12. Sproßkraft und Wirbelwind

[137] Sproßkraft wandelte nach Osten zum großen Ozean; da begegnete er dem Wirbelwind am Strande des Ostmeeres.

Wirbelwind sprach: »Wohin wollt Ihr?«[137]

Sproßkraft antwortete: »Ich will zum großen Ozean.«

Wirbelwind fragte: »Was wollt Ihr da machen?«

Jener sprach: »Nichts. Der große Ozean ist ein Ding, daß man nicht durch Zugießen füllen oder durch Ausschöpfen leeren könnte. Ich will mich dort ergehen.«

Wirbelwind sprach: »Meister, habt Ihr Euch nicht schon die Verhältnisse jenes Völkchens, das die Augen vorn im Gesicht hat, überlegt? Ich möchte erfahren, wie die Ordnung der Heiligen ist.«

Sproßkraft sprach: »Die Ordnung der Heiligen? Die Diener wirken an ihrem Platz und tun, was ihres Amtes ist. Jeder wird ausgewählt für die Stelle, die seinen Fähigkeiten entspricht. Die Umstände werden allseitig erwogen, so daß alles, was geschieht, richtig läuft. Taten und Worte äußern sich frei, und die ganze Welt gestaltet sich um. Ein Wink der Hand, ein Blick des Auges genügt, um die Leute aus allen Himmelsrichtungen her zur Stelle zu haben. Das ist die Ordnung der Heiligen.«

Wirbelwind sprach: »Nun möchte ich etwas über den Menschen des LEBENS hören.«

Sproßkraft sprach: »Der Mensch des LEBENS ruht ohne Sorgen und handelt ohne Angst. Die Gedanken an Recht und Unrecht, Schön und Häßlich beschäftigen ihn nicht. Wenn auf dem ganzen Erdenrund alle seiner Güter genießen, das ist seine Freude; allen mitteilen zu können, das ist sein Friede. Geht er heim, so trauert das Volk um ihn wie ein Säugling, der seine Mutter verloren, und ist ratlos wie ein Wanderer, der seinen Weg verloren. Alles, was er braucht, hat er im Überfluß und weiß nicht, von wannen es kommt. Trank und Speise hat er zur Genüge und weiß nicht, von wannen sie fließen. Das ist die Art des Menschen des LEBENS.«

Wirbelwind fragte weiter: »Nun möchte ich etwas über den Menschen des Geistes hören.«

Sproßkraft sprach:


»Höchster Geist fährt auf dem Licht,

Leibesschranke vergeht und zerbricht,

Weithin strahlend spendet er Licht,[138]

Erfüllend Schicksal und Natur.

Weltalls Freuden und Mühen kennt er nicht.

Jedes Wesen folgt seiner Natur:

Er gleicht dem Geheimnis ohne Spur.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 137-139.
Lizenz: