§ 44. Der Kampf um die Seele.

  • [532] Literatur: H. MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie Bd. I, Die Prinzipien, Leipz. 1900.
    ED. v. HARTMANN, Die moderne Psychologie, Leipz. 1901.
    G. VILLA, Einleitung in die Psychologie der Gegenwart, deutsch von Pflaum, Leipz. 1902.

Eine charakteristische Veränderung in den allgemeinen wissenschaftlichen Verhältnissen während des 19. Jahrhunderts ist die stetig fortschreitende und jetzt als prinzipiell vollendet anzuschende Ablösung der Psychologie von der Philosophie.1060 Sie folgte aus dem rapiden Niedergang des metaphysischen Interesses und der metaphysischen Leistungen, welcher zumal in Deutschland[532] als natürlicher Rückschlag auf die hohe Spannung des spekulativen Denkens eintrat. So eines allgemeineren Rückhaltes beraubt, besaß die Psychologie in dem Bestreben, sich als rein empirische Wissenschaft zu befestigen, zunächst nur geringe Widerstandskraft gegen den Einbruch der naturwissenschaftlichen Methode, wonach sie als ein Spezialfach der Physiologie oder der allgemeinen Biologie behandelt werden sollte. Um diese Frage gruppieren sich eine Reihe lebhafter Bewegungen.

1. Im Anfang des Jahrhunderts bestand ein reges Wechselverhältnis zwischen der französischen Ideologie und den Ausläufen der englischen Aufklärungsphilosophie, die in Associationspsychologie und Common-sense-Lehre gespalten war: dabei war jedoch jetzt Frankreich der führende Teil. Hier aber trat immer schärfer der Gegensatz heraus, der in dem französischen Sensualismus von Anfang an zwischen Condillac und Bonnet bestanden hatte (vgl. § 33, 7). Bei Destutt de Tracy und noch bei Laromiguière kommt es nicht zu einer scharfen Entscheidung. Dagegen ist Cabanis der Führer der materialistischen Richtung: seine Untersuchung über den Zusammenhang des physischen und des seelischen (moral) Wesens des Menschen kommt an der Betrachtung der verschiedenen Einflüsse des Alters, des Geschlechts, des Temperaments, des Klimas etc. zu dem Ergebnis, daß überall das Seelenleben vom Leibe und seinen physischen Beziehungen bestimmt sei. Wenn deshalb die organischen Funktionen, wenigstens im Prinzip, lediglich auf mechanische und chemische Prozesse zurückgeführt wurden, so schien die Seele, weil sie als Lebenskraft überflüssig geworden war, auch als Träger des Bewußtseins ausgedient zu haben.

In der Ausführung dieser Gedanken gaben andere Aerzte, z.B. Broussais dem Materialismus einen noch schärferen Ausdruck: die intellektuelle Tätigkeit ist »eines der Resultate« der Gehirnfunktionen. Begierig ergriff man daher die wunderliche Hypothese der Phrenologie, womit Gall die einzelnen »Vermögen«, über die bisher die empirische Psychologie verfügt hatte (vgl. oben § 41, 3), an bestimmten Stellen des Gehirns lokalisierte Es war nicht nur ein lustiges Treiben, als man im Publikum vernahm, daß sogar außen am Schädel die mehr oder minder kräftige Entwicklung der einzelnen Begabungen zu erkennen sei, sondern es knüpfte sich, namentlich bei Medizinern, daran auch die Meinung, daß ja damit nun die Materialität des sogenannten Seelenlebens zweifellos aufgedeckt sei. Besonders in England hat der phrenologische Aberglaube, wie der Erfolg von Combes Schriften zeigt, sehr großes Interesse hervorgerufen und auch wissenschaftlich einer rein physiologischen Psychologie im Sinne Hartleys Vorschub geleistet.

Erst Johann Stuart Mill hat im Gefolge seines Vaters seine ideologisch und empiristisch gesinnten Landsleute zu Humes Auffassung der Associationspsychologie zurückgeführt. Ohne danach zu fragen, was Materie und was Geist an sich seien, soll man von der Tatsache ausgehen, daß die körperlichen und die geistigen Zustände zwei völlig unvergleichliche Gebiete der Erfahrung darstellen, und daß die Psychologie als die Wissenschaft von den Gesetzen des geistigen Lebens die Tatsachen, die dieses ausmachen, in sich selbst studieren muß und sie nicht auf Gesetze einer andern Daseinssphäre zurückführen darf. Im Anschluß an Mill hat Alex. Bain die Associationspsychologie[533] fortgebildet, indem er namentlich auf die Bedeutung der Muskelempfindungen hinwies, worin die der leiblichen Bewegung entsprechenden Fundamentaltatsachen des Seelenlebens zu finden seien. Diese Associationspsychologie will somit zwar von einer Materialität der Seelenzustände durchaus nichts wissen; aber als Prinzip des seelischen Geschehens kennt auch sie nur den Mechanismus von Vorstellungen und Trieben: ihre erkenntnistheoretische Grundlage ist fast durchweg positivistisch.

2. Viel schärfer tritt deshalb der Gegensatz zu der materialistischen Psychologie bei denjenigen Richtungen hervor, welche die einheitliche Aktivität des Bewußtseins betonen. Nach de Tracys Vorgang unterschied schon Laromiguières Ideologie zwischen den »Modifikationen«, welche die bloße Folge leiblicher Erregungen sind, und den »Aktionen« der Seele, worin diese bereits beim Wahrnehmen ihre Selbständigkeit betätigt. In der Schule von Montpellier glaubte man sogar noch an die »Lebenskraft«, die Barthez allerdings als ein völlig Unbekanntes von Leib und Seele getrennt denken wollte; aber auch Bichat unterschied vom »organischen« Leben das »animale« durch das Merkmal der spontanen »Reaktion«. Zur vollen Ausbildung aber ist dies Moment in der Psychologie durch Maine de Biran gekommen, der unermüdlich und mit immer neuen Wendungen an einer prinzipiellen Abgrenzung der Psychologie von der Physiologie arbeitete. Der feine Grübelsinn dieses Philosophen hat mannigfache Anregungen aus der englischen und der deutschen Philosophie erfahren: hinsichtlich der letzteren ist die wenn auch nur oberflächliche Bekanntschaft mit Kants und Fichtes Lehren und mit dem Virtualismus des in Paris merkwürdig oft genannten Bouterwek hervorzuheben.1061 So ist die Grundtatsache, auf welche Maine de Biran seine Theorie gründet, die, daß wir im Willen zugleich unsere eigene Aktivität und den Widerstand des »Non-Moi« (zunächst des eigenen Leibes) unmittelbar erleben. Die Reflexion der Persönlichkeit auf diese ihre eigene Betätigung bildet den Ausgangspunkt aller Philosophie, für deren Erkenntnis somit die innere Erfahrung die Form, die Erfahrung des Widerstrebenden den Stoff darbietet. Aus der Grundtatsache werden die Begriffe Kraft, Substanz, Ursache, Einheit, Identität, Freiheit, Notwendigkeit entwickelt. Derart baut Maine de Biran auf die Psychologie ein metaphysisches System, das vielfach an Descartes und Malebranche erinnert, aber dessen cogito ergo sum durch ein volo ergo sum ersetzt; eben deshalb aber hat er sich ganz besonders bemüht, den Begriff der inneren Erfahrung (sens intime) als die an sich deutliche und selbstverständliche Grundlage aller Geisteswissenschaft zu erweisen, für deren Grundprinzip er das Selbstbewußtsein der wollenden Persönlichkeit ansah. Diese bedeutsamen, gegen die naturalistische Einseitigkeit des 18. Jahrhunderts gerichteten Gedanken hat Maine de Biran für seine eigene Ueberzeugung namentlich gegen den Schluß seines Lebens noch durch eine mystische Wendung ergänzt, welche das Aufgeben und Aufgehen der Persönlichkeit in die Liebe[534] Gottes als höchste Lebensform betrachtet. Seine wissenschaftliche Lehre dagegen hat bei seinen Freunden wie Ampére, Jouffroy und Cousin noch weitere Berührungen teils mit der schottischen, teils mit der deutschen Philosophie gefunden, dabei aber eben vermöge der eklektischen Aneignungen manches von ihrer Eigenart eingebüßt. Dies zeigt sich schon äußerlich darin, daß seine so modifizierte Ansicht, namentlich in der Lehrform, die sie durch Cousin erhielt, gern als Spiritualismus bezeichnet wurde: in der Tat hat sie durch die intellektualistischen Zutaten, die ihr besonders Cousin aus der deutschen Identitätsphilosophie zuführte, eine Abänderung ihres ursprünglichen Charakters erfahren, den man besser als Voluntarismus bezeichnet hätte; in diesem Sinne haben später Ravaisson und in einer noch selbständigeren, mehr an den kantischen Kritizismus angelehnten Form Renouvier von dem Eklektizismus zu Maine de Biran und teilweise zu Leibniz zurückzurufen gesucht1062: daneben aber hat namentlich Renouvier die kritizistischen Prinzipien nicht nur in der Erkenntnistheorie, sondern auch in metaphysischer und geschichtsphilosophischer Hinsicht durchaus dualistisch zugespitzt, indem er auf allen Gebieten das niemals ganz ausgleichbare Bestehen der Gegensätze sowie die irrationalen, zufälligen Reste in aller Wirklichkeit betont. Mit immer neuen Wendungen, die z. T. in wunderliche Konstruktionen auslaufen, hat er dieses Prinzip durchzufahren unternommen.

Einen kräftigen und originellen Aufschwung hat die spiritualistische Metaphysik neuerdings durch Bergson gewonnen. Er geht von der Kritik der naturwissenschaftlichen Weltansicht aus und zeigt, daß, wie das Gehirn biologisch nur die Funktion einer Umsetzung sensibler in motorische Funktionen habe, so auch die aus der Sensibilität entwickelte begriffliche Vorstellungsweise nur den Sinn habe, als Mittel zum Handeln zu dienen: deshalb sei sie behufs der Voraussicht eine Theorie gesetzmäßiger Stabilität. Im Gegensatz dazu will Bergson aus den unmittelbaren Gegebenheiten des Selbsterlebnisses eine Metaphysik der Persönlichkeit, der Freiheit und der schöpferischen Entwicklung begründen.1063

3. Ueberhaupt jedoch ist der Voluntarismus die vielleicht am stärksten ausgeprägte Tendenz der Psychologie des 19. Jahrhunderts. In Deutschland hat nach dieser Seite hauptsächlich Fichtes und Schopenhauers Metaphysik gewirkt. Nach beiden besteht das Wesen des Menschen im Willen, und die Färbung. die eine solche Ansicht der ganzen Weltanschauung gibt, hat durch den Verlauf der deutschen Geschichte in unserem Jahrhundert und die damit zusammenhangende Wandlung der Volksseele nur verstärkt werden können. Die bis zum äußersten gesteigerte Bedeutung des Praktischen und ein nicht ungefährliches Zurückdrängen des Theoretischen sind immer mehr als charakteristische Züge der Zeit hervorgetreten. In wissenschaftlicher Form zeigt sich das schon früh bei Beneke, der seine Darstellung der Associationspsychologie (vgl. oben § 41, 8) dadurch eigenartig gestaltete, daß er die Elemente des Seelenlebens – er nannte sie »Urvermögen« – als aktive Prozesse oder als Triebe[535] auffaßte, welche, durch die Reize ursprünglich zur Tätigkeit ausgelöst, in ihrem inhaltlichen Beharren (als »Spuren«) und in ihrer gegenseitigen Ausgleichung bei fortwährender Erzeugung neuer Kräfte die scheinbar substantielle Einheit des Seelenwesens zu stande bringen sollen: die Seele ist danach ein Bündel, nicht mehr wie bei Hume von Vorstellungen, sondern von Trieben, Kräften und »Vermögen«, während den klassifikatorischen Gattungsbeziehungen, wozu man früher den letzteren Ausdruck verwendete, jede reale Bedeutung abgesprochen wird (vgl. oben § 41, 3). Diese Lehre durch eine methodische Bearbeitung der Tatsachen der inneren Wahrnehmung induktiv zu begründen, gilt für Beneke als die einzig mögliche Voraussetzung für die philosophischen Disziplinen wie Logik, Ethik, Metaphysik und Religionsphilosophie: er geht dabei auf eine Theorie der Werte aus, die den Reizen (den sog. »Dingen«) wegen der Steigerung oder Herabstimmung der Triebe zukommen.

Dem Psychologismus Benekes hat Fortlage metaphysische Linien gegeben, indem er ihn in Fichtes Wissenschaftslehre hineinarbeitete. Auch er faßt die Seele, damit aber zugleich auch den Zusammenhang der Dinge als ein Triebsystem auf, und vielleicht keiner hat so scharf wie er den Begriff des substratlosen Tuns1064 als Quelle des substantiellen Seins durchgeführt. Er hat das Wesen des seelischen Geschehens darin erkannt, daß aus ursprünglichen Funktionen sich bleibende Inhalte durch synthetisches Zusammenwachsen niederschlagen: damit aber zeigte er wieder den Weg, auf dem allein die Metaphysik von dem Schema des materiellen Geschehens, als einer Bewegung unveränderlicher Substanzen wie der Atome, loskommen kann. Zugleich aber lagen in diesen Lehren die Ansätze zu der Auffassung, daß auch die Prozesse der Vorstellungsbewegung, der Aufmerksamkeit und der urteilsmäßigen Wertung als Funktionen des »Triebes«, der Frage und der Zustimmung bezw. Verwerfung, angesehen werden müssen. Es ist freilich nicht ausgeblieben, daß in der späteren Entwicklung die psychologische Analyse der Denktätigkeit sich auch auf dem Gebiete der Logik einbürgerte und hier vielfach den Blick von den eigentlichen Problemen abzog. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat der Psychologismus ganz ähnlich gewuchert wie im 18. Jahrhundert und in seiner Ausartung auch zu denselben Erscheinungen seichtester Popularphilosophie geführt wie damals.

4. Auch in England besteht der traditionelle Psychologismus noch immer, und daran ist im wesentlichen auch durch die Umgestaltung nichts geändert worden, welche Hamilton unter dem Einflusse der deutschen Philosophie und besonders Kants der schottischen Lehre gegeben hat. Auch er verteidigt den Standpunkt der inneren Erfahrung und betrachtet ihn als maßgebend für alle philosophischen Disziplinen: nur in den einem jeden geläufigen und unmittelbar verständlichen Tatsachen des Bewußtseins ist Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit zu finden. Aber in diesen Tatsachen (und zu ihnen gehört auch jede einzelne Wahrnehmung von dem Vorhandensein eines äußeren Dinges) gelangt immer nur Endliches in endlichen Verhältnissen und Beziehungen zu unserer Erkenntnis, und in diesem Sinne (also ohne den kantischen Begriff der Phänomenalität) ist für Hamilton das menschliche Wissen auf Erfahrung des Endlichen[536] beschränkt. Vom Unendlichen und Absoluten, d.h. von Gott hat der Mensch nur die moralische Glaubensgewißheit: dagegen hat von diesem »Unbedingten« die Wissenschaft keine Erkenntnis, weil sie als eine wesentlich »beziehende« und »bedingende« Tätigkeit nur solches denken kann, was sie, um es aufeinander zu beziehen, voneinander unterscheidet (Kants Begriff der Synthesis). Diesen »Agnostizismus« hat dann Mansel mit noch mehr skeptisch gewendeter Ausnützung der kantischen Erkenntnistheorie in den Dienst der Offenbarungstheologie gestellt, indem er zeigte, daß die religiösen Dogmen für die menschliche Vernunft durchweg unbegreifbar, aber eben deshalb auch unangreifbar seien. Die Unerkennbarkeit des »Absoluten« oder des »Unendlichen«, wie sie Hamilton gelehrt hatte, spielt aber auch noch in andern philosophischen Richtungen Englands, z.B. in Herbert Spencers Lehre und bei den Vertretern des Positivismus und Pragmatismus, eine wichtige Rolle.

Der Psychologie gegenüber, die es nur mit der Feststellung von Tatsachen des Bewußtseins zu tun hat, behandelt Hamilton Logik, Aesthetik und Ethik (entsprechend den drei Klassen der psychischen Phänomene) als die Lehre von den Gesetzen, unter denen die Tatsachen stehen; doch kommt es dabei nicht zu voller Deutlichkeit über den normativen Charakter dieser Gesetzgebung, und so bleiben hier prinzipiell auch die philosophischen Disziplinen im Psychologismus stecken. In der Ausführung aber gestaltet sich Hamiltons logische Theorie zu einer der ausgeprägtesten Erscheinungen der formalen Logik: es handelt sich für ihn nur um eine systematische Darstellung der Verhältnisse, die zwischen Begriffen bestehen; und er richtet, das Prinzip der aristotelischen Analytik (vgl. oben § 12, 3) übertrumpfend, die ganze Untersuchung auf die Beziehungen der Quantität. Jedes Urteil soll eine (rein umkehrbare) Gleichung sein, welche aussagt, wie sich die Umfänge der beiden Begriffe zueinander verhalten, so daß z.B. ein Subordinationsurteil (wie etwa »die Rose ist eine Blume«) die Form annehmen muß: »alle S – einige P.« Dazu gehört also, daß das Prädikat ebenso »quantifiziert« wird, wie es bisher in den logischen Lehren nur mit dem Subjekt zu geschehen pflegte. Waren so alle Urteile auf die Form von Gleichungen zwischen Begriffsumfängen gebracht, so erschienen Folgerungen und Schlüsse als Rechnungsoperationen mit gegebenen Größen, d.h. das Prinzip der terministischen Logik, wie es Occam (vgl. oben § 27, 4), Hobbes (§ 31, 2) und Condillac (§ 34, 8) formuliert hatten, schien zur völligen Durchführung gebracht. So breitet sich von Hamilton her die »neue Analytik« oder die »kalkulatorische Logik« aus – ein weiter Tummelplatz für den gymnastischen Sport unfruchtbaren Scharfsinns. Denn es ist offenbar, daß eine solche Logik sich nur an einem einzigen und noch dazu einem der unbedeutendsten unter den zahlreichen Verhältnissen fortspinnt, die zwischen Begriffen möglich und der Gegenstand von Urteilen sind, und daß somit gerade die wertvollen Beziehungen des logischen Denkens aus dieser Art von Analytik herausfallen. Aber die mathematische Exaktheit, mit der diese ihr Regelwerk zu entwickeln schien, hat für sie, nicht nur in England, eine Reihe tüchtiger Forscher eingenommen, die es übersahen, daß von dem ganzen so sauber ausgearbeiteten Formelapparat das lebendige, sachliche Denken des Menschen nichts weiß.

5. Bei den Debatten über die Seelenfrage in Frankreich und England[537] mischt sich natürlich auch immer das religiöse oder theologische Interesse an dem Begriffe der Seelensubstanz ein: im Vordergrund stand dieses bei den sehr heftigen Streitigkeiten, die in Deutschland zur Auflösung der Hegelschen Schule führten. Sie drehten sich wesentlich um die Persönlichkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Der Hegelianismus konnte als »preußische Staatsphilosophie« nicht bestehen, wenn er nicht darin die »Identität der Philosophie mit der Religion« aufrecht erhielt. Die vieldeutige, in den dialektischen Formalismus gehüllte Ausdrucksweise des Meisters, der an solchen Fragen kein direktes Interesse gehabt hatte, begünstigte den Streit um die Rechtgläubigkeit seiner Lehre. In der Tat versuchte die sog.»rechte Seite« der Schule, zu der hervorragende Theologen wie Gabler, Göschel und Hinrichs gehörten, diese Rechtgläubigkeit zu halten; aber wenn es vielleicht zweifelhaft bleiben konnte, wie weit das »Zu-sich-selbst-kommen der Idee« als Persönlichkeit Gottes zu deuten wäre, so wurde anderseits klar, daß in dem System des ewigen Werdens und des dialektischen Uebergangs aller Gestalten ineinander die endliche Persönlichkeit auf den Charakter einer.»Substanz« und auf Unsterblichkeit im religiösen Sinne kaum scheinbar Anspruch zu erheben vermochte.

Dies Motiv drängte einige Philosophen aus der Hegelschen Schule heraus und zu einer »theistischen« Weltansicht, welche (ähnlich wie die von Maine de Biran) den Begriff der Persönlichkeit zu ihrem Mittelpunkte hatte und hinsichtlich der endlichen Persönlichkeiten sich der Leibnizschen Monadologie zuneigte. Der jüngere Fichte bezeichnete diese geistigen Realitäten als »Urpositionen«; die bedeutendste Ausführung des Gedankens ist das philosophische System von Chr. Weisse, welches ontologisch den Begriff des Möglichen über den des Seins stellt, um dann alles Sein aus der Freiheit, als der Selbsterzeugung der Persönlichkeit (FICHTE). abzuleiten. In dem Verhältnis des Möglichen und des Wirklichen wiederholen sich hier der Leibnizsche Gegensatz von vérités eternelles und vérités de fait und die Probleme, welche Kant in dem Begriffe der »Spezifikation der Natur« zusammenfaßte (vgl. oben § 40, 7) innerhalb der nicht fortzudenkenden »Möglichkeiten« ist das Wirkliche zuletzt immer so, daß es auch anders zu denken wäre; d.h. es ist nicht abzuleiten, es muß als durch Freiheit gegeben angesehen werden. Gesetz und Tatsächlichkeit sind aufeinander nicht zu reduzieren. Mit mehr psychologischer Ausführung dieser Ansichten betrachtete Ulrici das Selbst als Voraussetzung der »unterscheidenden« Tätigkeit, womit er alles Bewußtsein identifizierte, und woraus er ebenso die logische wie die psychologische Theorie entwickelte.

6. Von der Gegenpartei wurde gerade die in der Restaurationszeit an Macht und Anspruch wachsende Orthodoxie mit den Waffen des Hegelianismus bekämpft, wobei in publizistischer Vertretung des religiösen wie des politischen Liberalismus Ruge den Führer abgab. Wie pantheistisch und spinozistisch von dieser Seite her das idealistische System aufgefaßt wurde, sieht man am besten aus Feuerbachs »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit«, wo die göttliche Unendlichkeit als der letzte Lebensgrund des Menschen und sein Aufgehen darin als die wahre Unsterblichkeit und Seligkeit gefeiert wird. Von diesem idealen Pantheismus aus ist Feuerbach dann sehr schnell durch[538] verschiedene, immer radikaler werdende Zwischenstufen hindurch zu den radikalsten Aenderungen seiner Lehre fortgeschritten Er fühlte, daß das panlogistische System das natürliche Einzelding nicht zu erklären vermochte: hatte doch Hegel die Natur das Reich der Zufälligkeit genannt, welches unfähig sei, den Begriff rein zu erhalten. Diese Unfähigkeit, dachte Feuerbach, steckt vielmehr in dem Begriff, den sich der Mensch von den Dingen macht: die allgemeinen Begriffe, in denen die Philosophie denkt, sind allerdings unfähig, das wirkliche Wesen des Einzeldinges zu verstehen. Darum stellt Feuerbach nun das Hegelsche System auf den Kopf, und so gibt es einen nominalistischen Materialismus. Das Wirkliche ist das sinnliche Einzelwesen: alles Allgemeine, alles Geistige ist nur eine Illusion des Individuums. Der Geist ist die »Natur in ihrem Anderssein«. So gibt Feuerbach auch seine rein anthropologische Erklärung der Religion: der Mensch betrachtet sein eigenes Gattungswesen, so wie er selbst zu sein wünscht, als Gott. Diese »Theorie des Wunsches« soll in der Weise Epikurs (vgl. oben § 15, 7) die Menschheit von allem Aberglauben und seinen bösen Folgen befreien. Die Erkenntnislehre dieser »Philosophie der Zukunft« kann nur Sensualismus, ihre Ethik nur Eudämonismus sein: der Glückseligkeitstrieb ist das Prinzip der Moral, und das Mitwollen des fremden Glücks, die Mitfreude, das ethische Grundgefühl.

Nachdem der Materialismus eine so vornehm metaphysische Abkunft erwiesen hatte, bemächtigte man sich zu seinen Gunsten auch der anthropologischen Begründungsweise, die er seit Lamettrie in der französischen Literatur erfahren hatte, und die sich durch die Fortschritte der Physiologie noch zu stärken schien. Lehrte doch auch Feuerbach: der Mensch ist, was er ißt! Und so deutete man wieder die Abhängigkeit der Seele vom Leibe in eine Materialität der Seelentätigkeit selbst um: Vorstellen und Wollen seien »Sekrete« des Gehirns, wie andere Organe andere Dinge ausscheiden. Ein weiterer Bundesgenosse erschien dieser Ansicht in der rein sensualistischen Erkenntnistheorie, wie sie, noch unabhängig von metaphysischen Annahmen, Czolbe entwickelte, der dann später selbst zu einer dicht an den Materialismus streifenden Weltansicht gelangte. Da ihm nämlich Erkenntnis nur als Abbild des Wirklichen möglich erschien, so kam er schließlich dazu, den Vorstellungen selbst räumliche Ausdehnung zuzuschreiben und überhaupt den Raum an Stelle der spinozistischen Substanz als Träger aller Attribute zu betrachten.

So begann sich die materialistische Denkart auch in Deutschland unter den Aerzten und Naturforschern auszubreiten, und dies kam bei der Naturforscherversammlung von 1854 in Göttingen zu Tage. Der Widerspruch zwischen den Folgerungen der Naturwissenschaft und den »Bedürfnissen des Gemüts« wurde das Thema eines auch literarisch heftig fortgesetzten Streites, worin Carl Vogt die Alleinherrschaft der mechanischen Weltansicht verteidigte, Rudolph Wagner dagegen an den Grenzen der menschlichen Erkenntnis die Möglichkeit für einen Glauben gewinnen wollte, der die Seele und ihre Unsterblichkeit rettete. Dies Bestreben, das höchst ungeschickt als »doppelte Buchführung« bezeichnet wurde1065, ist in der Folge (ähnlich wie bei dem Agnostizismus der[539] Engländer) hauptsächlich wirksam gewesen, um bei den Naturforschern, welche die Einseitigkeit des Materialismus durchschauten, aber mit der Teleologie des Idealismus sich nicht befreunden konnten, eine wachsende Neigung für Kant zu erzeugen, in dessen Ding-an-sich sich jene Bedürfnisse des Gemüts dachten zu dürfen meinten. Als dann 1860 Kuno Fischers glänzende Darstellung der kritischen Philosophie erschien, da begann jene »Rückkehr zu Kant«, der es nachher beschieden war, z. T. in literarhistorische Mikrologie auszuarten. Der naturwissenschaftlichen Stimmung, aus der sie entsprang, hat Albert Langes »Geschichte des Materialismus« den Ausdruck gegeben. Freilich liefen dabei manche Mißverständnisse mit unter, indem selbst große Naturforscher wie Helmholtz1066 den transzendentalen Idealismus mit Lockes Semeiotik und seiner Lehre von den primären und sekundären Qualitäten verwechselten, und indem anderseits etwas später eine namhafte Theologenschule unter der Führung Ritschls die Lehre vom Ding-an-sich in einer dem englischen Agnostizismus verwandten Weise sich zu eigen machte.

Die philosophische Erneuerung des Kantianismus, die sich, besonders auch seit O. Liebmanns eindrucksvollem Buche »Kant und die Epigonen« (1865), durch die ganze zweite Hälfte des Jahrhunderts hindurchzieht, zeigt das Bild einer bunten Mannigfaltigkeit, worin sich mit allen Abstufungen der Gegensatz der Deutungen wiederholt, die Kants Lehre schon gleich nach ihrem Erscheinen erfahren hatte. Empiristische und rationalistische Auffassung standen dabei wiederum im Streit, und ihre historische, wie ihre systematische Ausgleichung ist schließlich der pragmatischen Notwendigkeit unterlegen, daß sich daraus allmählich eine Rückkehr zu Fichte entwickelt hat. Wiederum ist heute eine idealistische Metaphysik im Werden, als deren Hauptvertreter R. Eucken angesehen werden muß.

In allen Formen aber hat diese neukantische Bewegung mit ihrer ernsten erkenntnistheoretischen Arbeit den Erfolg gehabt, daß die oberflächliche Metaphysik des Materialismus in ihrer Unzulänglichkeit und Unmöglichkeit durchschaut und abgewiesen wurde. Selbst da, wo Kants Lehre ganz empiristisch sogar positivistisch gewendet wurde, selbst in der wunderlichen Konsequenzmacherei des sog. Solipsismus wurde der Gedanke, das Bewußtsein als Nebenfunktion der Materie anzusehen, als Absurdität verworfen: viel eher breitete sich die gegenteilige Einseitigkeit aus, der inneren Wahrnehmung im Gegensatz zur äußeren die alleinige primäre Realität zuzusprechen.1067 Die Hauptsache ist, daß das Ende des 19. Jahrhunderts einen verhältnismäßig rapiden Zusammenbruch der lediglich durch Begriffe und Hypothesen der Naturforschung bestimmten Weltansicht erlebt hat: schon ist der Name der Naturphilosophie wieder zu Ehren gekommen, und in den Theorien der »Energetik« bereitet sich von dieser Seite her eine neue Form des philosophischen Verständnisses der Natur vor.1068

Der Materialismus ist damit in der Wissenschaft überwunden: er lebt in populären Darstellungen, wie Büchners »Kraft und Stoff« oder in der feineren[540] Form von Strauß' »Alter und neuer Glaube«1069, er lebt aber auch als Lebensansicht gerade in solchen Kreisen fort, welche die »Ergebnisse der Wissenschaft« aus der gefälligsten Hand zu naschen lieben. Für diese Halbbildung hat er seine charakteristische Darstellung in Häckels Werken und seinem sog. Monismus gefunden.

Für die Psychologie jedoch als Wissenschaft ergab sich auch nach der kritischen Erkenntnistheorie die Notwendigkeit, auf den Begriff der Seelensubstanz als Grundlage ebenso wie als Ziel ihrer Forschung zu verzichten, und als Lehre von den Gesetzen des seelischen Lebens sich nur auf innerer oder äußerer Erfahrung oder auf beiden zusammen aufzubauen. So bekamen wir die »Psychologie ohne Seele«, die von allen metaphysischen Voraussetzungen frei ist – oder zu sein meint.

7. Eine tiefere Versöhnung der Gegensätze hat Lotze von den Grundgedanken des deutschen Idealismus aus gegeben. Er betrachtet den Naturmechanismus als die Form der Gesetzmäßigkeit, worin der Trieb des Lebens und Gestaltens, der das geistige Wesen alles Wirklichen ausmacht, seinen Zweck, das Gute, verwirklicht. Danach hat die Naturwissenschaft allerdings kein anderes Prinzip als das des mechanischen Kausalzusammenhangs, dessen Geltung hier prinzipiell mit Verwerfung der Lehre von der Lebenskraft auch für den Organismus in Anspruch genommen wird; aber die Anfänge der Metaphysik liegen wie diejenigen der Logik nur in der Ethik. In der Ausführung dieses teleologischen Idealismus klingen Motive aus allen großen Systemen der deutschen Philosophie zu einem neuen harmonischen Gebilde zusammen: jedes einzelne Wirkliche hat sein Wesen nur in den lebendigen Beziehungen, worin es zu anderem Wirklichen steht, und diese Beziehungen, welche den Zusammenhang des Universums ausmachen, sind nur möglich, wenn alles Seiende als Teilwirklichkeit in einer substantiellen Einheit begründet ist, und wenn dabei alles Geschehen zwischen den einzelnen Wesen als zweckvolle Verwirklichung eines gemeinsamen Lebensinhalts aufzufassen ist. Diesen metaphysischen Grundgedanken zur vollen Ausführung zu bringen, war Lotze durch die mächtige Universalität berufen, womit er den Tatsachenstoff und die Formen der wissenschaftlichen Bearbeitung in allen besonderen Disziplinen beherrschte, und auch in dieser Hinsicht reibt sich seine Persönlichkeit wie seine Lehre der vorhergehenden Epoche würdig an. Seine eigene Stellung charakterisiert sich am meisten durch die Auffassung der Erkenntnis als einer jener lebendigen und zweckvollen Wechselwirkungen zwischen der »Seele« und andern »Substanzen«. Wenn sich dabei mit der von dem »Dingen« ausgehenden Anregung die »Reaktion« der Seele verbindet, so entfaltet einerseits diese ihre eigene Natur in den Formen der Anschauung und den allgemeinen Wahrheiten, die mit unmittelbarer Evidenz bei diesem Anlasse zum Bewußtsein kommen; anderseits macht dieser Anteil des Subjekts die Vorstellungswelt in der Tat zur Erscheinung; aber diese »Erscheinung« als das zweckvolle Innenleben ist damit selbst kein bloßer Schein, sondern vielmehr ein [541] Reich der Werte, worin sich das Gute verwirklicht. Das Zustandekommen dieser Bewußtseinswelt ist das Wertvollste, was in den Wechselwirkungen der Substanzen überhaupt geschehen kann, der letzte und eigenste Sinn des Weltprozesses. Von diesem Grundgedanken aus hat Lotze in seiner »Logik« die Reihenfolge der Denkformen als einen systematischen Zusammenhang aufzufassen gelehrt, der sich aus den Aufgaben des Denkens entwickelt. In seiner »Metaphysik« hat er die Weltanschauung des teleologischen Idealismus mit scharfsinniger Begriffsarbeit und sorgfältigster Abwägung nach allen Richtungen ausgebildet und in sich bestimmt. Der dritte Teil des Systems, die Ethik, ist leider in dieser strengeren Form nicht mehr ausgeführt worden; dafür liegen die Ueberzeugungen des Philosophen und sein reifes Verständnis des Lebens und der Geschichte in den schönen und feinsinnigen Darstellungen seines »Mikrokosmus« vor.

8. Einen andern Ausweg aus den Schwierigkeiten der naturwissenschaftlichen Behandlung des Seelenlebens hat Fechner gewählt. Er will Leib und Seele als die zwar völlig getrennten und verschiedenartigen, aber stetig miteinander korrespondierenden Erscheinungsweisen eines und desselben unbekannten Wirklichen ansehen und verfolgt diesen Gedanken in der Richtung, daß den physischen Zusammenhängen auch überall geistige Zusammenhänge entsprechen, während uns die letzteren durch Wahrnehmung nur in uns selbst bekannt sind. Wie sich bei uns die Empfindungen, welche der Erregung einzelner Teile des Nervensystems entsprechen, als Oberwellen in der Gesamtwelle unseres Individualbewußtseins darstellen, so läßt sich annehmen, daß die Bewußtheiten der einzelnen Persönlichkeiten wiederum nur Oberwellen eines allgemeineren Bewußtseins, etwa des Planetengeistes sind: und setzt man diese Betrachtung fort, so kommt man schließlich zur Annahme eines universalen Gesamtbewußtseins in Gott, welchem der universale Kausalzusammenhang der Atome korrespondiert. Uebrigens gestattet nach Fechner die Verknüpfung innerer und äußerer Erfahrung in unserem Bewußtsein auch, den Gesetzen dieser Korrespondenz nachzuforschen. Die Wissenschaft davon ist die Psychophysik. Deren erste Aufgabe ist, Methoden zur Messung psychischer Größen aufzufinden, um so mathematisch formulierbare Gesetze zu gewinnen. Fechner stellt hauptsächlich die Methode der eben noch merklichen Unterschiede auf, die als Maßeinheit den kleinsten noch wahrnehmbaren Unterschied zweier Empfindungsintensitäten definiert und diesen als überall und in allen Fällen gleich annimmt. Auf Grund dieser (freilich willkürlichen) Voraussetzung erschien die mathematische Formulierung des sog. Weber-Fechnerschen Grundgesetzes möglich, wonach sich die Intensitäten der Empfindung verhalten wie die Logarithmen der Reizintensitäten. Die so von Fechner erweckte Hoffnung, durch die indirekte Messung psychischer Größen die psychophysische oder vielleicht selbst die psychologische Gesetzmäßigkeit nach naturwissenschaftlicher Methode mathematisch darzustellen, hat trotz der zahlreichen und schweren Einwände, auf die sie stieß, insofern großen Erfolg gehabt, als während der letzten Jahrzehnte in vielen dafür gegründeten Laboratorien eifrig gearbeitet worden ist: doch kann man nicht sagen, daß mit dieser Betriebsamkeit des Experimentierens der Ertrag[542] für ein neues und tieferes Verständnis des Seelenlebens gleichen Schritt gehalten hätte.1070

Ebenso ist die Erneuerung des spinozistischen Parallelismus auf immer größere Schwierigkeiten der Durchführung gestoßen. Bei Fechner selbst war er dogmatisch gemeint, indem dieser für den Inhalt der sinnlichen Wahrnehmung volle metaphysische Realität in Anspruch nahm – er stellte diese »Tagesansicht« der »Nachtansicht« des naturwissenschaftlichen und des philosophischen Phänomenalismus gegenüber –, und diese dogmatische Auffassung wurde später am kräftigsten durch die Berufung auf das Prinzip von der Erhaltung der Energie begründet, das jede Verursachung physischer Bewegungen durch andere als physische Bewegungen ausschließt: andere dagegen faßten jenen Parallelismus kritizistisch auf, indem sie annahmen, Seele und Körper mit allen ihren je in sich verlaufenden Zuständen und Tätigkeiten seien nur die verschiedenen Erscheinungsweisen einer und derselben realen Einheit. Aber nach den lebhaften Diskussionen, welche diese Frage erfahren hat1071, ist doch mehr und mehr die Einsicht zum Durchbruch gekommen, daß ein solcher Parallelismus in keiner Form haltbar und durchführbar ist: das bedeutendste sachliche Gegenargument bleibt die Diskontinuierlichkeit des seelischen Lebens und die völlige Unmöglichkeit, den Fortschritt von Wahrnehmung zu Wahrnehmung auch mit der profusesten Anwendung »unbewußter Vorstellungen« kausal zu begreifen.

Das zeigt sich auch bei demjenigen Forscher, welcher für die Ausbreitung der psychologischen Studien am meisten tätig gewesen ist: W. Wundt. Er hat sich von seiner »physiologischen Psychologie« her zu einem »System der Philosophie« entwickelt, welches die Welt als einen tätigen Zusammenhang von Willensindividualitäten betrachtet: er benutzt in der Metaphysik den Fichte-Fortlageschen Begriff des substratlosen Tuns und beschränkt die Anwendung des Substanzbegriffes auf die naturwissenschaftliche Theorie. Die Wechselwirkung der Willensaktualitäten erzeugt in den organischen Wesen höhere Willenseinheiten und damit verschiedene Stufen des Zentralbewußtseins; aber die Idee eines absoluten Weltwillens und Weltbewußtseins, die sich daraus nach regulativem Prinzip entwickelt, liegt jenseits der Grenze menschlicher Erkenntnisfähigkeit.

9. Insofern der immer kräftiger heraustretende Voluntarismus, namentlich auch in der allgemeineren Auffassung und Literatur, den Intellektualismus bekämpfte, den man als typischen Grundzug in der Glanzzeit des deutschen Neuhumanismus betrachtete, entwickelte sich gewissermaßen dasselbe Problem über den Primat des Willens oder des Verstandes, das den dialektischen Scharfsinn der Scholastiker so lebhaft beschäftigt hatte (vgl. oben § 26). Daß in der Tat dies Problem aus der antagonistischen Entwicklung des Idealismus heraussprang, hat am deutlichsten E. v. Hartmann gesehen, dessen »Philosophie des Unbewußten« aus einer Synthesis einerseits von Hegel, anderseits[543] von Schopenhauer und dem späteren Schelling hervorging und die Absicht hatte, den rationalen und den irrationalen Zweig des Idealismus wieder zusammenzubiegen. Er versucht dies dadurch zu erreichen, daß er dem einheitlichen Weltgeiste den Willen und die Idee (das »Alogische« und das »Logische«) als koordinierte und in Wechselwirkung stehende Attribute zuschreibt. Wenn dabei der absolute Geist »das Unbewußte« genannt wird, so mutet Hartmann dem Begriffe des Bewußtseins eine ähnliche Mehrdeutigkeit zu wie Schopenhauer dem des Willens: denn die Tätigkeiten des Unbewußten sind Willens und Vorstellungsfunktionen, die zwar in keinem empirischen Bewußtsein gegeben sind, aber doch irgend ein anderes Bewußtsein voraussetzen, wenn wir sie überhaupt denken sollen. Dies höhere Bewußtsein, welches das Unbewußte genannt wird und den gemeinsamen Lebensgrund aller bewußten Individuen bilden soll, sucht nun Hartmann als das tätige Wesen in allen Vorgängen des natürlichen und des seelischen Lebens nachzuweisen: es vertritt ebenso Schopenhauers und Schellings Willen in der Natur, wie die Lebenskraft der früheren Physiologie und die Entelechien des Entwicklungssystems. Es entfaltet sich vor allem in den teleologischen Zusammenhängendes organischen Lebens. In dieser Hinsicht hat auch Hartmann den Materialismus sehr wirksam bekämpft, indem seine Lehre überall auf den einheitlichen geistigen Lebensgrund der Dinge hinweist: er benutzt dazu in der glücklichsten Weise eine reiche Fülle naturwissenschaftlicher Kenntnisse, wenn es auch eine Selbsttäuschung war, daß er meinte, seine »spekulativen Resultate nach induktiv-naturwissenschaftlicher Methode« zu gewinnen. Jedenfalls hat das naturwissenschaftliche Interesse in Verbindung mit einer anmutigen und zum Teil glänzenden Darstellung viel zu dem außerordentlich großen, wenn auch schnell vorübergehenden Erfolge der »Philosophie des Unbewußten« beigetragen: ihr Hauptreiz allerdings lag in der Behandlung des Pessimismus (vgl. unten § 46), und in dieser Richtung hat sie einen Schwarm popularphilosophischer Literatur von durchschnittlich sehr geringer Qualität nach sich gezogen.

Hartmann selbst hat seinen metaphysischen Grundgedanken unter Benutzung ausgebreiteter historischer Studien auf dem ethischen, dem ästhetischen und dem religionsphilosophischen Gebiete durchgeführt, ist aber dann zur Ausbildung eines streng dialektischen Systems in seiner »Kategorienlehre« fortgeschritten, dem geschlossensten Werk begrifflicher Architektonik, das die letzten Jahrzehnte in Deutschland gezeitigt haben, und diesem hat er dann eine Art von historisch-kritischer Begründung in seiner »Geschichte der Metaphysik« nachgeschickt. Die Kategorienlehre, zweifellos sein wissenschaftliches Hauptwerk, will ein gemeinsames formales Fundament für die sachlichen Disziplinen der Philosophie gewinnen, indem sie alle Beziehungsformen des Intellekts, die anschaulichen ebenso wie die diskursiven, in ihrer verschiedenen Ausgestaltung durch das subjektiv-ideale (erkenntnistheoretische), das objektiv-reale (naturphilosophische) und das metaphysische Gebiet verfolgt: sie ist in der Feinheit der dialektischen Beziehungen und der Fülle interessanter sachlicher Ausblicke ein eigenartiges Gegenstück zu der Hegelschen Logik. So wie diese den Umschlag der Idee in die Natur, das »Entlassen« des Begriffs zum »Anderssein« dialektisch in ihrem Gesamtgange entwickelte, so zeigt Hartmann bei jeder einzelnen Kategorie die Umgestaltung, welche das »Logische« durch seine Beziehung[544] auf das dem Willen entspringende »Alogische« der Wirklichkeit erfährt. Auch hier erscheint die Welt als in sich entzweit, als der Kampf der Vernunft gegen den Willen.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 532-545.
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