8. Wer hat Recht?

[48] Lückenbeißer fragte Keimwalter: »Wißt Ihr, worin die Welt mit dem Ich übereinstimmt?«

Er sprach: »Wie sollte ich das wissen?«

»Wißt Ihr, was Ihr nicht wißt?«

Er sprach: »Wie sollte ich das wissen?«

»Dann gibt es also kein Wissen der Dinge?«

Er sprach: »Wie sollte ich das wissen? Immerhin, ich will versuchen, darüber zu reden! Woher weiß ich, daß das, was ich Wissen nenne, nicht Nicht-Wissen ist? Woher weiß ich, daß das, was ich Nicht-Wissen nenne, nicht Wissen ist? Nun will ich dich einmal fragen. Wenn die Menschen an einem feuchten Ort schlafen, so bekommen sie Hüftweh, und die ganze Seite stirbt ab; geht es aber einem Aale ebenso? Wenn sie auf einem Baum weilen, so zittern sie vor Furcht und sind ängstlich besorgt; geht es aber einem Affen ebenso? Wer von diesen drei Geschöpfen nun weiß, welches der richtige Wohnort ist? Die Menschen nähren sich von Mastvieh; die Hirsche nähren sich von Gras; der Tausendfuß liebt Würmer, und der Eule schmecken Mäuse. Welches dieser vier Geschöpfe weiß nun, was wirklich gut schmeckt? Die Paviane gesellen sich zu Äffinnen, die Hirsche zu Hindinnen, die Aale schwimmen mit den Fischen zu sammen, und schöne Frauen erfreuen der Menschen Augen. Wenn die Fische sie sehen, so tauchen sie in die Tiefe; wenn die Vögel sie sehen, so fliegen sie in die Höhe; wenn die Hirsche sie sehen, so laufen sie davon. Welches von diesen Geschöpfen weiß nun, was wahre Schönheit unter dem Himmel ist? Von meinem Standpunkt aus gesehen sind die Grundsätze von Sittlichkeit und Pflicht, die Pfade von Bejahung[48] und Verneinung unentwirrbar verwickelt. Wie sollte ich ihre Unterscheidungen kennen?« Lückenbeißer sprach: »Ihr kennt nicht Nutzen und Schaden; kennt aber auch der höchste Mensch nicht Nutzen und Schaden?«

Keimwalter sprach: »Der höchste Mensch ist Geist. Wenn das große Meer im Feuer aufginge, vermöchte es ihm nicht heiß zu machen; wenn alle Ströme gefrören, vermöchte ihm das nicht kalt zu machen; wenn heftiger Donner die Berge zerrisse und der Sturm den Ozean peitschte, vermöchte ihm das nicht Schrecken einzuflößen? Einer, der also ist, der fährt auf Luft und Wolken; er reitet auf Sonne und Mond und wandelt jenseits der Welt. Leben und Tod können sein Selbst nicht verändern. Was erst sollten ihm da die Gedanken an Nutzen und Schaden sein!«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 48-49.
Lizenz: