzip der »großen Welt« jener Tage mehrfach in der Aufklärungsphilosophie zu Wort: sei es als naiv-cynisches Bekenntnis eigener Gesinnung wie in Lord Chesterfields bekannten Briefen seinen Sohn, – sei es in der Form moralisierender Betrachtungen wie bereits in Larochefoucaulds »Maximes et réflexions« (1665 und erweitert 1678) und in Labruyères »Charaktères« (1687), wo schonungslos die Maske von dem gesitteten Betragen der Menschen gerissen und, als das überall allein treibende Moment der nackte Egoismus enthüllt wird, – sei es endlich als bittere Satire wie bei Swift, wo zum Schluß die wahre Natur der Menschenbestie von Gulliver bei den Yahoos entdeckt wird.

Hand in Hand mit dieser trüben Auffassung von der natürlichen Gemeinheit des Menschen geht durch das Aufklärungszeitalter die Ansicht, daß die Erziehung zu ethischem Handeln durch die Macht und die Autorität mit Furcht und Hoffnung an eben dies niedrige Triebsystem zu appellieren habe. Das zeigt sich charakteristischerweise selbst bei solchen, welche für den reifen und voll entwickelten Menschen eine reine, über allen Egoismus erhabene Moralität in Anspruch nahmen. So findet z.B. Shaftesbury für die Erziehung der großen Masse die positive Religion mit ihrer Moralpredigt des Lohndienstes und der Strafenfurcht gerade gut genug. So meinte auch Preußens philosophischer König, Friedrich der Große,885, der für sich selbst ein so strenges, reines, aller selbstischen Nebenrücksichten bares Pflichtbewußtsein besaß und für das höchste sittliche Gut erklärte, doch hinsichtlich der staatlichen Erziehung der Menschen, sie habe überall an deren nächste, wenn auch noch so niedrige Interessen anzuknüpfen: denn er gab den Encyklopädisten zu, daß der Mensch in genere nie durch etwas anderes, als durch seine persönlichen Interessen zu bestimmen sei. In dieser Hinsicht haben namentlich die französischen Aufklärer die Motive zu analysieren gesucht, durch deren Erweckung der Staat die Bürger für seine Gesamtinteressen zu gewinnen vermag. Montesquieu zeigte mit feiner Psychologie, wie verschieden sich dies Verhältnis bei den verschiedenen[431] Verfassungsformen gestaltet. Lamettrie wies, wie schon Mandeville, auf das Ehrgefühl als auf den kräftigsten Faktor der gesellschaftlichen Gesinnung bei zivilisierten Völkern hin, und Helvétius führte diesen Gedanken des breiteren aus.

Wenn aber so die sensualistische Psychologie vom Staate allein die sittliche Erziehung des Menschen erwartete, so mußte der Grad, worin ihm diese gelang, als Maßstab für die Wertbeurteilung der öffentlichen Einrichtungen gelten. Diese Konsequenz hat Holbach im Systeme de la nature gezogen, und der gewinnendste Zug dieses trockenen Buches ist vielleicht die Ehrlichkeit und die Energie, womit es zu zeigen bemüht ist, wie wenig die verrotteten Zustände des damaligen öffentlichen Lebens geeignet waren, den Bürger über die Niedrigkeit selbstsüchtiger Bestrebungen hinauszuheben.

