10. Gesellschaftsanschauung und Sinn

[270] Einzelwissen fragte den Überblick und sprach: »Was hat eigentlich der Ausdruck ›Gesellschaftsanschauungen‹ für einen Sinn?«

Überblick sprach: »Die Gesellschaft setzt sich zusammen aus Einzel-Gemeinden. In diesen Gemeinden vereinigen sich eine Anzahl von Familien und Individuen, und in einer solchen gesellschaftlichen Vereinigung bilden sich dann verschiedene Sitten. Da vereinigt sich Verschiedenartiges zu einer Gemeinsamkeit, und was von dieser Gemeinsamkeit abweicht, gilt als andersartig. (Auf diese Weise entsteht ein Organismus höherer Ordnung, der mehr ist als die bloße Summe seiner einzelnen Teile.) Wenn man z.B. die einzelnen Glieder eines Pferdes aneinanderreihen wollte, so würde man noch kein Pferd dadurch bekommen. Das Pferd muß zuerst da sein und seinen einzelnen Teilen Zusammenhang geben, dann erst haben[270] wir etwas vor uns, das wir Pferd nennen. Hügel und Berge sind eine Anhäufung von unbedeutenden Teilen, die in ihrer Gesamtheit die Höhe ausmachen. Flüsse und Ströme sind eine Vereinigung von unbedeutenden Wasserläufen, die in ihrer Gesamtheit die Größe ausmachen. Die Menschheit ist eine Vereinigung des allen Gemeinsamen, das dadurch Allgemeingültigkeit erlangt. Dieses Allgemeingültige bildet in jedem Menschen ein festes Prinzip, nach dem er der Außenwelt gegenüber, die auf ihn eindringt, sich verhalten kann, ohne einseitig zu sein. Sie gibt ihm die Grundsätze an die Hand, nach denen er sich in seinen Äußerungen der Umwelt gegenüber richten kann, ohne Widerstand zu finden. (Innerhalb dieses großen Organismus können ganz wohl Gegensätze vorhanden sein, die sich in ihren Wirkungen das Gleichgewicht halten.) Es ist wie mit den vier Jahreszeiten. Sie haben verschiedenes Wetter, aber weil der Himmel keine bevorzugt, so vollendet sich das Jahr. Die Beamten haben verschiedene Ämter, aber weil der Fürst für keines Partei ergreift, ordnet sich der Staat.

In der Zeit gibt es Anfang und Ende; in der Welt gibt es Wandel und Änderungen. Glück und Unglück sind in ständigem Wechsel. Naht sich ein Ereignis, so ist es für manche widrig, für manche günstig. Es zeigt den Wünschen der Einzelnen ein verschiedenes Gesicht. Für manche ist es richtig, für manche ist es falsch. Man kann diese Verhältnisse vergleichen mit einem großen Sumpfland, in dem die verschiedenen Gewächse durcheinanderwachsen, oder mit einem großen Berg, auf dem Bäume und Felsen gemeinsam stehen. So verhält es sich mit den Gesellschaftsanschauungen.«

Einzelwissen sprach: »Kann man nun dies als den SINN bezeichnen?«

Überblick sprach: »Nein. Wenn man die Zahl aller verschiedenen Dinge zusammenrechnet, so sind es nicht bloß zehntausend. Wenn wir daher die Einzelwesen als die zehntausend Dinge bezeichnen, so ist das nur ein Ausdruck dafür, daß es sehr viele sind. Von allen körperlichen Dingen sind Himmel und Erde die größten; von allen Kräften sind die Urkräfte des Lichten und des Trüben die größten. Aber der[271] SINN ist allen gemeinsam eigen. Wenn man daher den Ausdruck der ›SINN‹ gebraucht als eine angenommene Bezeichnung für seine Größe, so mag das hingehen. Wollte man ihn aber als etwas So-Seiendes fassen, so wäre er einfach ein Ding neben andern, und sein Unterschied von der realen Welt wäre nur ein quantitativer, so etwa wie sich ein Hund von einem Pferd unterscheidet, zwischen denen kein prinzipieller Unterschied besteht.«

Einzelwissen fragte: »Was ist dann die Ursache für das Dasein der gesamten räumlichen Welt?«

