1. Wie man den Sinn erlangt

[226] Erkenntnis wanderte im Norden an den Ufern des dunklen Wassers und bestieg den Berg des steilen Geheimnisses. Da begegnet sie von ungefähr dem schweigenden Nichtstun.[226]

Erkenntnis redete das schweigende Nichtstun an und sprach: »Ich möchte eine Frage an dich richten. Was muß man sinnen, was denken, um den SINN zu erkennen? Was muß man tun und was lassen, um im SINNE zu ruhen? Welche Straße muß man wandern, um den SINN zu erlangen?«

Dreimal fragte sie, und das schweigende Nichtstun antwortete nicht. Nicht daß es absichtlich die Antwort verweigert hätte; es wußte nicht zu antworten. So konnte Erkenntnis nicht weiter fragen und kehrte um. Da kam sie im Süden an das weiße Wasser und bestieg den Berg der Zweifelsendung. Da erblickte sie Willkür. Erkenntnis stellte dieselben Fragen an Willkür.

Willkür sprach: »Oh, ich weiß es; ich will es dir sagen.«

Aber während sie eben reden wollte, hatte sie vergessen, was sie reden wollte, und Erkenntnis konnte nicht weiter fragen. Da kehrte sie zurück zum Schloß des Herrn, trat vor den Herrn der gelben Erde und fragte ihn.

Der Herr der gelben Erde sprach: »Nichts sinnen, nichts denken: so erkennst du den SINN; nichts tun und nichts lassen; so ruhst du im SINN; keine Straße wandern: so erlangst du den SINN.«

Erkenntnis fragte den Herrn der gelben Erde und sprach: »Wir beide wissen es, jene beiden wußten es nicht. Wer hat nun recht?«

Der Herr der gelben Erde sprach: »Schweigendes Nichtstun hat wirklich recht; Willkür kommt ihm nahe; wir beide erreichen es ewig nicht ...«

Erkenntnis fragte den Herrn der gelben Erde: »Wieso erreichen wir es nicht?«

Der Herr der gelben Erde sprach: »Das schweigende Nichtstun ist wirklich im Recht, deshalb, weil es kein Erkennen hat; Willkür kommt ihm nahe, weil sie Vergessen hat; wir beide erreichen es ewig nicht, weil wir Erkennen haben.«

Willkür hörte es und meinte vom Herrn der gelben Erde, daß er zu reden verstehe ...

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 226-227.
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