3. Heilige und Räuber

[111] Jede Ursache hat ihre Wirkung: Sind die Lippen fort, so haben die Zähne kalt. Weil der Wein von Lu zu dünn war, wurde Han Dan belagert. Ebenso: wenn Heilige geboren werden, so erheben sich die großen Räuber. Darum muß man die Heiligen vertreiben und die Räuber sich selbst überlassen; dann erst wird die Welt in Ordnung kommen. Versiegen die Wildbäche, so werden die Täler von selber trocken; werden die Erhöhungen abgetragen, so werden die Gründe von selber aufgefüllt. Wenn die Heiligen erst einmal ausgestorben sind, so stehen keine großen Räuber mehr auf, die Welt kommt in Frieden, und es gibt keine Geschichten mehr. Solange die Heiligen nicht aussterben, hören die großen Räuber nicht auf. Nimmt man die Heiligen wichtig, um die Welt in Ordnung zu bringen, so heißt das nur, daß man es für wichtig hält, dem Räuber Dschï Gewinn zu verschaffen. Macht man[111] Scheffel und Eimer, daß die Leute damit messen, so macht man gleichzeitig mit diesen Scheffeln und Eimern die Leute zu Dieben. Macht man Siegel und Stempel, daß die Leute treue Urkunden bekommen, so macht man gleichzeitig mit Siegeln und Stempeln sie zu Dieben. Macht man Liebe und Pflicht, um die Leute auf den rechten Weg zu weisen, so macht man gleichzeitig mit Liebe und Pflicht sie zu Dieben.

Woher weiß ich, daß es also ist? Wenn einer eine Spange stiehlt, so wird er hingerichtet. Wenn einer ein Reich stiehlt, so wird er Landesfürst. Wohnt er erst im Fürstenschloß, so hält er die Liebe und Pflicht hoch. Heißt das nicht Liebe und Pflicht und die Erkenntnis der Heiligen stehlen? Darum tun's die Leute jenen großen Räubern nach, die Fürstentümer an sich reißen und Liebe und Pflicht stehlen zugleich mit dem Gewinn, der aus Scheffeln, Eimern, Gewichten, Waagen, Siegeln und Stempeln entspringt. Wollte man ihnen Staatskarossen und Kronen zum Lohne geben, es würde keinen Eindruck auf sie machen. Wollte man sie mit Äxten und Spießen schrecken, sie ließen sich nicht abhalten. So hält man es für wichtig, dem Räuber Dschï Gewinn zu verschaffen, und macht es unmöglich, die Leute im Zaum zu halten. Das ist die Schuld der Heiligen.

Darum heißt es:


»Den Fisch darf man nicht der Tiefe entnehmen,

Des Reiches Förderungsmittel darf man nicht den Leuten zeigen.«


Die Heiligen aber sind es, die des Reiches Förderungsmittel sind. Sie können die Welt nicht erleuchten. Darum: »Gebt auf die Heiligkeit, werft weg die Erkenntnis, und die großen Räuber werden aufhören!« Werft weg die Edelsteine und zertretet die Perlen, und die kleinen Räuber werden nicht aufstehen! Verbrennt die Stempel und zerstört die Siegel, und die Leute werden einfältig und ehrlich! Vernichtet die Scheffel und zerbrecht die Waagen, und die Leute hören auf zu streiten! Wenn einmal die ganze Kultur auf Erden ausgerottet ist, dann erst kann man mit den Leuten vernünftig reden.

