2. Der Minister und der Sträfling

[74] Es lebte ein Mann namens Schen Tu Gia, dem zur Strafe die Füße abgehackt worden waren. Er besuchte zusammen mit Dsï Tschan (dem Minister) von Dschong, den Unterricht des Be Hun Wu Jen.[74]

Dsï Tschan redete Schen Tu Gia an und sprach: »Wenn ich zuerst hinausgehe, so bleibe du hier; wenn du zuerst hinausgehst, so will ich hier bleiben!«

Des andern Tages aber, als die Schüler sich versammelten, da setzte sich jener wieder mit ihm auf dieselbe Matte.

Dsï Tschan sprach abermals zu ihm: »Ich habe dir doch gesagt, wenn ich zuerst hinausgehe, sollst du so lange warten, wenn du zuerst hinausgehst, wolle ich so lange warten. Nun will ich hinaus, willst du jetzt hier bleiben oder nicht? Außerdem bin ich Minister. Wenn du nun einen Minister siehst und ihm nicht aus dem Wege gehst, heißt das etwa, daß du dich dem Minister gleichstellen willst?«

Schen Tu Gia antwortete: »Sollten im Hause unseres Meisters wirklich solche Rangunterschiede in Frage kommen? Ihr tut Euch etwas zugute darauf, daß Ihr Minister seid, und verachtet darum die andern. Ich habe sagen hören, wenn ein Spiegel blank sei, so nehme er Staub und Schmutz nicht an; nehme er Staub und Schmutz an, so sei er nicht blank. Wenn man lang mit einem Würdigen zusammenlebt, so wird man frei von Fehlern. Nun habt Ihr Euch unserem Meister angeschlossen, um durch ihn größer zu werden. Wenn Ihr dabei nun dennoch solche Reden führt, so ist das wohl als Fehler zu bezeichnen.«

Dsï Tschan sprach: »Du wärst imstande, mit dem Erzvater Yau zu streiten, wer besser sei. Ich schätze, du besitzest nicht Geist genug, um in dich zu gehen.«

Schen Tu Gia sprach: »Derer, die ihre Fehler beschönigen und behaupten, sie hätten die Strafe (des Fußabhackens) nicht verdient, sind viel; derer aber, die ihre Fehler nicht beschönigen und zugeben, daß sie jene Strafe verdient haben, sind wenige. Aber zu erkennen, daß es ein unvermeidliches Schicksal war und sich mit diesem unvermeidlichen Schicksal zufrieden zu geben, das vermag nur einer, der Geist hat. Wer sich mitten vor dem Ziel eines Bogenschützen herumtreibt, der muß damit rechnen, daß er getroffen wird; denn die Mitte ist der Platz, da jener trifft. Wird er nicht getroffen, so ist es Schicksal. Ich bin schon vielen begegnet, die sich im Besitz ihrer beiden Füße über mich, dem sie abgehackt worden sind, lustig[75] gemacht haben. Früher brauste ich auf und wurde zornig; seit ich aber zu unserem Meister gekommen bin, habe ich das aufgegeben und bin in mich gegangen. Ohne daß ich es merkte, hat der Meister mich reingewaschen durch seine Güte. Ich folge dem Meister schon seit neunzehn Jahren nach, und noch nie ist es mir zum Bewußtsein gekommen, daß ich ein Krüppel bin. Nun wandelt Ihr gemeinsam mit mir auf diesem Boden des inneren Lebens und wollt mich wieder hinauszerren auf das Gebiet der körperlichen Außenwelt. Tut Ihr damit nicht Unrecht?« Dsï Tschan kam in Verlegenheit und sprach mit veränderten Mienen: »Es bedarf keiner weiteren Worte mehr.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 74-76.
Lizenz: