Wider die Kultur I

[103] Schwimmhäute zwischen den Zehen und ein sechster Finger an der Hand sind Bildungen, die über die Natur hinausgehen und für das eigentliche Leben überflüssig sind. Fettgeschwülste und Kröpfe sind Bildungen, die dem Körper äußerlich angewachsen und für die eigentliche Natur überflüssig sind. In allerhand Moralvorschriften Bescheid wissen und sie anwenden, ist ebenfalls etwas, das von außen her dem menschlichen Gefühlsleben hinzugefügt wird und nicht den Kern[103] von SINN und LEBEN trifft. Darum, wer Schwimmhäute am Fuße trägt, dessen Zehen sind einfach durch ein nutzloses Stück Fleisch verbunden; wer sechs Finger an der Hand hat, dem wächst einfach ein nutzloser Finger zu viel. Wer solche überflüssigen Auswüchse im innerlichen Gefühlsleben zeigt, der läßt sich hinreißen zu einem zügellosen Moralbetrieb und zu einem Gebrauch der Sinne, der das rechte Maß übersteigt. Denn solche überflüssige Verfeinerung des Gesichtssinnes führt zu weiter nichts als dazu, daß die natürlichen Farbenempfindungen in Unordnung geraten und man zu einem übertriebenen Kultus der Linien und Farben kommt. Wer des Guten zuviel tut in Beziehung auf den Gehörsinn, der bringt es zu nichts weiter als dazu, daß die natürlichen Gehörsempfindungen in Unordnung geraten und man zu einem übertriebenen Kultus musikalischer Verfeinerung kommt. Auswüchse der Moral führen zu nichts weiter, als daß man in willkürlicher Tugendübung die Natur unterbindet, um sich einen Namen zu machen, daß die ganze Welt mit Trommeln und Pfeifen einen als unerreichbares Vorbild rühmt. Überflüssige Pflege logischer Spitzfindigkeiten führt zu nichts weiter, als daß man (seine Beweise) wie Dachziegel aufeinanderschiebt oder wie Stricke zusammenbindet, daß man sich in seinen Sätzen verklausuliert und sich ergötzt an leeren begrifflichen Unterscheidungen und mit kleinen vorsichtigen Schritten überflüssige Sätze verteidigt. Das alles sind Methoden, so überflüssig wie Schwimmhäute und sechste Finger, und nicht geeignet, als Richtmaß der Welt zu dienen.

Das höchste Richtmaß vernachlässigt nicht die tatsächlichen Naturverhältnisse. Darum, wo es zusammenfaßt, bedarf es nicht der Schwimmhäute, wo es trennt, entstehen keine sechsten Finger. Das Lange ist für diesen Standpunkt nicht überflüssig, das Kurze nicht ungenügend. Die Beine einer Ente sind wohl kurz; wollte man sie strecken, so täte es ihr weh. Die Beine eines Kranichs sind wohl lang; wollte man sie kürzen, so empfände er Schmerz. Darum: was von Natur lang ist, soll man nicht kürzen; was von Natur kurz ist, soll man nicht strecken. Dann gibt es keinen Schmerz, den man beseitigen müßte. Ach, wie widerspricht doch die Moral der[104] menschlichen Natur! Was macht diese Moral doch für viele Schmerzen!

Aber freilich, wenn einer Schwimmhäute zwischen den Zehen hat und man will sie ihm durchschneiden, so weint er; wenn einer einen sechsten Finger an der Hand hat und man will ihn abbeißen, so schreit er. Im einen Fall hat er ein Glied zuviel, im andern Fall (weil durch eine Haut verbunden) ein Glied zuwenig; aber der Schmerz ist derselbe. Die moralischen Menschen von heutzutage jammern blinzelnden Auges über die Leiden der Welt. Die unmoralischen Menschen verkümmern den tatsächlichen Zustand ihrer Natur und gieren nach Ehre und Reichtum. Darum halte ich dafür, daß die Moral etwas ist, das nicht der menschlichen Natur entspricht. Was hat sie doch seit Anbeginn der Weltgeschichte für unnötige Verwirrung angerichtet!

Wer mit Haken und Richtschnur, mit Zirkel und Richtscheit die Leute recht machen will, der verkümmert ihre Natur; wer mit Stricken und Bändern, mit Leim und Kleister sie festigen will, der vergewaltigt ihr Wesen; wer Umgangsformen und Musik zurechtzimmert, um die Moral dadurch aufzuschmücken und so dem Herzen der Welt Trost zu spenden, der zerstört ihre ewigen Gesetze. Es gibt ewige Gesetze in der Welt, und was nach diesen ewigen Gesetzen krumm ist, das ist nicht durch einen Haken so geworden; was gerade ist, ist nicht durch eine Richtschnur so geworden; was rund ist, ist nicht durch einen Zirkel so geworden; was rechteckig ist, ist nicht durch das Richtscheit so geworden. Die Vereinigung des Getrennten bedarf nicht des Leims und des Kleisters, und die Verbindung bedarf nicht Strick noch Schlinge. Die gegenseitige Anziehung auf Erden entsteht, ohne zu wissen, warum sie entsteht; die Einheit wird erreicht, ohne zu wissen, wodurch sie erreicht wird. Vom Uranfang an bis auf den heutigen Tag war es nicht anders, und das soll man nicht verderben. Was hat hier nun die Moral zu schaffen mit ihren Einigungsmitteln, die nichts anderes sind als Leim und Kleister, Stricke und Schlingen? Was braucht sie sich einzudrängen in das Gebiet urewiger Naturordnungen? Sie bringt die Welt nur in Zweifel. Entstehen Zweifel über Nebendinge, so wird dadurch[105] die Richtung verschoben; entstehen Zweifel in wichtigen Sachen, so wird die Natur verschoben. Woher weiß ich, daß das so ist? Seit der große Schun die Moral herangezogen hat, um die Welt zu verwirren, rennt die ganze Welt den Geboten der Moral des Rechts und Unrechts nach, und die Moral verschiebt ihr Wesen. Ich werde versuchen, das genauer auszuführen.

Seit Anbeginn der Weltgeschichte gibt es niemand auf der Welt, der nicht durch die Außendinge sein Wesen verschieben ließe. Der Gemeine gibt sein Leben um des Gewinnes willen, der Richter gibt sein Leben her um des Ruhmes willen; der Heilige gibt sein Leben her um der Welt willen. Alle diese Herren stimmen zwar nicht überein in ihren Beschäftigungen und nehmen einen verschiedenen Rang ein in der Schätzung der Menschen, aber was die Verletzung der Natur und die Preisgabe des Lebens anlangt, darin sind sie sich gleich.

Ein Knecht und eine Magd hüteten einmal miteinander Schafe, und beide verloren sie ihre Schafe. Als man den Knecht fragte, was er getrieben, da hatte er Bücher mitgenommen und gelesen; als man die Magd fragte, was sie getrieben, da hatte sie sich mit Würfelspiel vergnügt. Die beiden stimmten zwar nicht überein in ihren Beschäftigungen, aber was das Verlieren der Schafe anbelangt, waren sie einander gleich.

Bo I starb um des Ruhmes willen am Fuße des Schou-Yang-Berges; der Räuber Dschï starb um des Gewinnes willen auf dem Gipfel des Osthügels. Die beiden Leute stimmten zwar nicht überein in dem, wofür sie starben; aber darin, daß sie ihr Leben vernichteten und ihr Wesen verletzten, waren sie sich gleich. Was hat es nun für einen Sinn, dem Bo I recht zu geben und dem Räuber Dschï unrecht? Alle Menschen auf der Welt geben ihr Leben preis. Ist das, wofür einer sein Leben hergibt, die Moral, so ist es Sitte, ihn einen großen Mann zu nennen; gibt er sein Leben her für Geld und Gut, so ist es Sitte, ihn einen gemeinen Kerl zu nennen; aber die Preisgabe des Lebens ist dieselbe. Und dabei soll der eine ein großer Mann sein und der andere ein gemeiner Kerl? In der Art, wie er sein Leben vernichtete und sein Leben zu Schaden brachte, war der Räuber Dschï auch so etwas wie Bo I. Wie[106] will man also den großen Mann und den gemeinen Mann unter den beiden herausfinden?

Daß nun einer seine Natur der Moral unterordnet, und ob er es noch so weit darin brächte, ist nicht das, was ich gut nenne. Daß einer seine Natur dem Geschmackssinn unterordnet, und wenn er es noch so weit darin brächte, ist nicht das, was ich gut nenne. Daß einer seine Natur den Tönen unterordnet, und wenn er es darin noch so weit brächte, ist nicht das, was ich Hören nenne. Daß einer seine Natur den Farben unterordnet, und wenn er es noch so weit darin brächte, ist nicht das, was ich Schauen nenne. Was ich gut nenne, hat mit der Moral nichts zu tun, sondern ist einfach Güte des eigenen Geistes. Was ich gut nenne, hat mit dem Geschmack nichts zu tun, sondern ist einfach das Gewährenlassen der Gefühle des eigenen Lebens. Was ich Hören nenne, hat mit dem Vernehmen der Außenwelt nichts zu tun, sondern ist einfach Vernehmen des eigenen Innern. Was ich Schauen nenne, hat mit dem Sehen der Außenwelt nichts zu tun, sondern ist einfach Sehen des eigenen Wesens. Wer nicht sich selber sieht, sondern nur die Außenwelt; wer nicht sich selbst besitzt, sondern nur die Außenwelt: der besitzt nur fremden Besitz und nicht seinen eigenen Besitz, der erreicht nur fremden Erfolg und nicht seinen eigenen Erfolg. Wer fremden Erfolg erreicht und nicht seinen eigenen Erfolg, dessen Erfolg ist, ganz einerlei, ob er der Räuber Dschï heißt oder Bo I, unwahr und falsch, und ich würde mich seiner schämen angesichts der urewigen Naturordnungen. Darum halte ich mich auf der einen Seite zurück von allem Moralbetrieb und auf der andern Seite von allem zügellosen und unwahren Wandel.

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 103-107.
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