2. Die Not der Zeit

[118] Der Pedant fragte den Lau Dan: »Wenn man die Welt nicht in Ordnung bringt, wie kann man dann der Menschen Herzen verbessern?«

Lau Dan sprach: »Hüte dich, der Menschen Herz zu stören! Wird das Menschenherz bedrückt, so wird es verzagt; wird es gefördert, so wird es trotzig. Ist es trotzig und verzagt, so wird es bald Sklave, bald Mörder; bald ist es überschwenglich, bald beschränkt; bald schmiegt es sich demütig vor dem Starken und Harten, bald ist es schneidend und[118] scharf wie Messer und Meißel; bald ist es heiß wie dörrendes Feuer, bald ist es kalt wie starres Eis; es ist so flink, daß, während man auf- und niederblickt, es imstande ist, zweimal jenseits der Meere zu greifen. Verharrt es, so ist es still wie der Abgrund; bewegt es sich, so ist es himmelhoch aufgeregt. Stolz und hochmütig, daß niemand es binden kann, also ist der Menschen Herz.«

Der Herr der gelben Erde hat einst den Anfang gemacht, durch Güte und Gerechtigkeit das Menschenherz zu stören. Yau und Schun scheuerten sich die Haare von den Beinen vor lauter Anstrengung, den leiblichen Bedürfnissen der Menschen zu genügen. Sie betrübten sich in ihrem Innern, um Menschenliebe und Gerechtigkeit zu erzielen; sie mühten ihre Lebensgeister ab, um Gesetz und Maß abzuzirkeln, und dennoch haben sie es nicht fertiggebracht. Yau sah sich schließlich genötigt, den Huan Du auf den Gespensterberg zu verbannen, die drei Miau-Stämme nach den drei Klippen und den Gung Gung in die Stadt der Finsternis. So zeigte sich, daß er nicht imstande war, mit der Welt fertig zu werden.

Als dann das Zeitalter der historischen Dynastien herbeikam, da kam die Welt erst recht in Schrecken. Die Bösen waren Tyrannen und Räuber; die Guten waren Tugendmuster und Pedanten, und das Parteigezänk der Schulen erhob sich. So kam es, daß die Gefühle sich verwirrten, Toren und Weise einander betrogen, Gute und Böse einander verdammten, Prahler und Wahrheitshelden einander verlachten und die Welt in Verfall geriet. Im großen LEBEN herrschte keine Übereinstimmung mehr, und die Naturordnungen verbrannten und versanken. Die Welt liebte Weisheit, und das Volk wurde unersättlich in seinem Begehren. Das Henkersbeil und die Säge taten ihr Werk; nach der Richtschnur wurde getötet. Mit Hammer und Meißel ging man vor, und die Welt ward zerrissen und aufs äußerste verwirrt. An alledem trägt die Schuld, daß man das Menschenherz stört. So kam's dazu, daß heutzutage die Weisen sich verkriechen in die Höhlen der heiligen Berge, und daß die Fürsten zittern vor Angst in ihren Palästen. Die Leichen der zum Tode Gebrachten liegen in Haufen umher; die Gefesselten und Gebundenen drängen[119] sich (auf den Straßen), und wenn einer zur Prügelstrafe verurteilt ist, muß er erst zusehen und warten, bis er dran kommt. Und die Wanderprediger stehen auf den Zehen und fuchteln mit den Armen mittendrin unter der Menge in Fesseln und Banden. Wehe über ihre grenzenlose Unverschämtheit! Ach, daß wir noch nicht erkannt haben, daß all die Heiligkeit und Weisheit diese Fesseln verursacht und all die Menschenliebe und Gerechtigkeit diese Banden bewirkt hat! Wie kann man wissen, ob nicht jene Tugendhelden nur die scharfen Pfeile der Tyrannen und Räuber sind? Darum heißt's: Gebt auf die Heiligkeit, werft weg die Erkenntnis, und die Welt kommt in Ordnung!

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 118-120.
Lizenz: