7. Der Jünger ist nicht über den Meister

[165] Der Schüler Dsï Gung sprach: »Dann kommt es also wirklich vor, daß ein Mensch wie ein Leichnam weilt, während seine Drachenkräfte sich zeigen; daß seine Äußerungen wie Donner tönen, während er in abgrundtiefes Schweigen versunken ist; daß er wie Himmel und Erde Bewegung zu erzeugen vermag? So einen möchte ich doch auch einmal zu sehen bekommen.«

Darauf ging er mit einer Botschaft des Kung Dsï hin und besuchte den Lau Dan.

Lau Dan saß gerade gelassen in seiner Halle und wandte sich an ihn, indem er mit leiser Stimme sprach: »Meine Jahre eilen ihrem Ende zu; welche Belehrung wünscht Ihr mir angedeihen zu lassen?«

Dsï Gung sprach: »Die großen Herrscher der alten Zeit hatten wohl verschiedene Art, die Welt zu ordnen, aber sie sind alle gleich berühmt. Nur Ihr, mein Herr, wollt sie nicht als Heilige gelten lassen. Was habt Ihr für einen Grund dafür?«

Lau Dan sprach: »Komm ein wenig näher, mein Sohn! Was meinst du damit, daß ihre Art verschieden war?«

Er erwiderte: »Yau gab das Reich an Schun ab, Schun gab es an Yü weiter. Yü wirkte durch seine Kraft, und Tang wirkte durch sein Heer. Der König Wen folgte dem Tyrannen Dschou Sin und wagte nicht, sich ihm zu widersetzen. Der König Wu (sein Sohn) widersetzte sich dem Tyrannen Dschou Sin und war nicht gewillt, ihm zu folgen. Darum behaupte ich, sie waren verschieden.«

Lau Dan sprach: »Komm ein wenig näher, mein Sohn, dann will ich dir sagen, wie die Herrscher des Altertums die Welt[165] regierten. Der Herr der gelben Erde regierte die Welt und machte die Herzen des Volkes einig. Es gab Leute im Volk, die beim Tod ihrer Eltern nicht weinten, und niemand tadelte sie darob. Yau regierte die Welt und machte die Herzen des Volkes anhänglich. Es gab Leute im Volk, die um ihrer Eltern willen die Fernerstehenden kühler behandelten, und niemand tadelte sie darob. Schun regierte die Welt und brachte den Kampf ums Dasein in die Herzen des Volkes. Die Frauen des Volkes kamen im zehnten Monat nieder, und die Kinder konnten im fünften Monat nach ihrer Geburt sprechen, und noch ehe sie drei Jahre alt waren, begannen sie die Leute mit ihrem Namen zu begrüßen. Von da ab gab es vorzeitigen Tod auf Erden. Yü regierte die Welt und brachte die große Veränderung in die Menschenherzen. Die Menschen bekamen Absichten, und die Waffen bekamen freien Lauf. Einen Räuber totzuschlagen galt nicht mehr als Totschlag. Die Menschen sonderten sich in Rassen, und das geschah auf der ganzen Welt. Darum kam über die ganze Welt ein solcher Schrecken. Die verschiedenen Philosophenschulen kamen auf, und durch ihre Tätigkeit entstanden die Lehren von den gesellschaftlichen Beziehungen. Was nun vollends den Zustand der heutigen Frauenwelt anlangt, so will ich mir's ersparen, darüber zu reden. Ich kann dir nur sagen, diese Herrscher des Altertums regierten die Welt, und was sie brachten, war dem Namen nach Ordnung, in Wirklichkeit aber die größte Verwirrung. Die Erkenntnis jener Herrscher verkehrte den Schein von Sonne und Mond in Finsternis, störte die Harmonie der Natur und verwirrte den Gang der Jahreszeiten. Ihre Erkenntnis war gefährlicher als der Schwanz des Skorpions und als eine Bestie, die dem Käfig entronnen. Sie waren nicht imstande, sich ruhig unterzuordnen unter die Grundbedingungen der Natur und hielten sich selber noch dazu für Heilige. Sollte man nicht Scham empfinden über ein solches Gebaren? Aber sie waren schamlos.«

Dsï Gung stand mit verstörten Mienen da und fühlte sich unbehaglich.

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 165-166.
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