11. Der Ziehbrunnen

[135] Dsï Gung war im Staate Tschu gewandert und nach dem Staate Dsin zurückgekehrt. Als er durch die Gegend nördlich des Han-Flusses kam, sah er einen alten Mann, der in seinem Gemüsegarten beschäftigt war. Er hatte Gräben gezogen zur Bewässerung. Er stieg selbst in den Brunnen hinunter und brachte in seinen Armen ein Gefäß voll Wasser herauf, das er ausgoß. Er mühte sich aufs äußerste ab und brachte doch wenig zustande.

Dsï Gung sprach: »Da gibt es eine Einrichtung, mit der man an einem Tag hundert Gräben bewässern kann. Mit wenig Mühe wird viel erreicht. Möchtet Ihr die nicht anwenden?«

Der Gärtner richtete sich auf, sah ihn an und sprach: »Und was wäre das?« Dsï Gung sprach: »Man nimmt einen hölzernen Hebelarm, der hinten beschwert und vorn leicht ist. Auf diese Weise kann man das Wasser schöpfen, daß es nur so sprudelt. Man nennt das einen Ziehbrunnen.«

Da stieg dem Alten der Ärger ins Gesicht, und er sagte lachend: »Ich habe meinen Lehrer sagen hören: Wenn einer[135] Maschinen benützt, so betreibt er all seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz. Wenn einer aber ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren. Bei wem die reine Einfalt hin ist, der wird ungewiß in den Regungen seines Geistes. Ungewißheit in den Regungen des Geistes ist etwas, das sich mit dem wahren SINNE nicht verträgt. Nicht daß ich solche Dinge nicht kennte: ich schäme mich, sie anzuwenden.«

Dsï Gung errötete und wurde verlegen. Er blickte zur Erde und erwiderte nichts.

Es verging eine Weile, dann fing der Gärtner wieder an: »Wer seid Ihr denn eigentlich?«

Dsï Gung sprach: »Ich bin ein Schüler des Kung Dsï.«

Der Gärtner sprach: »Dann seid Ihr wohl einer jener großen Gelehrten, die's den berufenen Heiligen gleichtun möchten, die sich rühmen, der Masse überlegen zu sein, und abseits sich in elegischen Klagen ergehen, um sich einen guten Namen in der Welt zu erkaufen. Wenn Ihr imstande wärt, all Eure Geisteskräfte zu vergessen und Euren ganzen Formenkram wegzuwerfen, dann könntet Ihr es vielleicht zu etwas bringen. Aber Ihr vermögt nicht einmal, Euch selbst in Ordnung zu halten: woher wollt Ihr Zeit nehmen, an die Ordnung der Welt zu denken? Geht weiter, Herr, stört mich nicht in meiner Arbeit!«

Dsï Gung war betroffen und erblaßte. Er war verwirrt und kam ganz außer Fassung. Drei Stunden weit lief er, ehe er wieder zu sich kam.

Da fragten ihn seine Schüler und sprachen: »Wer war denn eigentlich der Mann vorhin; warum wurdet Ihr bei seinem Anblick so betroffen und erblaßtet, Meister, so daß Ihr den ganzen Tag nicht wieder zu Euch kamt?«

Er sprach: »Ich hatte vordem gedacht, daß es auf der ganzen Welt nur Einen großen Mann gebe, und wußte nicht, daß es noch diesen Mann gibt. Ich habe vom Meister vernommen, daß es der SINN der berufenen Heiligen sei, in allen Taten das Mögliche zu erstreben, mit möglichst wenig Kraftaufwand möglichst viel zu erreichen. Nun seh' ich, daß das ganz und[136] gar nicht der Fall ist. Wer den Ur-SINN festhält, hat völliges LEBEN. Wer völliges LEBEN hat, wird völlig in seiner Leiblichkeit. Wer völlig ist in seiner Leiblichkeit, wird völlig im Geiste. Völlig sein im Geiste, das ist der SINN der berufenen Heiligen. Jener lebt mitten unter dem Volk, und niemand weiß, wohin er geht. Wie übermächtig und echt ist seine Vollkommenheit! Erfolg, Gewinn, Kunst und Geschicklichkeit sind Dinge, die keinen Platz haben im Herzen dieses Mannes. Was er sich nicht zum Ziel gesetzt, das tut er nicht. Was nicht seiner Gesinnung entspricht, das führt er nicht aus. Und könnte er die Anerkennung der ganzen Welt finden, er würde sie für etwas halten, über das man stolz hinwegsehen muß. Und würde ihm der Tadel der ganzen Welt drohen, er würde ihn für etwas halten, das zufällig ist und nicht beachtet zu werden braucht. Wer so erhaben ist über Lob und Tadel der Welt, der ist ein Mensch, der völliges LEBEN besitzt. Dem gegenüber komme ich mir vor wie einer aus der Masse des Volkes, der von Wind und Wellen umhergetrieben wird.«

Als er ins Land Lu zurückgekehrt war, teilte er dem Kung Dsï sein Erlebnis mit.

Kung Dsï sprach: »Jener Mann ist einer, der sich damit abgibt, die Grundsätze der Urzeit zu pflegen. Er kennt das Eine und will nichts wissen von einem Zweiten; er ordnet sein Inneres und kümmert sich nicht um das Äußere. Vor einem solchen Menschen, der die Reinheit erkennt, ins Ungeteilte eindringt, nicht handelt, zurückkehrt zur Einfalt, seine Natur festigt, seinen Geist in der Hand hat und dennoch verborgen in Niedrigkeit wandelt, hattest du Grund zu erschrecken. Die Grundsätze der Urzeit zu verstehen, bin ich ebensowenig fähig wie du.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 135-137.
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