12. Als der allseitigste Niederschlag dieser Bewegung und als die feinfühligste Abwägung der in ihr streitenden Denkmotive darf Humes Moralphilosophie gelten. Auch sie steht durchaus auf dem Boden der psychologistischen Methode: durch eine genetische Untersuchung der Affekte, Gefühle und Willensentscheidungen soll das sittliche Leben des Menschen begriffen werden. Dabei ist nun das Bedeutsamste in Humes Lehre die Trennung des Utilismus vom selfish system. Das Kriterium der sittlichen Billigung und Mißbilligung bildet auch für ihn die Wirkung, welche die zu beurteilende Eigenschaft oder Handlung an Lust- und Unlustgefühlen herbeizuführen geeignet ist, und er faßt dies wie die Alten und Shaftesbury im weitesten Sinne, indem er als Gegenstände des sittlichen Wohlgefallens nicht nur die »sozialen Tugenden«, wie Gerechtigkeit, Wohlwollen u. a., sondern auch die »natürlichen Tüchtigkeiten«886 wie Klugheit, Mut, Energie betrachtet. Aber wir empfinden diese Billigung dafür auch dann, wenn sie für unser eigenes Wohl völlig gleichgültig oder gar wenn sie ihm schädlich sind; und dies kann unmöglich durch bloße associationspsychologische Vermittlungen auf den Egoismus zurückgeführt werden. Ebenso verbietet aber die Beziehung, welche diese Beurteilungen zu den verwickelten Verhältnissen der Erfahrung besitzen, die Annahme ihres Eingeborenseins. Sie müssen vielmehr auf eine einfache Grundform zurückgeführt werden, und dies ist die Sympathie887, d.h. zunächst die Fähigkeit des Menschen, fremdes Wohl und Wehe wenigstens in abgeschwächter Form wie eigenes mitzufühlen. Solche sympathischen Gefühle sind aber nicht nur die impulsiven Gründe der moralischen Urteile, sondern auch die ursprünglichen Motive des moralischen Handelns; denn die Gefühle sind die Ursachen der Willensentscheidungen. Diese ursprünglichen Impulse reichen jedoch allein für die Erklärung des ethischen Urteilens und Handelns noch nicht aus. Für die verwickelteren Verhältnisse des Lebens bedarf es der Klärung, Ordnung und vergleichenden Wertung der Gefühlsmomente, und dies ist die Sache der Vernunft. Aus ihrer Ueberlegung entspringen daher neben den natürlichen und ursprünglichen auch abgeleitete, »künstliche« Wertungen, als deren Typus Hume – hierin offenbar von Hobbes abhängig – die Gerechtigkeit und das ganze System rechtlicher Normen behandelt. In letzter Instanz aber verdanken auch diese Bestimmungen ihre Fähigkeit, die Beurteilung und die[432] Willensentscheidung zu beeinflussen, nicht der vernünftigen Ueberlegung als solcher, sondern den Gefühlen der Sympathie, an welche sie appelliert.

So zerfasert sich die grobe Auffassung des moral sense durch Humes Untersuchung zu einem feinverzweigten System moralpsychologischer Begriffsdifferenzen, als dessen Mittelpunkt das Prinzip der Sympathie erscheint. Ein weiterer Schritt in der Ausführung desselben Grundgedankens geschah in dem ethischen Werke von Adam Smith. Schon Hume hatte gegenüber der Aeusserlichkeit, womit der gewöhnliche Utilismus das Kriterium des sittlichen Urteils in die Lust- und Unlustfolgen der Handlung verlegte, energisch darauf hingewiesen, daß die ethische Billigung oder Mißbilligung vielmehr die in der Handlung sich betätigende Gesinnung, sofern sie auf jene Folgen gerichtet sei, betreffe. Smith fand daher das Wesen der Sympathie nicht nur in der Fähigkeit, diese Folgen im Sinne der Betroffenen mitzufühlen, sondern auch in dem Vermögen, sich in die Gesinnung des Handelnden zu v ersetzen und seine Motive als eigene mitzuerleben. Und mit immer weiterer Ausspinnung des Gedankens der sympathischen Uebertragung wird dann die im Gewissen sich darstellende Selbstbeurteilung des Einzelnen als ein durch Sympathiegefühle vermittelter Reflex der Beurteilung begriffen, die er von andern erfährt und an andern ausübt, – ein Gedanke, der schon in Butlers Lehre von den Affekten der Reflexion vorbereitet war.

In dem geselligen Zusammenleben, dessen psychologische Grundlage die Sympathie ist, wurzeln somit nach Hume und Smith alle Erscheinungen des ethischen Lebens, und der Begründer der Nationalökonomie sieht mit seinem großen philosophischen Freunde in dem Mechanismus der sympathischen Gefühlsübertragungen eine ähnliche Ausgleichung individueller Lebensinteressen, wie er sie auf dem Gebiete des Austausches der äußeren Güter mit Rücksicht auf die Knappheit der Lebensbedingungen in dem, Mechanismus von Angebot und Nachfrage bei dem Wettbetriebe der Arbeit gefunden zu haben glaubte.888 Aber mit diesen Einsichten in die durchgängige Abhängigkeit des Individuums von einem gesellschaftlichen Lebenszusammenhange, den es nicht erzeugt, sondern als die Voraussetzung seiner Existenz vorfindet, weist die Aufklärungsphilosophie bereits über sich selbst hinaus.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 420-433.
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