Wenn einmal die Stimmpfeifen durcheinandergebracht sind[112] und alle Flöten und Harfen verbrannt und die Ohren der Musiker verstopft, dann erst werden die Leute auf der Welt anfangen, ihre eigenen Ohren zu gebrauchen. Wenn einmal die Ornamente vernichtet sind und die fünf Farbenharmonien zerstreut und die Augen eurer Späher verklebt, dann erst werden die Leute auf der Welt anfangen, ihr eigenes Augenlicht zu gebrauchen. Wenn einmal alle Winkel und Richtschnüre zerstört sind und alle Zirkel und Richtscheite weggeworfen und die Finger eurer Tausendkünstler abgebrochen, dann erst werden die Leute auf der Welt anfangen, sich auf ihre eigene Geschicklichkeit zu verlassen. Wenn einmal der Wandel eurer Tugendhelden beseitigt wird und der Mund eurer Sophisten mit der Zange zugeklemmt wird und man die Liebe und Pflicht in weitem Bogen fortschleudert, dann erst kommt das LEBEN der Welt in Übereinstimmung mit dem Überirdischen. Wenn erst die Leute sich auf ihr eigenes Augenlicht verlassen, so gibt's auf der Welt keinen leeren Schein mehr. Wenn die Leute sich erst auf ihre eigenen Ohren verlassen, so gibt's auf der Welt keine Verstrickungen mehr. Wenn die Leute sich erst auf ihr eigenes Wissen verlassen, so gibt's auf der Welt keine Zweifel mehr. Wenn die Leute sich erst auf ihr eigenes LEBEN verlassen, so gibt's in der Welt keine Unnatur mehr. Alle jene Kulturträger aber suchen ihr LEBEN in etwas Äußerlichem und verwirren durch ihren gleißenden Schein die Welt. Das sind Wege, bei denen nichts herauskommt.

Heutzutage ist es so weit gekommen, daß die Leute die Hälse recken und sich auf die Zehen stellen und zueinander sprechen: An dem und dem Platz ist ein Weiser. Sie nehmen Reisezehrung auf den Weg und eilen hin, indem sie ihre Familien und den Dienst ihrer Herren im Stich lassen. Fußspuren führen über die Grenzen der verschiedenen Länder, und Wagengleise ziehen sich über Tausende von Meilen hin. An all dem trägt die Schuld, daß die Fürsten (in falscher Weise) die Erkenntnis hochschätzen. Wenn die Fürsten nur die Erkenntnis schätzen, aber nicht den rechten SINN haben, so kommt die Welt in große Verwirrung.

Woher weiß ich, daß es also ist? Nimmt die Kenntnis von[113] Bogen, Armbrüsten, Fangnetzen, Pfeilen und allerhand Schußwaffen zu, so kommen die Vögel unter dem Himmel in Verwirrung. Nimmt die Kenntnis von Angeln, Ködern, Netzen, Reusen und allerhand Fanggeräten zu, so kommen die Fische im Wasser in Verwirrung. Nimmt die Kenntnis von Fallen und Schlingen, Netzen und allerhand Fallstricken zu, so kommen die Tiere des Feldes in Verwirrung. Nimmt die Kenntnis von Falschheit, langsam wirkenden Giften, glatten Lügen, logischen Spitzfindigkeiten und allerhand Disputierkünsten zu, so werden die Sitten unsicher durch Sophisterei. Darum, jedes einzelne Mal, wenn die Welt in große Unordnung kommt, so ist die Schuld daran die Überschätzung der Erkenntnis. Wenn alle Menschen auf der Welt nur davon wissen wollen, nach dem zu streben, was sie nicht wissen, und nichts davon wissen wollen, zu streben nach dem, was sie schon wissen, und alle nur davon wissen wollen, zu tadeln, was sie nicht für gut finden, und nichts davon wissen wollen, zu tadeln, was sie für gut halten, so führt das zu den größten Unordnungen. Dadurch verfinstert sich der Schein von Sonne und Mond, dadurch versiegt die Lebenskraft von Berg und Fluß, dadurch verwirrt sich der Gang der Jahreszeiten. Bis hinunter zum kleinsten Würmchen und zur kleinsten Fliege verliert alles seine wahre Natur. Also verwirrt die Überschätzung der Erkenntnis die Welt. So geht es nun seit Anbeginn der Weltgeschichte: man vernachlässigt das einfache, arbeitsame Volk und ergötzt sich am Geschwätz unruhiger Köpfe. Man wendet sich ab vom anspruchslosen Nichthandeln und ergötzt sich an gleißenden Ideen. Durch diese Gleißnerei kommt die Welt in Unordnung.

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 111-114.
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