Überblick sprach: »(Der Begriff der Ursächlichkeit führt nicht über die Welt der Erscheinung hinaus). Sonne und Mond bestrahlen einander. Die vier Jahreszeiten ersetzen einander, erzeugen einander, vernichten einander. Neigung und Abneigung, die einander anziehen und abstoßen, entstehen dadurch als Ergänzung. Die gegenseitige Anziehung der Geschlechter ist infolge davon ein dauernder Zustand. So wechseln Friede und Gefahr miteinander, Glück und Unglück erzeugen einander, Hast und Zögern bekämpfen einander. Auf diese Weise entsteht die Zusammensetzung und Auflösung (der Einzelwesen). Diese Verhältnisse lassen sich begrifflich und tatsächlich verfolgen und verstandesgemäß erkennen. Daß ein Ereignis, das regelmäßig auf ein anderes folgt, von diesem bedingt wird; daß ein Ereignis, das die Brücke bildet zum Eintreten eines andern, dieses verursacht; daß eine Bewegung, die den äußersten Punkt erreicht hat, zurückkehrt; daß auf jedes Ende ein Anfang folgt: das alles sind Verhältnisse, die im Dasein der Dinge gegeben sind. Was sich mit Worten erschöpfend beschreiben läßt, was dem Wissen zugänglich ist, das reicht eben nur bis zur Welt der Dinge. Ein Mensch, der den SINN in sich erlebt, ist frei von dieser ursächlichen Bestimmtheit des Entstehens und Vergehens. Hier findet jedoch das beschreibende Wort eine unübersteigliche Grenze.«

Einzelwissen sprach: »Gi Dschen lehrte, daß die Welt unerschaffen sei (Atheismus). Dsië Dsï lehrte, daß sie von jemand verursacht sei (Deismus). Welche von diesen beiden Lehren entspricht den wirklichen Verhältnissen?«[272]

Überblick sprach: »Daß die Hähne krähen und die Hunde bellen, das ist dem menschlichen Wissen zugänglich. Aber auch der größte Weise vermag nicht zu erklären, warum die Dinge sich so entwickelt haben, wie sie sind, und vermag nicht zu erkennen, wie sie sich in Zukunft weiterentwickeln werden. Wenn man die Dinge gedankenmäßig auflöst, so kommt man schließlich auf der einen Seite auf unendlich kleines, auf der andern Seite auf unendlich Großes. Jene beiden Lehren, daß die Welt nicht geschaffen sei, oder daß sie von jemand verursacht sei, kommen nicht über die Welt der Dinge hinaus und sind darum in letzter Linie beide verfehlt. Nimmt man einen Schöpfer an, auf den die Welt als letzte Ursache zurückgeht, so hat man damit schon eine Wirklichkeit gesetzt. Leugnet man eine derartige Ursache, so bleibt man im Unwirklichen. Was Namen hat und Wirklichkeit, das gehört aber schon zur Welt der Dinge. Was keinen Namen hat und keine Wirklichkeit, das führt nicht hinaus über die leere Möglichkeit von Dingen. Man kann darüber reden, man kann Ideen bilden, aber je mehr man darüber redet, desto weiter kommt man ab.

Das Ungeborene kann man nicht vom Geboren-Werden abschrecken; das einmal Gestorbene läßt sich nicht aufhalten. Nun sind Tod und Leben ganz nahe beieinander, und dennoch kann man ihre Gesetze nicht durchschauen. Jene beiden Lehren über die Entstehung der Welt sind daher auf etwas notwendig Ungewisses aufgebaut. Blicken wir auf den jenseitigen Ursprung der sichtbaren Welt, so finden wir einen unerschöpflichen Trieb; blicken wir auf die äußeren Gestaltungen, so finden wir ein unaufhörliches Auftauchen. Das Unerschöpfliche und Unaufhörliche bezeichnen wir als Nicht-So-Sein (reines Sein), das mit den Einzeldingen verbunden ist durch gesetzmäßige Ordnung. Wenn man dagegen einen letzten Verursacher oder die Abwesenheit einer solchen Ursache als Ursprung der Welt annimmt, so bleibt man im Bezirk der Zeitlichkeit der Dinge. Dem SINN darf man kein So-Sein zuschreiben, das So-Sein darf man nicht als Nicht-So-Sein (reines Sein) bezeichnen. SINN ist einfach eine Bezeichnung, die in übertragener Weise gebraucht wird. Die[273] Annahme eines letzten Verursachers oder der Abwesenheit einer solchen Ursache liegt in derselben Ebene mit der Welt der Dinge; sie hat mit der Unendlichkeit nichts zu tun. Wenn die Worte ausreichend wären, so könnte man einen Tag lang reden und den SINN erschöpfend beschreiben. Da die Worte nicht ausreichend sind, so mag man einen ganzen Tag lang reden, und was man erschöpfend beschreiben kann, sind immer nur Dinge. Der SINN ist Grenzbegriff der dinglichen Welt. Reden und Schweigen reicht nicht aus, ihn zu erfassen. Jenseits vom Reden, jenseits vom Schweigen (liegt sein Erleben), denn alles Denken hat Grenzen.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 270-274.
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