4. Das Totenlied der Übermenschen

[90] Dsï Sang Hu, Mong Dsï Fan und Dsï Kin Dschang waren Freunde zusammen.

Nach einer Weile starb Dsï Sang Hu. Er war noch nicht begraben, da hörte Meister Kung von der Sache und schickte den Dsï Gung hin, um bei der Trauerfeier behilflich zu sein.

Der eine der Freunde hatte ein Lied gedichtet, der andere spielte die Zither, und so sangen sie zusammen:
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»Willst du nicht wiederkommen, Sang Hu?

Willst du nicht wiederkommen, Sang Hu?

Du gingst zum ew'gen Leben ein;

Wir müssen noch hienieden sein.

O weh!«


Dsï Gung kam mit eiligen Schritten heran und sprach: »Darf ich fragen: ist das Anstand, in Gegenwart eines Leichnams zu singen?«

Die beiden Männer sahen einander an, lachten und sprachen: »Was versteht der von Anstand?«

Dsï Gung kehrte zurück, sagte es Meister Kung an und sprach: »Was sind das für Menschen! Geordnetes Benehmen kennen sie nicht und kümmern sich nicht um das Äußere. In Gegenwart des Leichnams sangen sie und verzogen keine Miene zur Trauer. Das spottet jeder Beschreibung. Was sind das für Menschen!«

Meister Kung sprach: »Sie wandeln außerhalb der Regeln, ich wandle innerhalb der Regeln. Das sind unüberbrückbare Gegensätze, und es war ungeschickt von mir, daß ich dich hinschickte zur Beileidsbezeugung. Sie verkehren mit dem Schöpfer wie Mensch zu Mensch und wandeln in der Urkraft der Natur. Ihnen ist das Leben eine Geschwulst und Eiterbeule und der Tod die Befreiung von der Beule und Entleerung ihres Inhalts. In dieser Gesinnung wissen sie nicht, worin der Wertunterschied von Leben und Tod bestehen sollte. Sie entlehnen die verschiedenen Substanzen und bilden aus ihnen zusammen ihren Körper. Aber alles Körperliche ist ihnen Nebensache. Sie kommen und gehen vom Ende zum Anfang und kennen kein Aufhören. Sie schweben unabhängig jenseits vom Staub und Schmutz (der Erde). Sie wandern müßig im Beruf des Nichthandelns. Von solchen Leuten kann man wahrlich nicht erwarten, daß sie peinlich genau alle Anstandsbräuche erfüllen, die in der Welt Sitte sind, nur um den Augen und Ohren der Masse zu gefallen.«

Dsï Gung sprach: »Warum haltet Ihr Euch aber dann an die Regeln, Meister?« Er sprach: »Ich bin von der Natur daran gebunden. Immerhin, ich will dir mitteilen (was ich darüber weiß).«[91]

Dsï Gung sprach: »Darf ich fragen, wie man dazu gelangt?«

Meister Kung sprach: »Die Fische sind fürs Wasser geschaffen; die Menschen sind für den SINN geschaffen. Weil jene fürs Wasser geschaffen sind, so tauchen sie in die Tiefe und finden ihre Nahrung; weil diese für den SINN geschaffen sind, so bedürfen sie keiner Sorge, ihr Leben kommt in Sicherheit. Darum heißt es: Die Fische mögen einander vergessen in Strömen und Seen; die Menschen mögen einander vergessen in Übung des SINNS.«

Dsï Gung sprach: »Darf ich fragen, wie es sich mit den Übermenschen verhält?«

Der Meister sprach: »Der Übermensch steht über den Menschen, aber er steht im Einklang mit der Natur. Darum heißt es: Die vor dem Himmel gemein sind, sind groß vor den Menschen; die vor den Menschen groß sind, sind klein vor dem Himmel.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 90-92.
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